Eine WM in Katar: Wie konnte es dazu kommen?
Als der Weltfußballverband FIFA die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2022 nach Katar bekanntgab, machte sich bei vielen Beobachter*innen Ungläubigkeit breit. Das kleine Ausrichterland war kaum als Fußballhochburg bekannt, die klimatischen Bedingungen machten ein Großsportereignis während der Sommermonate unmöglich, die FIFA-internen Berichte bewerteten Katar als Gastgeberland ebenfalls vergleichsweise schlecht. Mittlerweile ist gut belegt, dass Katar die WM durch Bestechung und weitere fragwürdige Praktiken erlangt hat. Während die Medien diese Vorgänge ebenso wie die eklatante Verletzung von Menschenrechten berechtigterweise skandalisieren, liefert die FIFA für Sozialwissenschaftler*innen hervorragendes Anschauungsmaterial für die Gültigkeit grundlegender organisationssoziologischer Einsichten. Bereits Philip Selznick hat in seinem Klassiker von 1949 „TVA and the grassroots“ demonstriert, dass interessierte Akteure Organisationen „übernehmen” und sie für ihre Ziele entgegen dem ursprünglichen Organisationszweck instrumentalisieren können. Trotz dysfunktionaler Zielverschiebungen überleben solche Organisationen, solange sie sich auf eine ausreichend große Unterstützerkoalition verlassen können. So stellt die FIFA auch ein Lehrstück für die Dynamik transnationaler Organisationen dar.
Das Konzept der „politischen Maschine“
Um zu verstehen, warum die FIFA trotz aller Skandale eine außerordentlich stabile Organisation darstellt, bietet sich das Konzept der „politischen Maschine“ an, das entwickelt worden ist, um die politischen Prozesse in den U.S.-amerikanischen Metropolen Anfang des 20. Jahrhunderts zu charakterisieren. Die enorme Zuwanderung an europäischen Immigrant*innen und die damit verbundene ethnische Segregation führte dort zur Entstehung einer neuen Art politischer Organisation. Die „politischen Maschinen“ organisierten sich nicht entlang von Klassenzugehörigkeiten, sondern entlang ethnischer Herkunft. Sie verfolgten keine ideologischen Ziele, sondern mobilisierten ihre ethnischen Wählergruppen durch die Gewährung partikularistischer Vorteile. Zu diesen Vorteilen gehörten Sozialleistungen und Infrastrukturinvestitionen für ethnisch segregierte Stadtviertel und Nachbarschaften, aber auch politische oder administrative Posten für loyale Unterstützer. Korruption war ein endemisches Merkmal dieser politischen Maschinen, die allerdings nur solange aufrechterhalten werden konnten, wie es ihnen gelang, partikularistische Vorteile für ihre Unterstützerkoalition zu erbringen.
Die Transformation der FIFA in eine „politische Maschine“
Die Transformation der FIFA in eine solche „politische Maschine“ wird durch die Übernahme der FIFA-Präsidentschaft durch João Havelange im Jahr 1974 markiert. Havelange beendete die Dominanz der europäischen Funktionärseliten, die dem Amateurismus nachhingen, aber sich als unfähig erwiesen hatten, auf säkulare Veränderungen innerhalb der Fußballwelt zu reagieren. Dank der seit dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Entkolonialisierung avancierten Mitgliedsverbände aus dem Globalen Süden innerhalb der FIFA zu einem wichtigen Wählerblock, den das Interesse an der Erhöhung und gleichmäßigeren Verteilung der Startplätze und Austragungsorte der Fußball-Weltmeisterschaften sowie die Forderung nach Fußballentwicklungshilfe durch die FIFA einte. Die europäische Funktionärselite ignorierte diese Forderungen und verlor durch ihr ungeschicktes politisches Agieren auch die Unterstützung des Ostblocks. Die Spannungen innerhalb der FIFA ermutigten transnationale Unternehmen, allen voran Adidas, sich als institutionelle Unternehmer zu engagieren, um das ungenutzte kommerzielle Potenzial der Weltmeisterschaften zu erschließen. So sponserten transnationale Unternehmen den globalen Wahlkampf Havelanges, der wie Sepp Blatter zu einer Generation von Sportfunktionären gehörte, die Adidas-Chef Horst Dassler ausbildete, förderte und bestach und die seit den 1970er Jahren begannen, Schlüsselpositionen im internationalen Sport einzunehmen. Mit der Wahl Havelanges war die FIFA unweigerlich auf die totale Kommerzialisierung und Expansion der Weltmeisterschaften festgelegt, da zu Havelanges Wahlversprechen an den Globalen Süden eine Erhöhung der Anzahl der WM-Startplätze sowie finanzielle und technische Hilfe gehörten. Seither wird das Endrundenturnier größer und größer – 1974 waren 16 Mannschaften dabei, aktuell 32, ab 2026 werden es 48 Nationalteams sein.
Bei aller Kritik ist aber festzuhalten, dass die Transformation der FIFA in eine politische Maschine demokratisch legitimiert ist und jede künftige FIFA-Führung vor der Herausforderung stehen wird, die enormen Einnahmeerwartungen der Mitgliedsverbände zu befriedigen. Die FIFA agiert seither als transnationales Unternehmen, das Einnahmen maximiert und Profite an seine Mitgliedsverbände ausschüttet, in dem die Organisation u.a. als globale Entwicklungshilfeagentur wirkt.
Die Dominanz distributiver Politik innerhalb der FIFA hat – wie in anderen politischen Maschinen – jedoch systematisch zur Unterminierung demokratischer Prozesse geführt. Der beträchtliche Geschäftserfolg der FIFA ermöglichte der Exekutive, politische Mehrheiten entweder durch die Verteilung von Einnahmen oder durch direkten Stimmenkauf zu organisieren. Zudem begünstige das Fehlen elaborierter Kontrollmechanismen Missmanagement, illegale Geschäftspraktiken und Korruption, die zu einem zentralen Machtinstrument avancierte. Die Gewährung von Entwicklungshilfezahlungen, die im Globalen Süden beträchtliche Beträge darstellen, ohne ausreichende Kontrolle über die Mittelverwendung, erlaubte letztlich den nationalen Funktionärseliten, sich an diesen Zuwendungen persönlich zu bereichern. Die FIFA-Exekutive tolerierte ein solches Fehlverhalten solange, wie die involvierten Funktionäre die notwendigen Stimmen bereitstellten.
Für entschlossene und hinreichend skrupellose politische Unternehmer bot die endemische Korruption innerhalb der FIFA eine außerordentlich günstige Gelegenheitsstruktur, ihre Ziele zu erreichen. Das galt insbesondere für Katar, das auf Grund geopolitischer und wirtschaftspolitischer Kalküle die Strategie verfolgt, sich langfristig als internationaler „Sports Hub“ zu etablieren. Letztlich stellt die gekaufte WM-Vergabe an Katar somit nur eine logische Folge der in den 1970er begonnenen Transformation der FIFA dar.
Die Stabilität der FIFA
Die FIFA wird die umstrittene WM in Katar sicherlich überleben. Einerseits ist die Kritik an Katar vermutlich vorrangig ein westliches Phänomen. Andererseits kann sich die FIFA nach wie vor auf eine breite Unterstützerkoalition verlassen. Die totale Kommerzialisierung hat dem Fußball und der FIFA eine nie gekannte globale Popularität verschafft. Mit 209 Mitgliedsverbänden sind in der FIFA mehr Nationen präsent als in den Vereinten Nationen, was auch mit der Fähigkeit der FIFA, Sportentwicklungshilfe zu leisten, zusammenhängen dürfte. Dabei werden die Subventionszahlungen der FIFA an den Globalen Süden durch die Konsument*innen in den Schlüsselmärkten des Fußballs, d.h. vorrangig in Europa, generiert. Ohne die FIFA würden diese Länder für den beträchtlichen sportlichen „muscle drain“, den sie erleiden, nicht kompensiert werden. Für viele Mitgliedsverbände ist daher die FIFA unverzichtbar. Im Gegensatz zu anderen internationalen Sportverbänden bündelt die FIFA darüber hinaus weiterhin regulative Funktionen, so dass sie als monopolistischer „Gatekeeper“ im internationalen Fußball sogar nationale Regierungen in die Knie zwingen kann.
Die FIFA ist aber keineswegs unreformierbar. Veränderungen werden aber, um Max Weber zu zitieren, „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern“ erfordern. Die Strafverfahren, die in den USA eingeleitet wurden – auch aufgrund dessen, dass die USA bei der Vergabe der WM 2022 in der letzten Abstimmungsrunde unterlegen war – haben zumindest zur Entfernung einiger der korruptesten Funktionäre innerhalb der FIFA geführt. Die drohenden Imageschäden haben Sponsoren veranlasst, die FIFA zu Reformen zu zwingen. Statt die moralische Last an der WM-Vergabe in Katar den Endkonsumenten aufzubürden, die das letzte Glied einer langen Handlungskette darstellen, gilt es, langfristig zivilgesellschaftlichen Druck von unten – etwa in den Fußballvereinen – und von oben – durch die staatliche Sportpolitik – aufzubauen, damit westliche Verbandsfunktionäre, die Reformanstrengungen innerhalb der FIFA vorantreiben.