Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der „Zeitenwende“

Beitrag 2: Die neoimperiale Politik Russlands als sicherheitspolitische Herausforderung für die Bundesrepublik Deutschland

Abstract

Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege nach Art der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts führen zu einer gesellschaftlichen Transformation, insbesondere zu einer Marginalisierung der Basisstrukturen Markt und Parlamentarische Demokratie zugunsten zentraler Steuerung und einer tendenziell diktatorischen Spitze. Das Ergebnis dieser Transformation nenne ich Kriegsgesellschaft. Als Gegenstück dazu kann die reine Zivilgesellschaft gelten, ohne Kriegsbeteiligung, ohne (wahrgenommene) äußere Bedrohung, „von Freunden umzingelt“ (Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe). Diesem Typus entsprach die deutsche Gesellschaft seit den 1990er Jahren bis zum 24. 02. 2022. Angesichts der nunmehr wahrgenommenen Bedrohung durch die neoimperialen Politik Russlands entwickelt sich die deutsche Gesellschaft in Richtung eines dritten Typus, der Zivilgesellschaft im Krieg. Als sanktionierende Macht gegenüber dem Aggressor, als unterstützende Macht der angegriffenen Ukraine ist sie von den gesellschaftsverändernden Imperativen großer Kriege betroffen, aber eher in einem miniaturhaften Format. Das Ergebnis ist keine fundamentale gesellschaftliche Transformation, wohl aber ein erheblicher Wandel in Gesellschaft und Politik. „Zeitenwende“ bedeutet gesellschaftstheoretisch: Wandel von einer reinen Zivilgesellschaft zu einer Zivilgesellschaft im Krieg.

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat vor Kriegsgefahren in Europa gewarnt und dringt auf Tempo bei der Modernisierung der Bundeswehr. „Wir müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Und das heißt: Wir müssen kriegstüchtig werden. Wir müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür aufstellen“, sagte der SPD-Politiker n der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ (zit. nach FAZ, 30. 10. 2023).

BND-Chef Bruno Kahl stellte fest, Putin gehe es darum, die alte Macht und Herrlichkeit des Großrussentums wieder zu etablieren. „Wenn die Ukraine zum Aufgeben gezwungen wäre, würde das den russischen Machthunger nicht stillen“, sagte der Chef des deutschen Auslandnachrichtendienstes. Und weiter: „Irgendwann, wenn wir keine Wehrhaftigkeit zeigen würden, gäbe es für Putin keinen Grund mehr, vor einem Angriff auf die Nato zurückzuschrecken“, so Kahl (Focus-online, 27. 01. 2024).

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte am 10. 02. 2024: „Die NATO sucht keinen Krieg mit Russland. Aber wir müssen uns wappnen für eine möglicherweise jahrzehntelange Konfrontation … Wenn Putin in der Ukraine gewinnt, gibt es keine Garantie dafür, dass die russische Aggression sich nicht noch auf andere Länder ausbreitet“ (zit. nach Tagesschau.de, 10. 02. 2024).

Folgt man diesen Einschätzungen, dann ist die Bundesrepublik Deutschland nur zwei Schritte von einem Krieg entfernt, in dem sie mit eigenen militärischen Streitkräften verwickelt wäre. Der erste Schritt wäre der militärische Kollaps der Ukraine im Kampf gegen die russische Invasion. Der zweite Schritt wäre ein russischer Angriff auf die NATO-Mitglieder Estland, Lettland und Litauen oder andere Staaten.

Die neue, alte russische Imperialpolitik

Russland betreibt unter Putin eine neoimperiale Politik mit dem Ziel, Territorien und Einflusssphären aus den Zeiten der Sowjetunion und des Zarenreichs zurückzugewinnen. Diese Politik und ihre Diskurse schließen an die imperiale Politik Russlands im 18. und 19. Jahrhundert an. 1721, als Ergebnis des nordischen Krieges (1700-1721), erlangte Russland die Herrschaft über die zuvor schwedischen Provinzen des Baltikums. Im Zuge der der polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795 annektierte einen Großteil des polnischen Staatsgebiets, das sich im Osten bis zum Dnjepro erstreckt hatte. In Kriegen gegen das Osmanische Reich eignete sich das Zarenreich im späten 18. Jahrhundert weite Landstriche nördlich des Schwarzen Meeres sowie die Krim an, später kaukasische und transkaukasische Gebiete.

Wichtigster Partner der imperiale Politik Russlands im 18. und 19. Jahrhundert waren die deutschen Staaten Österreich und vor allem Preußen. Beide Staaten beteiligten sich an den Teilungen von Polen 1772, 1793 und 1795. 1830/31 und 1863 half Preußen dem zaristischen Regime bei der Niederschlagung polnischer Aufstände. Jenseits der Gegnerschaft in beiden Weltkriegen gab es, unter denkbar unterschiedlichen politischen Vorzeichen, ein besonderes deutsch-sowjetisches Verhältnis. Nach 1917 war aus Sicht Lenins unter weltrevolutionärer Perspektive entscheidend, was sich in Deutschland und Berlin tat. 1922 scherte das Deutsche Reich aus der westlichen Politik der politischen und wirtschaftlichen Isolierung der Sowjetunion aus und schloss mit der Sowjetunion den Vertrag von Rapallo, der auch geheime militärische Zusammenarbeit beinhaltete. Im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 teilten die Diktatoren Osteuropa untereinander auf. Nach zwanzig Jahren politischer Eiszeit wagte die Bundesrepublik seit 1969 eine „neue Ostpolitik“, die auf politische Verständigung und wirtschaftliche Kooperation setzte – im Rahmen des westlichen Bündnisses, aber doch mit eigenen Akzenten. Nur durch die Zustimmung der Sowjetunion, die die DDR aus ihrem Machtbereich entließ, war die deutsche Einheit möglich. Das Projekt Nordstream kann man als das bislang letzte Kapitel in der Geschichte besonderer deutsch-russischer Beziehungen ansehen. Aus den genannten historischen Gründen spielt Deutschland für das politisch-militärische Kalkül der geschichtsbewussten russischen Führung eine herausragende Rolle.

Wenn wir hier von den historischen Kontinuitäten russischer Imperialpolitik sprechen, heißt das nicht, dass diese ein zwangsläufiger historischer Prozess gewesen sei. Es gab wiederholt auch Ansätze zu einer nichtimperialen Politik, zum Beispiel nach der Oktoberrevolution, in der Frühzeit der Sowjetunion oder in der kurzen Ära Gorbatschow. Fakt aber bleibt: Nach der Auflösung der (russisch dominierten) Sowjetunion war Russland wieder auf die Grenzen von etwa 1700 zurückgeworfen. Unter Putin strebt Russland die Revision der Grenzen von 1991 an, auch mit militärischer Gewalt.

Die deutsche und die westliche Politik müssen davon ausgehen, dass die neoimperiale Politik noch für Jahrzehnte andauert, denn sie erfährt breite Unterstützung in der russischen Elite und russischen Gesellschaft, und eine realistische Alternative ist derzeit nicht in Sicht. BND-Chef Kahl äußerte zu Putin: „Selbst wenn er aus dem Fenster fiele oder sonst irgendwie zu Schaden käme, wären genug da, die genau so denken wie er und die gleiche Politik machen würden.“ Damit meint er vor allem Vertreter des Militärs oder der Geheimdienste (Focus-online, 27. 01. 24). Der gegenwärtige Krieg gegen die Ukraine wäre allerdings nicht der erste Krieg Russlands, der in eine Revolution mündet.

Am stärksten bedroht vom neoimperialen Expansionsstreben sind, neben Moldawien, die baltischen Staaten. Sie waren zwischen 1721 und 1990, bei zwanzigjähriger Unterbrechung, Teil des Zarenreiches und der Sowjetunion. Ein Angriff auf die baltischen Staaten würde die Bundesrepublik auch militärisch in einen Krieg mit Russland verwickeln. Da das militärische, demografische und ökonomische Potential der Kleinstaaten begrenzt ist, wäre es mit einer Brigade als deutschem Beitrag wohl nicht getan.

US-amerikanische oder russische Hegemonie? Oder volle europäische Souveränität?

Aus alledem folgt, dass die Bundesrepublik Deutschland und Europa diesseits der russischen Westgrenze Gefahr laufen, unter russische Hegemonie zu geraten. Würden sich die USA, der bisherige Hegemon, aus Europa zurückziehen, wäre angesichts der politischen und militärischen Schwäche Europas eine russische Hegemonie eine absehbare Konsequenz. Europa stünde in der Einflusssphäre eines russischen Imperiums. Je stärker die Hegemonie, desto begrenzter die Souveränität der europäischen Staaten. Es sei denn, Europa würde militärisch so stark und politisch entscheidungsfähig, dass es sich auch ohne die USA gegen die russische Imperialpolitik behaupten könnte.

Deutschland ist Teil der westlichen Bündnissysteme, aber von der Imperialpolitik auch spezifisch betroffen. Die Bedrohung Deutschland und Europas, insbesondere der osteuropäischen Staaten, wird verstärkt, weil die USA, etwa unter einer Präsidentschaft von Donald Trump, ihr Engagement in Europa verringern oder ganz aufgeben könnten. Damit könnte Deutschland aufgrund seiner demografischen und ökonomischen Stärke wie auch seiner strategischen Lage potentiell zur Schutzmacht für die besonders bedrohten osteuropäischen Staaten geraten. Ob es diese Funktion ausfüllen kann oder will, ist eine offene Frage.

Für die Bundesrepublik Deutschland wäre auch ein anderes spezielles Szenario denkbar, wenn auch auf absehbare Zeit unrealistisch. Eingedenk der deutsch-russischen Geschichte, die der russischen Seite aufgrund ihres ungleich größeren Geschichtsbewusstseins viel präsenter ist als der deutschen, könnte sich eine deutsch-russische Zusammenarbeit anbahnen, wobei die deutsche Seite die neoimperialen Ziele Russlands grundsätzlich akzeptiert. Eine Konstituierung von Einflusszonen von osteuropäischen Ländern zwischen Deutschland und Russland wäre denkbar. Das wäre dann eine Politik des „Germany first“ unter einer rechtspopulistischen, nationalistischen Regierung.

Fazit: Solange die neoimperiale Politik Russlands andauert, steht Deutschland in Gefahr, als NATO-Partner in einen Krieg mit eigenen Streitkräften verwickelt zu werden. Das ist, wenn man die russische Rhetorik ernst nimmt, keineswegs ein unrealistisches Szenario. Angesichts der militärischen Schwäche und der Uneinigkeit westlicher Staaten erscheint eine russische Hegemonie über Europa, welche die amerikanische Hegemonie ablöst, möglich zu sein. Die neoimperiale Bedrohung wäre dann beendet, wenn sich Russland in eine Art eurasisches Kanada verwandeln würde. Doch dafür gibt es derzeit wohl keine Anzeichen.

Literatur:

Martin Schulze Wessel, Der Fluch des Imperiums, München 2023: C.H. Beck

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