Als ich im Februar 2000 zu einer dreitägigen Vorstellungsreise nach Singapur aufbrach, ahnte ich nicht, wie sehr diese Reise mein Leben und mein Denken verändern würde. 10 Monate später erfolgte der Umzug in eine Region, die mir bis dahin gänzlich unvertraut war, und im Januar 2001 hielt ich meine erste Vorlesung an der National University of Singapore: über klassische soziologische Theorie.
Zwei Eindrücke drängten sich rasch auf, die mich seither nicht mehr losgelassen haben. Erstens der Eindruck relativer Vertrautheit. Singapur kam mir, gegen alle Erwartung, von Anbeginn ganz unexotisch vor, wenngleich nicht nur das Klima laufend daran erinnerte, dass ich mich, von Europa aus betrachtet, am anderen Ende der Welt befand. Wirklich fremd wollte der Stadtstaat mir dennoch nie erscheinen. „Anders“ schon, aber eben nur „etwas“ anders. Der Kulturschock, den ich etliche Jahre zuvor anlässlich einer Reise nach Südasien erlitten hatte, blieb also erst einmal aus. Der zweite Eindruck war, dass das in Singapur Gesehene in mancherlei Hinsicht eine Vorschau auf die Zukunft bot. Im Licht der dort wie nahezu der gesamten (süd-)ostasiastischen Region beobachteten Dynamik erschienen Westeuropa und selbst Nordamerika nicht länger als Vorboten künftiger Entwicklung, sondern eher als leicht angestaubte Repräsentanten der Vergangenheit. „Wir sind die Neuen“, und „Asia is where the action is“, waren die Slogans, mit denen die (Eliten der) Region ihr gestiegenes Selbstbewusstsein heraustrompetete(n), und für einen Westeuropäer konnte das nur heißen: „Ihr seid die Alten“, von denen zukunftsweisende Entwicklungen kaum mehr zu erwarten sind. Ihr hattet eure Zeit, habt, neben viel Leid, das ihr über die Welt gebracht habt (Stichwort Kolonialisierung), auch manche bleibende Errungenschaft geschaffen, wofür wir euch Respekt zollen, aber jetzt sind wir dran. Das waren ungewohnte Töne, und auf die Perspektiven, die sie eröffneten bzw. zum Ausdruck brachten, war ich nicht vorbereitet. So erlebte ich dann doch noch einen kleinen Kulturschock. Das Koordinatensystem der Weltbetrachtung, das in der Heimat Orientierung verschafft hatte, geriet ins Wanken, und gerade Europa wirkte bei Umkehrung der Blickrichtung auf einmal sehr klein und auch ein wenig randständig. Die geographische Lage des Kontinents am äußersten westlichen Zipfel der gigantischen eurasischen Landmasse schien insoweit durchaus symbolträchtig.
Die genannten Eindrücke haben meine Arbeit – in der Lehre, vor allem aber in der Forschung – nachhaltig beeinflusst. Ein Beispiel für den Eindruck relativer Vertrautheit ist die Haltung, die ich in der Debatte um den multiple modernities-Ansatz und die Stichhaltigkeit klassisch modernisierungstheoretischer Prämissen einnehme, von denen führende Vertreter jenes Ansatzes behaupten, sie würden durch die präsumtiv „fundamentalen Unterschiede“ (Eisenstadt) Japans und anderer ostasiatischer Länder zum Westen widerlegt. Diese Unterschiede kann ich trotz intensiven Bemühens und Forschens auch nach beinahe 12 Jahren in der Region nicht erkennen. Demgegenüber finden sich viele Anhaltspunkte für die Stimmigkeit von Kernaussagen modernisierungstheoretischer Provenienz. Der Aufstieg Ostasiens lässt sich mit nur wenig Übertreibung als Textbuchmodernisierung beschreiben und wird von den ihn vorantreibenden Kräften auch weithin so gesehen – bis hin zum aktuell besonders aufsehenerregenden Fall Chinas, wo die politische Führung und die sie beratenden wissenschaftlichen Einrichtungen explizit in Begriffen von Entwicklungsstufen denken, die das Land im Prozess des catching up mit den Vorreitern/Vorbildern bereits durchlaufen hat bzw. noch durchlaufen muss, um zu diesen aufschließen zu können. Solches Denken mag zeitgenössischen westlichen Beobachtern etwas krude vorkommen, aber der Erfolg scheint ihm recht zu geben – wenn man denn gewillt ist, Erfolge zu attestieren, wo, wie stets in Fällen grundstürzender Modernisierung, auch massive soziale und ökologische Verwerfungen zu konstatieren sind. Kurzum, im Kontext der rasanten Transformation wachsender Teile Ostasiens und ihrer unübersehbaren Parallelen zu vergleichbaren Prozessen im Westen drängt die Evidenz modernisierungstheorischer Überlegungen sich regelrecht auf. In anderen Weltgegenden mag das etwas anders aussehen – und so nimmt es denn nicht wunder, dass das Anschauungsmaterial für die ersten Diagnosen des Scheiterns der Theorie durchweg Fällen entnommen ist, die auch nach ihren eigenen Maßstäben wenig(er) erfolgreich waren/sind, nämlich Lateinamerika einerseits (Dependenztheorie) und Afrika (Wallerstein; World Systems Analysis) andererseits.
Im Unterschied zu diesen eher politökonomisch ausgerichteten Ansätzen stellt der multiple modernities-Ansatz bekanntlich auf andere Faktoren ab. Er verknüpft einen historiographisch motivierten antitheoretischen Affekt mit einem verbreiteten Interesse an Differenzmerkmalen, Singularitäten, Partikularismen, das sich dem „cultural turn“ in den Sozialwissenschaften verdankt bzw. darin seine Wurzeln hat. Und wer nach Differenzen sucht, wird welche finden – nicht nur, aber selbstverständlich auch in Ostasien. Ungeklärt bleibt freilich oft der epistemologische Status von Differenzbefunden: ihr Stellenwert für unterschiedliche Bezugsprobleme sozialwissenschaftlicher Analysen. Vielleicht unterscheidet sich die Tiefenstruktur der in Ostasien vorherrschenden Wertmuster ja wirklich von der ihrer westlichen Pendants, aber gesetzt den Fall, es verhielte sich so – wofür freilich weder die einschlägige Forschung noch die Alltagserfahrung zwingende Hinweise liefern –, wäre immer noch zu klären, was daraus eigentlich folgt. Differenz ist ubiquitär. Aber nicht jede Art von Differenz besitzt dieselbe Relevanz für jede Art von (wissenschaftlicher) Fragestellung. Man muss also „differenzieren“, und diese Differenzierung sollte, da es um theoretische Fragen geht, möglichst ihrerseits theoretisch begründet sein.
Hier haben multiple Modernisten, wie mir scheint, noch einigen Nachholbedarf. Ein anderes Problem ist, dass sie Gefahr laufen, den Identitätsbehauptungen konservativer Eliten auf den Leim zu gehen. Ein Beispiel dafür ist die Debatte um die sog. „Asian Values“, deren vermeintliche Existenz manche Beobachter, darunter nicht wenige aus dem Westen, als Beleg für die grundlegende Andersartigkeit der ostasiatischen Moderne nehmen. Die Werte, die in diesem Namen aufgerufen wurden, decken sich nämlich inhaltlich über weite Strecken mit dem, was in Nordamerika und Westeuropa unter das Etikett des Neokonservatismus rebruziert wurde. Inzwischen spricht zumindest in den entwickelteren Teilen Ostasiens kaum noch jemand von Asian Values, und die Ausbreitung individualistischer, expressiver Werthaltungen, denen man mit ihrer Hilfe Einhalt gebieten wollte, ist ebenso unübersehbar wie in Europa und Nordamerika. Auch „Dekadenz“ also kein Alleinstellungsmerkmal des Westens.
Die Kehrseite meiner Skepsis gegenüber der Idee multipler Modernitäten ist der Versuch, zur Entwicklung einer genuin globalen Soziologie beizutragen, die, im Unterschied zu jenem Verständnis von Sozialwissenschaft als Selbstbespiegelung, das im methodologischen Nationalismus seine Wurzeln hat, darum bemüht ist, den gesamten Globus ins Visier zu nehmen und, statt wie selbstverständlich in den Niederungen des Lokalen oder Nationalen zu beginnen, um dann ggf. von dort aus zu den höher gelegenen Schichten des Transnationalen und Globalen aufzusteigen, gleich die Vogelperspektive einnimmt. Ein so disponierender „methodologischer Globalismus“ (nicht: Kosmopolitismus) wendet sich nicht gegen Untersuchungen mit sozialräumlich begrenzteren Problembezügen, bettet diese aber in umfassendere Kontexte ein und kehrt damit gewissermaßen die Blickrichtung um, aus der die Sozialwissenschaften herkömmlicherweise ihre Gegenstandsbetrachtung vornehmen. Sein Herzstück ist das Konzept der „Globalen Moderne“. Dieses Konzept verarbeitet Aspekte des zweiten der eingangs genannten Eindrücke mit Hilfe eines Phasenmodells der Modernität, das das gegenwärtige Zeitalter an der Schwelle zu einer dritten Phase sieht, die zwar weder spät- noch postmodern ist, sich aber begründet als postwestlich bezeichnen lässt – mit weitreichenden Implikationen, darunter auch solchen für die Sozialwissenschaften.
Dazu mehr in späteren Beiträgen. An dieser Stelle will ich für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die weder mit den Verhältnissen in Singapur/Ostasien noch mit meinen Arbeiten vertraut sind, nur noch etwas Hintergrundwissen beisteuern, das ein wenig in den Kontext einführt, der meine Überlegungen nicht unerheblich mitbestimmt.
Singapur ist bekanntlich einer von vier sog. „Tigerstaaten“, der nach Japan zweiten Generation ostasiatischer Länder, die binnen weniger Jahrzehnte zu modernen Lebensverhältnissen auf westlichem Entwicklungsniveau durchgebrochen sind. Wie ebenfalls bekannt, wird der Stadtstaat politisch autoritär geführt und ist er jedenfalls keine liberale Demokratie, wenngleich die Verhältnisse gerade im letzten Jahrzehnt deutlich liberaler geworden und auch Tendenzen einer breiteren Demokratisierung unverkennbar sind. Die nationalen Medien unterliegen staatlicher Kontrolle, allerdings gibt es fast keine Beschränkungen des Zugangs zu den Weltmedien, und auch in den staatlich kontrollierten Medien gibt es inzwischen mehr offene, kontroverse Diskussionen. Starken Einfluss auf die Öffnung des politischen und medialen Klimas hatten die durch die Revolutionierung der Kommunikations- und Informationstechnologie eröffneten neuen Möglichkeiten, vor denen die Regierung (mit wenigen Ausnahmen) faktisch kapituliert hat; außerdem weiß sie, dass eine Bevölkerung, deren Bildungsstand laufend steigt, die in hohem Maße mit westlichen Lebensweisen und liberalem Gedankengut vertraut ist und von der in der Arbeitnehmerrolle immer mehr eigenständiges Denken erwartet wird, nicht auf dieselbe Weise gelenkt (und gegängelt) werden kann wie ein Heer von un- und geringqualifizierten Industriearbeitern, das kaum lesen und schreiben kann.
Vor einem halben Jahrhundert noch eine typische Dritte Welt-Stadt, liegen die Pro-Kopf-Einkommen Singapurs heute deutlich über denen von Ländern vergleichbarer Entwicklungsstufe, nicht jedoch über denen führender Weltstädte. Die Bevölkerungsstruktur ist sehr heterogen, und von ggw. gut fünf Millionen Einwohnern sind knapp zwei Millionen Ausländer mit teils privilegiertem, teils unterprivilegiertem Status. Die privilegierten Ausländer sind global umworbene expatriates mit akademischen Abschlüssen („global talent“); bei den Unterprivilegierten („foreign workers“), deren Position in mancherlei Hinsicht denen der frühen „Gastarbeiter“ in Deutschland ähnelt, handelt es sich v.a. um Bauarbeiter, un- oder geringqualifizierte Arbeitskräfte in anderen Industriezweigen und Dienstpersonal („maids“), das in den Haushalten gutsituierter Mittel- und Oberschichtler lebt. Die Einkommensverteilung ist sehr ungleich – Singapurs Gini-Koeffizient liegt über dem der USA –, aber echtes Elend gibt es nicht. Relative Armut ja, aber keine Slums, keinen Hunger, keinen extremen Mangel, kein Lumpenproletariat. Es gibt soziale Sicherungssysteme, deren Leistungen im Vergleich zu den in Europa gewohnten Verhältnissen relativ bescheiden ausfallen, deren Inklusivität aber Stück für Stück ausgeweitet wird und die mehr und mehr Risiken auf beständig erhöhtem Niveau abdecken. Expansionen werden typischerweise aus Budgetüberschüssen finanziert, die die Regierung trotz niedriger Körperschafts- und Einkommenssteuern regelmäßig erzielt. Das Steuersystem zählt vermutlich zu den einfachsten der Welt – die Steuererklärung auf dem „Bierdeckel“, die MdB Merz vor einigen Jahren für Deutschland forderte (und die einige Teilnehmer an der daraufhin geführten Debatte für schlechterdings unmöglich erklärten), ist in Singapur längst überholt; inzwischen ist das System soweit automatisiert, dass viele Einkommensbezieher gar keine Erklärung mehr vorlegen müssen.
Das moderne Singapur ist außerordentlich kosmopolitisch, und dieser Kosmopolitismus spiegelt sich auch in der Universitätskultur wider; etwa in der Zusammensetzung des Lehrkörpers an der National University of Singapore (NUS), dem Flagschiff unter den insgesamt vier staatlichen Universitäten, die es mittlerweile in der Stadt gibt. Ca. 60 % des akademischen Personals der NUS sind Ausländer überwiegend asiatischer, australischer, europäischer und nordamerikanischer Herkunft. Die Organisationsstruktur vereint aus der Kolonialzeit stammende britische Elemente mit solchen amerikanischer Art, wobei letztere immer mehr an Gewicht gewinnen – man will sich mit den führenden Universitäten der Welt messen, und da liegt es nahe, sich an den Praktiken derer zu orientieren, die global die Standards setzen. Seit Singapur und auch die NUS zu begehrten Destinationen topqualifizierter Bewerber aus aller Welt geworden sind, hat man, pragmatisch wie man ist, die „Lockprämien“ und Sondervergütungen früherer Jahre nach und nach zurückgefahren, so dass die Gehälter heute nicht mehr nennenswert über denen liegen, die vergleichbare Einrichtungen an anderen Orten bieten. Die Ausstattung bleibt allerdings, sowohl in infrastruktureller Hinsicht als auch die Verfügbarkeit von Forschungsmitteln betreffend, hervorragend. Das gilt ausdrücklich auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften, die zwar, auch das ein vertrautes Phänomen, nicht mit den Naturwissenschaften mithalten können, aber alles in allem keinen Grund zur Klage haben.
Die Studierenden sind nach meiner Erfahrung nicht besser oder schlechter als hierzulande, und auch der sprichwörtliche Fleiß „asiatischer“ Studenten ist, jedenfalls in Singapur, eher Klischee als Wirklichkeit. Verwöhnt durch die jahrzehntelang ungebrochene Wohlstandsmehrung hat sich ein gewisser Sättigungseffekt eingestellt, der den Stellenwert harter Arbeit mindert und die Armutserfahung früherer Generationen in den Hintergrund rückt. Soweit sie nicht aus westlichen Ländern stammen – mehr und mehr Studierende aus Europa und Nordamerika kommen im Rahmen von Austauschprogrammen für ein oder mehr Semester nach Singapur (auch viele deutsche Stimmen lassen sich auf dem Campus vernehmen, aber Soziologiestudenten sind mir leider noch nicht untergekommen) –, treten sie meist etwas zurückhaltender gegenüber den Dozenten auf, aber wenn man sich bemüht und auf regionalspezifische Befindlichkeiten Rücksicht nimmt, lassen sie sich durchaus zu reger Diskussionsbeteiligung animieren. Auffällig ist, zumal bei besseren Studierenden, die Breite des Beobachtungshorizonts: Viele sind mit den Verhältnissen in Europa und Nordamerika gut vertraut und haben bei Referaten oder Hausarbeiten auch keine Berührungsängste gegenüber Themen, die den (süd-)ostasiatischen Sozialraum überschreiten. Rückläufig, wenngleich nach wie vor präsent, ist der lange Zeit andressierte Hang zum Auswendiglernen des Lehrstoffs, denn seit auch die öffentlichen Schulen vermehrt auf die Förderung „kritischen“ Denkens setzen, wächst die Bereitschaft, sich auf Reflexion, Ambiguität und Ungewissheit einzulassen. Auch insoweit nähern sich die Dinge also aneinander an, und sobald gewisse Anfangsschwierigkeiten einmal überwunden sind und der Austausch mit den Studierenden richtig Spaß zu machen beginnt, merkt man schließlich gar nicht mehr, wo man ist und dass das, was man gerade tut, „Interaktion mit (ganz) Fremden“ sein soll.
Ich möchte einiges gegen Ihre Ausführungen und zur Unterstützung des „Multiple Modernities“ – Ansatzes sagen:
Ich stimme Ihnen zwar zu, dass die „Asian Values“ vermutlich ein – durch quantitative Forschung im Bereich Interkulturelles Management und Psychologie reifiziertes – Stereotyp darstellen. Trotzdem wundert es mich, dass Sie so selbstverständlich unterstellen, dass die Asian Values in den „entwickelteren Teilen Ostasiens“ keine Rolle mehr spielen. Könnte es sein, dass Sie dieses Urteil ausschließlich auf Basis Ihrer Erfahrungen mit (Elite-?)Studenten in Singapur treffen?
Beispielsweise: In China haben Diskurse über spezifische „östlichkeit“, vermeintlich „konfuzianistische“ Kultur usw. noch immer eine enorm hohe Wirkmacht. z.B. werben chinesische und japanische Kosmetikmarken auch heute noch damit, dass nur asiatische Marken zu „östlichen Frauen“ passen. Eine art umgedrehter Orientalismus und/oder okkzidentalismus wird dort massiv betrieben.
Ist China deshalb möglicherweise nicht „entwickelt“ genug? Wer automatisch nationale Kategorien anlegt, der muss dem natürlich zustimmen. Aber einzelne Städte oder Regionen, z.B. Shanghai, Nanjing und umliegende Gebiete – immerhin größer als Singapur – sind zumindest technologisch mindestens auf dem Niveau Deutschlands angekommen. Wenn man Eisenbahnnetz, Handynetz (z.B. in Hangzhou 4G) oder Möglichkeiten mit Kreditkarte zu zahlen als Indikatoren für „Modernität“ nutzt, wäre die Region um das Yangtze-Delta sicherlich moderner als die meisten (alle?) Regionen in Deutschland.
Natürlich kann man immer sagen: China ist nicht modern, es ist alles die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ usw. Wenn Modern bedeutet, dass man Pressefreiheit, Demokratie usw. entwickelt hat, und nicht mehr an „Asian Values“ glaubt, dann sind auch Nanjing, Shanghai und co. noch nicht wirklich Entwickelt. Aber darin liegt ja gerade das Problem der Modernisierungstheorie: Die implizite Tautologie dieser Aussagen. Denn wenn „Entwickelt“ definiert ist als „Europa-Ähnlich“, dann ist es kein Wunder, dass alle entwickelten Länder Europa ähnlich sind.
Ich denke, dass Multiple Modernities als ein Versuch gesehen werden muss, diese implizite Tautologie und die damit verbundene Normativität (wer nicht unseren Standards entspricht, wird als „unmodern“ abgewertet) zu überwinden. Und das bedeutet auch: Die in einigen Regionen produzierten Selbstbeschreibungen ernst zu nehmen. Denn anders als Sie behaupten, folgen die Darstellungen der chinesischen Regierung NICHT der klassischen Modernisierungstheorie, sondern einer „Multiple Modernities“ sehr ähnlichen Interpretation: Man will Teil der von Ihnen beschriebenen globalen Moderne werden, technologisch und ökonomisch mit dem Westen gleichziehen, aber doch eine spezifisch „chinesische“, kulturell-historisch pfadabhängige Entwicklung durchlaufen, die zu einer spezifisch chinesischen Moderne (inklusive Einparteienstaat) führt. Ob sich das bewahrheiten wird, und ob es überhaupt eine „Chinesische Kultur“ gibt, das kann ich nicht beurteilen – aber dass sich die chinesische Regierung selbst in der Terminologie der klassischen Modernisierungstheorie beschreibt ist m.M. völlig falsch.
Sehr geehrter Herr Meinhof,
haben Sie recht vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich will versuchen, einige der von Ihnen aufgeworfenen Fragen in der gebotenen Kürze zu beantworten.
Was meine Einschätzung zum Diskussionsstand der „Asian Values“ angeht, so beruht diese maßgeblich auf Publikationen und Diskussionen mit Autoren aus mehreren ost- und südostasiatischen Ländern, die sich dazu mündlich und schriftlich geäußert haben. In China liegt der Fall sicher etwas anders, aber auf China bin ich in diesem Zusammenhang auch gar nicht eingegangen. Außerdem gebe ich zu bedenken, dass politische Eliten, (nationalistische) Intellektuelle und auch „einfache“ Bürger meist den Eigenwert „ihres“ Landes, „ihrer“ Kultur usw. betonen; teils ohne allzu große Kenntnis des „Anderen“, von dem sie sich abzugrenzen bemüht sind. Und die inhaltliche Nähe der so bezeichneten „Asien Values“ zu den von Konservativen in allen Teilen der Welt vertretenen Wertvorstellungen ist m.E. unbestreitbar. Das entwertet sie nicht normativ. Aber es weckt doch Zweifel an der Behauptung ihres spezifisch „asiatischen“ Charakters. Was soll das eigentlich sein? Knapp zwei Drittel der Weltbevölkerung lebt in Asien. Die hängt doch nicht durchgehend denselben Wertmustern an.
Meine Position zur Modernisierungstheorie ist differenzierter, als der Blogeintrag vermuten lassen mag, und mancher „Verdacht“ sollte eigentlich bereits durch Lektüre der weiteren Blogs entkräftet werden, die diesem Eintrag folgen. Ergänzend an dieser Stelle nur zweierlei: (1) Wie immer man sich zur Modernisierungstheorie verhält, ich empfehle, sich bei der Urteilsbildung an die Originaltexte und -autoren zu halten, die in der kritischen Diskussion oft stark verzerrt und sinnentstellend wiedergegeben werden. (2) Ich selbst verstehe mich nicht als Modernisierungstheoretiker im engeren Sinne, finde die Theorie allerdings in vielerlei Hinsicht überzeugungskräftiger als die von den Kritikern vorgeschlagenen Alternativen. Gleichwohl denke ich, dass eine heutige Konzeption von Modernität und Modernisierung breiter aufgestellt sein muss als die klassischen Arbeiten „der“ Modernisierungstheorie. Einen entsprechenden Vorschlag habe ich 2012 in dem Aufsatz „Conceptualizing Global Modernity. A Tentative Sketch“ gemacht (Working Paper No. 191, Department of Sociology, kann bei Interesse von meiner NUS homepage heruntergeladen werden. Eine kürzere deutsche Fassung soll im Frühjahr 2013 in dem von Ulrich Willems et al. herausgegebenen Band „Moderne und Religion“ bei transcript erscheinen). Für Kritik und Anregungen zu meinen Überlegungen bin ich immer dankbar, und dazu nehme ich auch gerne Stellung. Aber ich bitte mir nachzusehen, dass ich mich nicht für Auffassungen verteidige, die ich gar nicht vertrete, sondern mir nur zugeschrieben werden.
Auch auf den multiple modernities-Ansatz will ich hier nicht ausführlich eingehen, weil ich das wiederholt an anderer Stelle getan habe. Wen meine Kritik an diesem Ansatz interessiert, empfehle ich als deutschsprachigen Einstieg den Aufsatz „Die ostasiatische Moderne – eine Moderne ‚eigener‘ Art?“ (Berliner Journal für Soziologie 20: 123-152, 2010; dort auch Hinweise auf weitere einschlägige Texte). Man kann die Triftigkeit dieser Kritik gewiss diskutieren, aber jede Diskussion braucht eine Grundlage. Ich hatte es in dem Blog bewusst vermieden, auf eigene Texte zu verweisen, hole das aber hier in begrenztem Umfang nach, um Missverständnissen vorzubeugen und eine Grundlage für evtl. Diskussionen zu schaffen. Ein verbreitetes Missverständnis an Kritikern des multiple modernities-Ansatzes ist, dass diese überzogenen Konvergenzvorstellungen anhängen und keinerlei Sensorium für Differenz haben, die nicht als Devianz gewertet wird. Für mich gilt weder das eine noch das andere. Ich halte viele der von multiplen Modernisten angeführten Beobachtungen und Differenzerscheinungen zwar für gesellschaftstheoretisch relativ belanglos. Unter anderem, z.B. politischem Aspekt interessieren sie mich aber durchaus und finde ich entsprechende Vergleiche auch teilweise sehr instruktiv (vgl. dazu z.B. meinen Aufsatz „Priorisierung auf der Makroebene. Das Gesundheitswesen im Ensemble sozialpolitischer Leistungsbereiche“, Ethik in der Medizin 22: 275-288, 2010).
[Ich habe eine Zusammenfassung meine Einwände am Ende des Textes geschrieben]
So wie ich Ihre Blogbeiträge und Aufsätze verstanden habe, versuchen sie, eine nicht Eurozentristische Modernisierungstheorie zu entwerfen. Sie haben dabei sicherlich Recht damit, dass Modernisierung ein zentrales Thema (bzw. eine zentrale Hoffnung) gerade in nichtwestlichen Ländern ist, und eine globale Soziologie sich daher mit dem Thema beschäftigen müsste.
In dem Maße, in dem Ihre Kritik an Ostasiatischer Modernisierung sich gegen die Annahme von „Kulturkreisen“ (etwa Europäisch-Christlich vs. Ostasiatisch-Konfuzianistisch) richtet, würde ich Ihnen auch sofort zustimmen. In einem Aufsatz (Schmidt 2010), zeigen Sie u.a., dass es zwar Variationen zwischen Ländern gibt, dass aber die Variationen zwischen Europäischen Ländern z.T. größer sind als die zwischen asiatischen Ländern. Meyer (2002) zeigt basierend auf Hofstede (2000), dass dies auch für den Bereich Kultur gilt. (Und dies, obwohl Hofstede aufgrund seiner abstrusen Methodik kulturelle Heterogenität innerhalb von Nationalstaaten ignoriert, also insgesamt vermutlich die Homogenität von Regionen überschätzt). Überhaupt kann man sich fragen, ob man z.B. wirklich noch von einer konfuzianistischen Kultur in China reden kann (Ess 2003). Insofern scheint das Argument einer kulturbedingten konfuzianistischen Moderne schon deshalb höchst fragwürdig, weil sich ein homogener konfuzianistischer Raum kaum identifizieren lässt.
ABER: Ich habe Probleme mit zwei Aspekten Ihrer Argumentation:
Erstens: Bisher gibt es eigentlich keine überzeugenden Hinweise auf eine kulturelle Konvergenz oder die Ausbildung einer global community, wie Sie in ihrem Working Paper (2012, S. 18ff) diskutieren. In dem Blogbeitrag bringen Sie einige m.M. gute Argumente für eine kulturelle Konvergenz. In Schmidt 2012 wird noch eine spezifischere These nachgelegt: Ein wachsender Teil der Weltbevölkerung ist dem Einfluss einer globalen modernen Kultur ausgesetzt. Diese Argumente treffen meiner Einschätzung nach bisher nur für eine sehr kleine Bildungselite zu. Bildungseliten sind global vernetzt (Mau/Mewes 2008), wenn sie aus Asien kommen haben sie evtl. in Stanford, Harvard etc. studiert, sie haben evtl. das Geld, um ihre Kinder auf internationale Privatschulen zu schicken usw. Es sind vor allem Eliten, die überhaupt die Möglichkeit haben, die globale Moderne kennen zu lernen und/oder eine global community zu imaginieren. Und es ist sehr realistisch, dass diese Eliten bewusst mit „Moderne“ assoziierte Werte kopieren, um das Prestige des reichen, modernen Westens für ihre Zwecke (Distinktion?) zu nutzen – zumindest in der ersten Generation, die dieses Verhalten nicht als kulturelles Kapital der Oberschicht ererbt haben.
Das deutet m.M. nicht auf eine global community oder gar kulturelle Konvergenz hin, sondern eher auf eine globale Elitenkultur, der lokale, ethnozentrische Normalkulturen gegenüberstehen. Man KANN die Bildungseliten natürlich als Vorreiter der Modernisierung verstehen – aber ich sehe kein wirklich überzeugendes Argument dafür. Stattdessen scheint mir der Trend eher in Richtung einer internationalen, hochmobilen Oberschicht zu gehen – z.B. in EU eine europäisch denkende Bildungselite und eine lokal-nationalistischer Unterschicht, in Asien eine global kompetente Bildungselite mit westlichen Masterabschluss und eine Unterschicht, die eben doch noch an das (aus Sicht der akademischen Eliten abstruse?) Konstrukt der „Asiatischen Werte“ glaubt.
Zumindest in Deutschland scheint mir der Trend dahin zu gehen, dass man Einwanderung unqualifizierter Arbeitskräfte erschweren und gleichzeitig Einwanderung für Elitemigranten attraktiv gestalten möchte. Also in Zukunft vielleicht sogar eine noch größere Immobilisierung der Bildungsverlieren?
Das könnte man natürlich auch Modernisierungstheoretisch beschreiben, indem man z.B. eine reflexive Lokalität als spezifisch modernes Phänomen betrachtet. Aber dann müsste man doch wieder von verschiedenen Modernen – regionalen und schichtspezifischen – sprechen, und nicht nur von Variationen innerhalb eines gerichteten, umfassenden Trends.
Zweitens: Die Modernisierungstheorien (so weit ich es verstanden habe auch Ihre Version) gehen davon aus, dass beobachtete Konvergenzen damit zu erklären sind, dass Modernisierung von gesetzmäßigen Entwicklungen begleitet wird oder dass die Modernen Institutionen einfach durch ihre überlegene Leistungsfähigkeit einen „evolutionären“ Selektionsvorteil erringen. Ich nenne Beispiele aus China: Das Schulsystem in China ist laut Modernisierungstheorie vermutlich durch eine quasi-gesetzmäßigen Entwicklung moderner Schulsysteme erklärbar, als Folge oder Voraussetzung bestimmter institutioneller Veränderungen. (Ich sage quasi-gesetzmäßig, da die Entwicklung nur wahrscheinlich ist, also in einzelnen Ländern auch einmal anders stattfinden kann). Das könnte richtig sein. Aber man kann das auch anders sehen: Das Schulsystem könnte Folge der deutschen „Kulturpolitik“ Anfang des 1900 Jahrhunderts sein, das die Gründung und Verbreitung „deutscher“ Schulen zum Ziel hatte. Es könnte davon beeinflusst worden sein, dass China sich nach der Öffnung explizit am Modell der USA orientierte und sozialwissenschaftliche Theorien aus dem Westen importierte. Usw. „Moderne“ also Kulturdiffusion statt als gesetzmäßige Entwicklung. Das muss nicht unbedingt Zwang sein, sondern kann auch freiwillige Selbst-Amerikanisierung sein – z.B. werden ja auch, ganz ohne Druck, englische Worte in alle möglichen Sprachen der Welt übernommen. Nicht weil es eine gesetzmäßige Entwicklung der Sprachen in Richtung Englisch gibt, sondern weil, wenn ein Machtgefälle zwischen Sprachgruppen herrscht, schwächere Gruppen Worte von stärkeren Gruppen übernehmen. (Winford 2008, S. 33-38, Das ist auch eine Gesetzmäßigkeit, aber eine ganz anderer Art!)
Man müsste auch genau Abschätzen, in welchem Ausmaß die strukturelle Modernisierung in Ländern durch globale, aber doch in erster Linie „westliche“, Organisationen wie WTO, Weltbank und IMF, UNO usw. erzwungen ist: Sie müssen Reformen oder Strukturelle Anpassungen durchführen, zumindest auf dem Papier als Staaten auftreten usw., um in den Genuss bestimmter Vorteile zu kommen, die gerade für ärmere Länder sehr attraktiv sind. Und das evtl. nur deshalb, weil die entsprechenden Institutionen in der Vergangenheit vom Westen bestimmt und nach westlichen Idealen geformt wurden.
Eine solche Erklärung globaler Konvergenztrends hat entscheidende Konsequenzen für die Einschätzung heutiger Schwellenländer (die sich in einem ganz anderen globalen Kontext entwickeln als Südkorea, Japan, Deutschland, die sich im Kontext des Ost-West Konflikt in „moderne“ Gesellschaften verwandelten). Es hat auch massive Konsequenzen für die Einschätzung, welche Wirkung das Nachholen nichtwestlicher Länder für die Weltgesellschaft haben wird: Denn wenn die globalen Konvergenzen nicht durch soziale Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden, sondern durch die kulturelle/politische Hegemonie des Westens, dann macht es einen gewaltigen Unterschied, wenn diese Hegemonie möglicherweise mittelfristig verschwindet. Es könnte dann sogar sein, dass es gar keinen Konvergenztrend gibt, sondern nur eine strukturelle Ähnlichkeit der Länder, die sich im Kalten Krieg in moderne Marktwirtschaften und Demokratien entwickelten, die als umfassender Trend interpretiert wird.
Natürlich argumentiere ich hier auf Basis eines ziemlich engstirnigen Interesses an der Region China bzw. an Schwellenländern insgesamt – ich habe den Verdacht, dass die Modernisierungstheorie gerade in Bezug auf die derzeitigen Schwellenländer theoretisch „einschläfernde“ Zukunftsgewissheiten schafft. Daher mein Unbehagen an Konvergenzerwartungen. Eine Moderne-Theorie (im Gegensatz zu einer Modernisierungs-Theorie) könnte eine sehr viel vorsichtigere Interpretation von „Ähnlichkeiten“ zwischen reichen Ländern durchaus aushalten.
Zusammengefasst also: Ich teile Ihre Bedenken gegenüber der Idee einer „konfuzianistischen“ Moderne – v.a. wegen der darin impliziten Annahmen über einen asiatischen und westlichen „Kulturkreis“. Eine globale kulturelle Konvergenz oder eine wachsende Konsmopolitische Einstellung hin zu einer Art „global community“ zu Diagnostizieren wäre m.E. aber unangemessen, denn bisher sieht es nur in der Oberschicht danach aus. Es sieht nicht so aus, als sei die Oberschicht hier ein Vorreiter der Modernisierung. Schließlich frage ich mich, ob die fraglos vorhandene strukturelle Konvergenz evtl. nur Folge einer Kulturdiffusion ist und von globalen Kontexten abhängt – dann wäre eine Konvergenz von Italien, Deutschland, Japan, Südkorea durch kulturelle Hegemonie der USA, Kontext des Kalten Krieges etc. erklärbar, das würde aber nur wenig Schlussfolgerungen über die Zukunft Brasiliens, Chinas, Russlands usw. zulassen.
Mau, Steffen; Mewes, Jan (2008): Ungleiche Transnationalisierung? Zur gruppenspezifischen Einbindung in transnationale Interaktionen. In: Peter A. Berger und Anja Weiß (Hg.): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden, S. 259–282.
Meyer, Thomas (2002): Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt am Main (edition suhrkamp, 2272).
Schmidt, Volker H. (2010): Die ostasiatische Moderne – eine Moderne „eigener“ Art? In: Berliner Journal für Soziologie 20 (2), S. 123–152
Schmidt, Volker H. (2012): Conceptualizing Global Modernity. A Tentative Sketch. Working Papers des Department of Sociology der National University of Singapore, Nr. 191
Hofstede, Geert H. (2000): Culture’s consequences. International differences in work-related values. [Nachdr.]. Beverly Hills, Cal.: Sage Publ. (Cross-Cultural Research and Methodology).
Ess, Hans van (2003): Ist China Konfuzianistisch. In: China Analysis (23).
Winford, Donald (2008): An introduction to contact linguistics. [Nachdr.]. Malden, Mass.: Blackwell (Language in society, 33).
Sehr geehrter Herr Meinhof,
Ich bedanke mich abermals und will kurz auf einige der von Ihnen angesprochenen Punkte eingehen.
Zum Thema Konvergenz: Nach dem Verständnis der klassischen Modernisierungstheorie ist damit nicht Identität, also Gleichartigkeit der ins Auge gefassten Phänomene gemeint, sondern Ähnlichkeit. Ihr Interesse gilt dem spezifisch Modernen, dem, was „die“ Moderne von vormodernen Zuständen abgrenzt, nicht (oder allenfalls in zweiter Linie) der Vielfalt der Erscheinungsformen, in denen Modernität sich an unterschiedlichen Orten manifestiert. Die Bestimmung dieser Vielfalt ist gewiss ein berechtigtes Anliegen, aber sie ist nicht das Anliegen dieser Theorie. Ihr Konvergenzbegriff ist abstrakter gefasst als derjenige, den die länder- oder regionenvergleichende Gegenwartsforschung ihren Untersuchungen (meist implizit) zugrundelegt. Er wird daher durch die Befunde dieser Forschung oft gar nicht berührt. Das übersehen viele Kritiker der Modernisierungstheorie. Man kann selbstverständlich Zweifel an der Instruktivität ihres Konvergenzbegriffs hegen, aber diese Zweifel wären konzeptuell zu begründen. Wer demgegenüber (wie etwa Eisenstadt) Zweifel an der empirischen Haltbarkeit der Konvergenzthese hat, kann diese Zweifel nicht mit beliebigen (Differenz-)Befunden stützen, sondern nur mit Daten, die Auskunft über die Beschaffenheit grundlegender Strukturmuster geben. Befolgt man diese Regel, dann wird man weltweilt erstaunliche Ähnlichkeiten in allen von mir unterschiedenen Dimensionen der Modernität (siehe dazu den Blog „Durchbruch der globalen Moderne“ und das Arbeitspapier „Conceptualizing Global Modernity“) feststellen, darunter auch der kulturellen Dimension. Die von Ihnen angeführten Beobachtungen stehen dazu m.E. nicht im Widerspruch.
Zur Einordnung der Rede von globaler Kultur darf ich daran erinnern, dass damit nur eine von mehreren Sinnschichten gemeint ist, die sich über andere, „lokalere“ Sinnschichten legt. Das Neue an der gegenwärtigen Phase moderner Entwicklung sehe ich gerade darin, dass Kulturgut von globaler Reichweite, anders als bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, nicht mehr nur numerisch kleine Oberschichten, sondern große Teile der Bevölkerung „erreicht“. Belege dafür finden sich in unzähligen Quellen. Als Einstieg empfehle ich die Arbeiten des von John Meyer begründeten Neoinstitutionalismus. Diese Arbeiten verdeutlichen auch, dass es falsch wäre, globale Kultur mit Eliten- oder Hochkultur gleichzusetzen.
Was letztere angeht, so teile ich Ihre Einschätzung, dass sie ein Minderheitenphänomen ist. Aber das ist in Asien nicht anders als in Europa, Nordamerika, Lateinamerika usw. Außerdem diffundieren Elemente selbst dieses speziellen Segments globaler Kultur heute weit über angestammte Traditionseliten hinaus. Man muss, gleich wo man herkommt, weder eine Privatschule besuchen noch an der Harvard University studieren, um das kulturelle Kapital erwerben zu können, dessen es zu seiner Aneignung bedarf. Mehrere hundert Millionen Menschen besuchen heute eine Hochschule oder verfügen über einen Bildungsstand, der Zugang zu dieser Art von Kapital verschafft. Bei diesen Größenordnungen schlägt Quantität in Qualität um.
Für die global community gilt dasselbe wie für Weltkultur: Sie ist sicherlich nicht die dominante Referenzgröße für Sinn- und Solidarbeziehungen, aber im Unterschied zu den Verhältnissen selbst der jüngsten Vergangenheit ist sie heute unzweifelhaft eine Größe, die das Denken und Handeln einer wachsenden Zahl von individuellen und kollektiven Akteuren (mit-)bestimmt. Das ist neu und hat auch – einstweilen gewiss schwache, aber gleichwohl reale – Bindungswirkungen, die bis vor kurzem noch undenkbar gewesen wären. Geben Sie den Begriff in eine der gängigen Suchmaschinen ein und überzeugen Sie sich selbst.
Nichts von dem vorstehend Gesagten stellt das Machtgefälle in Frage, das dem Westen und hier vor allem seinen angelsächsischen Vertretern historisch eine globale Vorrangstellung verliehen hat. Nach meiner Einschätzung sind die Fundamente dieser Vorrangstellung freilich in Auflösung begriffen, und das lässt u.a. erwarten, dass auch die Parameter kultureller Modernität künftig weitaus weniger durch westliche Akteure bestimmt werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Weder diese noch andere Entwicklungen folgen einer gesetzmäßigen Logik. Im Rückblick lassen sie sich jedoch als Folgen erfolgreicher Modernisierung rekonstruieren, die Entwicklungsabstände zwischen „dem“ Westen und anderen Teilen der Welt verringert, teilweise komplett eingeebnet haben.
Auf Grundlage Ihrer Argumente leuchtet mir durchaus ein, dass es sich lohnt, weiter an einer Theorie der globalen Moderne zu Forschen — einer Moderne-Theorie, die ohne Eurozentrismus und ohne Telologie auskommen sollte.
Zur Frage nach kultureller Konvergenz könnten Sie durchaus recht haben, z.B. sind chinesische, deutsche und amerikanisch Talkshows bei allen Unterschieden doch Talkshows. Man müsste aber dann unbedingt die Bewahrung und Förderung regionaler Traditionen/Eigenarten selbst auch als Bestandteil dieser globalen Moderne sehen.
Nun aber doch noch eine Frage: Welchen Vorteil bietet Ihre These einer globalen Moderne im Vergleich zu einer Theorie der Weltgesellschaft, wie sie z.B. von Luhmann vorgestellt wird?
Sehr geehrter Herr Meinhof,
lassen Sie mich mit einer Buchempfehlung beginnen. Ein für Ihre Interessen, so wie ich sie aus unserem Austausch herauslese, lohnenswerter neuerer Titel könnte sein: Naomi Standen (ed.) Demystifying China. New Understandings of Chinese History. Lanham: Rowman & Littlefield, 2013. Die in dem Band versammelten Essays sind kurz, gut lesbar, kenntnisreich, v.a. aber bedeuten sie eine schwer verdauliche Provokation für Kulturalisten, deren Denkvoraussetzungen sie nachhaltig erschüttern (sollten).
Nun zu Ihrer Frage. Die kurze Antwort lautet: Keinen.
Eine etwas ausführlichere Antwort beginnt mit dem Hinweis, dass das Konzept der globalen Moderne, so wie ich es verwende, sich nicht von Luhmann abgrenzt, sondern dessen Begriff der Weltgesellschaft aufnimmt und in eine umfassendere Konzeption von Modernität integriert, die sich allerdings nicht auf soziale Systeme beschränkt, sondern „die“ Moderne in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu erfassen sucht. Siehe dazu Conceptualizing Global Modernity, S. 13ff. bzw. 8ff. – der Bequemlichkeit halber setze ich hier den betreffenden Link: https://ap3.fas.nus.edu.sg/fass/socvhs/research/Conceptualizing%20Global%20Modernity.pdf
Ob das gelingt, sei dahingestellt, aber die Zielsetzung weist über Gesellschaftstheorie hinaus. Dazu gleich noch einige knappe Andeutungen. Beschränkt man sich gleichwohl zunächst auf die (Welt-)Gesellschaft und fasst man den Gesellschaftsbegriff mit Luhmann kommunikationstheoretisch, dann eröffnen sich übrigens Möglichkeiten, die gesellschaftliche Moderne „plural“ zu denken, die mir viel instruktiver scheinen als das, was die insoweit ziemlich altbacken daherkommende, in überkommenen Kategorien des methodologischen Nationalismus denkende Theorie der multiplen Modernitäten zu bieten hat (ich erwähne das hier nur, weil Sie diese Theorie eingangs unseres Austauschs verteidigt hatten). Man kann dann nämlich, beispielsweise, eine wirtschaftliche von einer rechtlichen, wissenschaftlichen, politischen, edukativen, religiösen usw. (Welt-)Gesellschaft unterschieden und etwa fragen: Unterscheidet die Wirtschaft sich stärker vom Recht, von der Wissenschaft, von der Medizin usw., oder sind die Unterschiede zwischen Japan und Brasilien, Sizilien und der Lombardei, Nürnberg und Bochum bedeutsamer? Oder auf der Organisationsebene: Ähneln (funktionierende) öffentliche Verwaltungen mehr ihren Pendants an anderen Orten, oder haben sie mehr mit ortsansässigen Softwareunternehmen, Krankenhäusern, Anwaltskanzleien, Kunstakademien gemeinsam? Und falls ersteres, was besagt das dann für gleichwohl bestehende kulturelle, institutionelle usw. Besonderheiten, deren Existenz ja niemand leugnet?
Aber zurück zu Ihrer Frage. Mit dem Konzept der globalen Moderne kann ich, wie ich glaube, auch soziales Geschehen erfassen, das sich einem wie immer definierten Gesellschaftsbegriff nicht ohne weiteres einfügt. Der Modernebegriff, auch derjenige der Soziologie, hat stets mehr gemeint als „die“ moderne Gesellschaft, auch wenn es in der Soziologie sicherlich immer wieder Tendenzen gegeben hat, ihn stark auf diesen Gegenstand zuzuschneiden oder gar ganz für ihn zu reservieren – eine Art „deformation professionelle“ sozusagen, für die sich Parallelen freilich auch in anderen Fächern finden. Zweitens taugt das Konzept aus dem genannten Grund besser zur Grundlegung einer genuin globalen Soziologie (erst recht: Sozialwissenschaft im Ganzen), die mir ein Anliegen ist. Und drittens schließlich eignet es sich auch für zeitdiagnostische Zwecke, die ich, wie die nachfolgenden Blogs sicher deutlich machen, durchaus mitverfolge. Es gibt also Gründe, über das Konzept der Weltgesellschaft hinauszugehen, auch wenn man keinen Grund hat, sich von diesem zu distanzieren.
Sehr geehrter Herr Schmidt,
ich bedanke mich erst einmal für den Buchtipp, das Buch kannte ich tatsächlich noch nicht.
Wie gesagt leuchten mir Ihre Argumente gegen Kulturkreis-Theorien ein. Für die Gleichsetzung von Nationalstaaten oder Kontinenten mit Kulturkreisen/Kulturen gibt es ja auch kaum überzeugende empirische Belege (China ist da sicher nur ein besonders offensichtlicher Fall – Beispielsweise ist es der nationalisierten deutschen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20.Jhdt. über Jahrzehnte hinweg nicht gelungen, eine deutsche Nationalkultur zu belegen, so dass man sich letztlich in die These einer „typisch deutschen“ Kulturvielfalt flüchten musste).
Da ich nun Ihr Konzept einer globalen Moderne akzeptiert habe, möchte ich trotzdem noch ein paar Anmerkungen machen: Ich glaube nämlich, dass es ein paar „Fallen“ gibt, vor der mach sich bei der Entwicklung einer derartigen Theorie in Acht nehmen muss – auf die Gefahr hin, dass Sie das alles sowieso schon wussten…
1. Ich habe trotz allem noch bedenken, inwieweit eine Theorie der Moderne dazu tendiert, die Handlungsmacht nichtwestlicher Akteure, Gruppen etc. zu überschätzen und globale Dependenzen/Ungleichheiten zu unterschätzen – noch dazu wenn sie sich v.a. mit Europa und Asien, also den derzeitigen „Gewinnern“ beschäftigt. Es könnte allerdings durchaus sein, dass nichtwestliche Regionen und Akteure durch eine Theorie, die ihre Handlungsfähigkeit überschätzt, mehr gewinnen können als aus einer Theorie, die ihre Handlungsfähigkeit unterschätzt. Eine Theorie der Moderne ist also nicht automatisch „unmoralisch“. Trotzdem müsste man Konflikt- und Dependenztheorien als „andere Seite der Medaille“ irgendwie mit einbeziehen können, was z.B. bei Luhmann manchmal zu kurz kommt (in vielen anderen Theorien dann wiederum übermäßig herausgekehrt wird).
2. Zudem müssten, wie schon gesagt, kulturelle Traditionen als selbsterfüllende Prophezeiungen in Betracht gezogen werden, weil man sich z.B. bewusst an der vermeintlichen eigenen Gruppe orientiert. Z.B. Werden ständig lokale Bräuche erfunden, die dann wenige Jahre später plötzlich „uralt“ sind und als Symbol für regionale Eigenart gelten. Diese Bräuche orientieren sich oft an gegenwärtigen Vorstellungen über die vermeintlichen Traditionen der eigenen Kultur. Diese Erfindung von Traditionen mag selbst wieder ein modernes Phänomen sein, aber es kopiert die Tradition (oder das, was für Tradition gehalten wird) in die Moderne hinein – und derartige Phänomene sind, wenn überhaupt, eher im kommen als im verschwinden.
3. Außerdem müsste die Vorstellung einer Moderne so formuliert werden, dass diese Moderen auch spezifische lokale Aneignungen moderner Phänomene beinhalten kann, z.B. dass in Regionen mit weniger Wasser oder größerer/geringerer Bevölkerungsdichte usw. bestimmte „moderne“ Institutionen, Technologien usw. von den Menschen nicht angenommen und/oder variiert werden. Hierzu haben Ethnologen sehr viel geschrieben – das betrifft Ihre Theorie aber wohl nur indirekt, da es Ihnen eher um die „großen“, institutionellen Zusammenhänge geht, die Ethnologen aber eher an kleinen, alltäglichen Objekten forschen. Trotzdem muss die Theorie der globalen Moderne auch diese Form von Aneignungen und Hybridbildungen aushalten können, ohne dabei in „Tradition“ und „Moderne“ einzuteilen.
4. Überhaupt könnte man sich Fragen, ob die Theorie der Moderne evtl. ohne den Gegenbegriff der „Tradition“ auskommen kann – zumindest ohne eine statisch-homogen vorgestellte Tradition, die ich zumindest in Europa nicht sehen kann, die aber in soziologischen Einführungswerken immer wieder auftaucht (z.B. in Tabellen, die „die Traditionelle Familie“ und „die moderne Familie“ in Stichworten vergleichen – nur: welche Tradition und wann und wo???). Auch wenn es eine globale Moderne gibt, gab es sicher keine „globale Tradition“, und ich würde die Existenz einer eindeutigen „traditionellen europäischen Familie“ durchaus anzweifeln.
Ich hoffe, das sind noch interessante Anregungen für Sie,
mfg
Marius Meinhof
Sehr geehrter Herr Meinhof,
ich wünsche Ihnen eine Frohes Neues Jahr!
Hier ein paar Notizen zu Ihren Anregungen:
In dem im Jahr 2000 publizierten Aufsatz „Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America“ (International Sociology 20: 215-232) schreibt der peruanische Sozialwissenschaftler Anibal Quijano, zu den tiefgreifendsten Wandlungen der zurückliegenden 500 Jahre zähle zweifellos die Herausbildung einer eurozentrischen Weltordnung, „that is still with us“. Wenige Jahre später erscheinen vermehrt Bücher, die das Ende der westlichen Vorherrschaft und den unaufhaltsamen Aufstieg Asiens verkünden (prominent: Niall Ferguson, The War of the World, 2006; Kishore Mahbubani, The New Asian Hemisphere, 2008). Die Herkunft der Autoren bzw. der geographische Fokus ihrer Analysen ist kein Zufall. Denn auch wenn die eine Einschätzung der anderen zeitlich etwas vorausliegt, hat sich „objektiv“ in den wenigen dazwischen liegenden Jahren nicht soviel getan, dass ein Perspektivenwechsel sich erst dadurch zwingend aufgedrängt hätte. Vielmehr zeichneten sich in Teilen Asiens bereits seit längerem Entwicklungstrends ab, die unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle vieler lateinamerikanischer, aber auch z.B. europäischer Beobachter geblieben waren. Mir leuchteten die entsprechenden Analysen und Diagnosen von Anbeginn ein, aber ich muss für sie plausibilisierendes Anschauungsmaterial auch nicht weit reisen, sondern sozusagen nur zur Tür heraustreten.
Was ich damit sagen will, ist, dass sich das Weltgeschehen je nach Standort, von dem aus es beschrieben wird, ganz unterschiedlich darstellen kann. Teils verdanken diese Unterschiede sich den blinden Flecken, Einseitigkeiten, Voreingenommenheiten unterschiedlicher Beobachter, teils gründen sie aber auch in unterschiedlichen Ausgangslagen und Kontextbedingungen, in denen die betreffenden Beobachter sich befinden bzw. die ihre Wahrnehmung (mit-)bestimmen. Auch in der globalen, polyzentrischen Moderne sind beileibe nicht alle Gewinner – und Sie haben völlig Recht, dass eine Theorie der globalen Moderne imstande sein müsste, die daraus erwachsenden Verwerfungen, Machtkämpfe, Asymmetrien, Dependenzen, Konflikte usw. zu erklären. Ebenso wichtig scheint es mir allerdings, das, was neu am gegenwärtigen Zeitalter ist, überhaupt erst einmal zu erfassen. Das von mir vorgeschlagene Konzept stellt den Versuch dar, einen analytischen Rahmen zu skizzieren, der dazu einen Beitrag leisten kann. Erfassbar sind damit m.E. auch die von Ihnen angeführten Phänomene. Zu bearbeiten wären diese freilich mit anderen, auf die Spezifik der durch sie aufgeworfenen Bezugsprobleme zugeschnittenen Mitteln. Das dafür erforderliche Instrumentarium bieten typischerweise Theorien mittlerer Reichweite.
Soviel zu Ihrem ersten Punkt. Auch was den zweiten Punkt betrifft, stimme ich Ihnen zu. Hier bietet der Sozialkonstruktivismus viele brauchbare Ansatzpunkte. Und dass Modernes eine große Formenvielfalt kennt (Ihr dritter Punkt), ist mir ebenfalls bewusst (ich erlebe es tagtäglich). Gleichwohl muss, wer überhaupt von Modernität spricht, sich der Notwendigkeit stellen, das solchermaßen Bezeichnete nach irgendwelchen Gesichtspunkten von Nichtmodernem abzugrenzen. Ob „Tradition“ dafür einen geeigneten Kontrastbegriff bildet, ist, Sie sagen es selbst, umstritten. Für die Differenzierungstheorie, an die ich insoweit anschließe, ist das allerdings gar kein Problem, denn zumindest auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Moderne kommt diese Theorie ganz ohne ihn aus. Auf kulturellem Gebiet würde ich dagegen weiter dazu neigen, dem Begriff eine gewisse Berechtigung und Abgrenzungstauglichkeit zuzusprechen. Aber es kann durchaus sein, dass er auch da so problembehaftet ist, dass man besser ganz auf ihn verzichten sollte. Wüssten Sie vielleicht eine brauchbare Alternative?
Sehr geehrter Herr Schmidt,
auch Ihnen ein frohes neues (chinesisches) Jahr,
Bis auf den Bereich „Kultur“ würde ich dem von Ihnen gesagten inzwischen durchaus zustimmen.
Mein größtes Problem mit der Unterscheidung Tradition/Moderne ist, dass es sich um eine binäre Unterscheidung handelt (die oft auch noch als Dichotomie dargestellt wird!). Gerade im Bereich der Kultur ist dies besonders problematisch. Implizit – und bei einigen Soziologen ganz explizit – wird dabei davon ausgegangen, dass „die“ traditionelle Kultur existiert(e).
Es gibt sicher einiges, das man als Kultur der Moderen bezeichnen kann. z.B. ein „moderner“ Umgang mit Zeit (auch wenn es hier evtl. auch innerhalb der Moderne Kulturunterschiede gibt – der Existenz von Uhren und Zeitplänen kann sich aber keiner entziehen). Auch könnte man Fragen, ob etwa die Fähigkeit, einen Intelligenztest gut zu bestehen, ebenfalls als moderne Kultur zu verstehen ist (mit Fähigkeiten wie ruhig sitzen, sich mit voller Konzentration mit abstrakten Prüfungsaufgaben beschäftigen etc.).
Problematisch wird es aber dann, wenn man versucht, alle Gruppen, in denen eine derartige Kultur nicht kommt, in eine Kategorie, die von einem Eigenschaftsbegriff beschrieben wird, einzuordnen. Das ist etwa so Sinnvoll, wie alle zahllosen Familienformen aller Zeiten, Schichten und Orte in „Kernfamilien“ und „Großfamilien“ zu unterscheiden, wobei letzteren ausschließlich die Eigenschaft, keine Kernfamilien zu sein, gemeinsam ist. (Und trotz anderslautender Lippenbekenntnisse habe ich dieses Begriffspaar während meines Studiums auch in neueren Einführungswerken gelesen – zu meinem großen Schock selbst bei Günter Burkart, der an anderer Stelle immer wieder betont hat, wie heterogen die vormoderne Familie war).
Daher denke ich: Gerade im Bereich der Kultur sollte man versuchen, auf einen Gegenbegriff zu verzichten. Dass man einen Begriff auch ohne eindeutigen Gegenbegriff formulieren kann, kann man m.M. zum Beispiel an Luhmann sehen: Sein Kernbegriff der „Funktional Differenzierten Gesellschaft“ ist eine von mindestens 3 Differenzierungstypen. Damit umgeht er das Problem: Die Abwesenheit der modernen (funktional Differenzierten) Struktur ruft nicht automatisch den Gegenbegriff auf den Plan, sondern lässt die Frage offen, welcher Differenzierungstyp konkret vorliegt.
So ähnlich würde ich mir das auch in anderen Bereichen wünschen: z.B. gibt es vermutlich einen „westlichen“ Individualismus, der zu einer bestimmten Zeit (Aufklärung?) entstanden ist und als Semantik sehr erfolgreich war. Ob es aber auch „den“ Kollektivismus gibt, halte ich für zweifelhaft, da man hier weder Entstehungszeit noch Diffusion feststellen kann – trotzdem gehen Psychologen und Sozialwissenschaftler ständig davon aus, dass es gemeinsame Eigenschaften „der“ kollektivistischen Kulturen gäbe, die man genauso positiv beschreiben kann wie den Individualismus. Die Forschungs- und Theoriefrage, welche und wie viele Kulturformen es gibt, die sich wesentlich vom westlichen Individualismus unterscheiden (3?10?), kann nicht gestellt werden – man hat Anschlussfragen durch ungenaue Kategorienbezeichnungen vernichtet.
Ich denke, dass man weniger Schaden nimmt, wenn man auf einen Gegenbegriff verzichtet (und die Theorie damit sicherlich komplizierter/weniger eingängig macht). Damit gewinnt man die Freiheit zu fragen, welche ganz unterschiedlichen Kulturen es zu verschiedenen vormodernen Zeiten gab.
Mfg,
Marius Meinhof
Sehr geehrter Herr Meinhof,
jetzt machen Sie es sich m.E. doch ein wenig zu einfach. Für diese Einschätzung hier nur drei Gründe, die ich kurz ansprechen will:
Erstens ist es schon rein logisch zwingend, dem Begriff der Moderne(n Kultur), sofern man ihn überhaupt verwendet, einen Kontrastbegriff gegenüberzustellen, weil sich der Sinn dessen, was das „Moderne“ (an der Kultur) ausmachen soll, nur aus dem Unterschied zu als nichtmodern gedachten (Kultur-)Erscheinungen erschließt. Nichtmodern hieße dann entweder vor- oder nachmodern, aber etwas muss es heißen, denn sonst verliert der Begriff der Moderne selbst jede Tiefenschärfe.
Zweitens bemühen Sie mit Luhmann gleich in zweifacher Hinsicht den falschen Kronzeugen. Denn Luhmann geht schon davon aus, dass die von ihm unterschiedenen Grundformen gesellschaflicher Differenzierung sich zumindest grob auch unterschiedlichen Epochen zuordnen lassen, deren Charakteristik sich aus dem je dominanten Differenzierungstyp ergibt. In der nach Luhmann dem modernen Zeitalter vorangehenden Epoche ist stratifikatorische Differenzierung „das“ die Gesellschaftsstruktur bestimmende Merkmal schlechthin, obgleich sich auch Momente segmentärer und funktionaler Differenzierung beobachten lassen – letztere gleichsam im Embryonalzustand und, wie erst retrospektiv erkennbar, im Vorgriff auf die moderne Gesellschaft, die durchbricht, wenn und soweit sie zur primären Differenzierungsform avanciert. Stratifikation und Segmentation verschwinden damit nicht aus der (sozialen) Welt, rücken aber gesellschaftsstrukturell sozusagen ins zweite Glied. Kurzum, Luhmann stellt sich dem Problem durchaus. Und auch auf dem Gebiet der Kultur ist er davor keineswegs zurückgeschreckt. Im Gegenteil, er postuliert ausdrücklich einen nichtzufälligen Zusammenhang zwischen der Evolution soziokulturellen Ideenguts und der sozialstrukturellen Entwicklung; die Bände zur „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ zeigen das schon im Titel an. Auch insoweit geht er also mit der soziologischen Klassik konform.
Drittens schließlich hat es nach allem, was man heute weiß, den Anschein, als gebe es sehr wohl spezifisch moderne, die Denkmöglichkeiten prämoderner Weltbilder systematisch transzendierende Sinn- und Deutungsmuster, deren Sprengkraft sich freilich nur erschließt, wenn man sie in ihrer Eigenart ernst nimmt. Ein Beispiel ist nach landläufiger Auffassung die gegenüber vormodernen Verhältnissen signifikant gesteigerte Reflexivität der modernen Kultur, verstanden als Permanentstellung der Verflüssigung von Mustern der Legitimation sozialer Ordnung. Anders als vormoderne Formen der Reflexivität begnügt moderne Reflexivität sich nicht mit der Auslegung und Interpretation überkommener Traditionsbestände, in deren Kontinuität sie sich stellt. Vielmehr beurteilt sie deren Dignität im Wissen um ihre Konstruktivität im Licht immer nur provisorisch geltender „guter“ Gründe, die ihre Plausibilität ausschließlich aus sich selbst schöpfen, also noch dazu ohne jede Rückversicherung in „metasozialen Geltungsgaranten“ (Touraine) auskommen (müssen).
Das ist, wie gesagt, nur ein Beispiel. Jede Begriffsbestimmung kann fehlgehen, und manche der in sie eingelassenen Annahmen mögen sich bei genauerer Betrachtung auch als problematisch erweisen. Das gehört zu den Risiken wissenschaftlicher Arbeit. Aber es entbindet nicht von der Notwendigkeit, es wenigstens zu versuchen.
Sehr geehrter Herr Schmidt,
Ich lasse einmal Spekulationen über eine Nachmoderne/Postmoderne weg, weil sonst alles zu kompliziert wird. Ich spreche also nur über einen Vergleich zwischen Moderne und der Zeit davor.
Wer über Moderne spricht, muss natürlich klar machen, was Moderne alles nicht ist. Vielleicht habe ich nicht klar gemacht, was ich mit „Gegenbegriff“ meinte: Eine binäre Unterscheidung, etwa Moderne/Tradition, in der alles vor der Moderne mit dem Begriff „Tradition“ beschrieben wird.
Frieden hat z.B. einen Gegenbegriff (Krieg). Demokratie hat meines Wissens nach keinen Gegenbegriff (Es gibt Absolutismus, Nationalsozialismus, Kolonialherrschaft usw. – alle sind nicht Demokratisch). Abgesehen von einigen Grauzonen kann man sehr gut beurteilen, was alles nicht Demokratisch ist – ohne dadurch genau zu wissen, was dieses nicht-demokratische System ist. Bei Frieden/Krieg dagegen kommt man in das Dilemma, ob z.B. der Kalte Krieg oder andere Dauerkonflikte als Frieden oder als Krieg zu bezeichnen sind.
Der Begriff „Tradition“ erzeugt (ähnlich wie „Kollektivismus“) die Illusion, es gäbe einen sozialen Sachverhalt, der mit diesem Begriff beschrieben wird – den gibt es meiner Meinung nach nicht. Statt dessen ist „Tradition“ ausschließlich negativ (als Fehlen von Moderne) definiert. Um das zu widerlegen müssten Sie nicht etwa spezifisch moderne Denkweisen sondern statt dessen spezifisch Traditionelle Denkweisen aufzeigen.
Mein Vorschlag ist daher, als Gegenbegriff von Moderne entweder nicht/vor/nach – Moderne zu verwenden (denn dieser Begriff impliziert nicht, dass das Andere der Moderne eine eigenständige Entität ist) oder eine Mehrzahl an Begriffen zu nutzen, je nachdem welche nichtmodernen Zeiten und Regionen man beschreibt (das findet etwa in der Geschichte mit den Epochenbezeichnungen statt, so artifiziell und eurozentrisch diese sein mögen).
Zu Zweitens: Mein Verweis auf Luhmann war anscheinend zu unklar, ich wollte damit folgendes sagen: Einerseits geht Luhmann davon aus, dass es einen grundlegenden Bruch mit der Vormoderne gab – weil sich das Differenzierungsprimat von Stratifiziert zu Funktional Differenziert wandelte. Andererseits ist nicht alles, was nicht Funktional Differenziert ist automatisch Stratifiziert. Vor der Stratifizierten Epoche gab es bereits eine Segmentär Differenzierte Epoche. Damit wird eine Alternative zur binären Unterscheidung Moderne/Tradition geschaffen (wann genau der Wechsel von Segmentär zu Stratifiziert stattfand sei dahingestellt). Damit wollte ich zeigen, dass eine prägnante Abgrenzung der modernen Gesellschaft von früheren Formen der Gesellschaft auch möglich ist, ohne einen einzelnen Gegenbegriff zu bemühen (im Falle Luhmanns hat man zwei andere Begriffe). Ich denke nicht, dass Luhmanns Begriff der Moderne weniger Prägnant ist als der von Autoren, die nur binär (Segmentär/Funktional Differenziert) unterschieden.
Mfg
Marius Meinhof
Sehr geehrter Herr Meinhof,
wenn ich Sie richtig verstehe, dann wenden Sie sich gegen einen erkenntnistheoretisch „naiven“ Realismus, der das Begriffsdual von „Tradition“ und „Moderne“ als eine Art ontologische Bestimmung fasst, die sich auf präzise in Raum und Zeit abgrenzbare Entitäten, also in der Soziologie typischerweise auf politisch konstituierte Territorialgesellschaften, bezieht, die dann entweder als „traditional“ oder „modern“ bezeichnet werden, aber nicht beides zugleich sein können. Dieses Begriffsverständnis war in der Soziologie eigentlich spätestens mit dem 1967 publizierten Aufsatz „Tradition and Modernity: Misplaced Polarities in the Study of Social Change“ von Joseph Gusfield (American Journal of Sociology 72: 351-362) erledigt, auch wenn sich Restbestände davon bis heute erhalten haben mögen.
Ich selbst verwende das Begriffspaar zur Markierung der Pole eines Entwicklungskontinuums, d.h. zur idealtypischen Kontrastierung von Entwicklungslogiken, Deutungsmustern usw., die nirgends in Reinform vorkommen, sondern in der wirklichen Welt stets ein komplexes Mischungsverhältnis eingehen. Demnach gibt es (heute) keine sozialen Einheiten (mehr), die entweder (nur) „traditional“ oder (vollständig – aber was hieße das?) „modern“ sind, wohl aber Unterschiede des Grades, in dem Modernes sich in den Vordergrund schiebt. Das schließt die Möglichkeit ein, dass dieselbe Einheit in unterschiedlichen Dimensionen unterschiedlich modern ist und dass etwa Einheiten, die „insgesamt“ einen niedrigeren Entwicklungsstand aufweisen, in mancherlei Hinsicht moderner sein können als ansonsten höher entwickelte Vergleichseinheiten.
In einem früheren Kommentar über Teile Chinas im Verhältnis zu Teilen Deutschlands hatten sie ja selbst entsprechend argumentiert. Je nach Bezugsproblem einer Untersuchung kann man aber auch andere Schnitte in die Wirklichkeit legen und dann zu ähnlichen Befunden kommen – etwa im Vergleich von Stadt und Land, Weltstadt und Provinz(-stadt), hochgebildeten Professionellen und geringqualifizierten Industriearbeitern oder Dienstleistungskräften. In Sachen soziokultureller Modernität (Wertmuster, Konsumstile usw.) unterscheiden die nach solchen Kriterien gebildeten Kategorien sich, wie seit langem bekannt, oft stärker von anderen Gruppen derselben Nationalität/Staatszugehörigkeit als von ihren Pendants in anderen Weltgegenden. Im Zeitlauf tendieren freilich alle dazu, moderner zu werden.
Erst mal danke für den Aufsatz, er spricht viele Probleme des Traditionsbegriffes an.
Zusammengefasst wollte ich eigentlich sagen: Welchen Vorteil bringt überhaupt ein einzelner Begriff (die Tradition) für eine Vielzahl von Phänomenen ohne Gemeinsamkeit? Warum nicht einfach weglassen und statt dessen verschiedene ad hoc Begriffe nutzen?
Wenn man Gusfields Kritik ernst nimmt: Welche Vorteile hat man denn dann noch, wenn man von Tradition statt etwa Konkret von dem Phänomen ABC oder der Zeit „Vor-Moderne“ spricht? Sie ist weder homogen noch statisch usw. – warum dann überhaupt noch ein Begriff, der implizit doch wieder zeitliche, räumliche, soziale usw. Homogenität der Tradition nahelegt??? Warum nicht einfach Moderne/[Unmarkiert]???
Wie bereits oben gesagt sehen ich nicht, warum der Begriff der Moderne (um den es Ihnen ja geht) nur unter Rückgriff auf genau einen Gegenbegriff prägnant herausgearbeitet werden kann.
Sehr geehrter Herr Meinhof,
vorab eine Selbstkorrektur: Anders als in meiner letzten Entgegnung (1. März 2013) geschrieben, kommt der Traditionsbegriff in meinen Arbeiten tatsächlich gar nicht (oder allenfalls am Rande, und wenn, dann zur Markierung sehr spezifischer Sachverhalte) vor. Als Platzhalter für das Gemeinte verwende ich selbst ja den Begriff des Vormodernen.
Die Sache, um die es Ihnen geht, macht das freilich nicht besser. Wie „Tradition“ ist auch „Vormodernes“ ein Residualbegriff, in den sozusagen differenzlos alles hineingepackt wird, was dem modernen Zeitalter vorangeht, der aber inhaltlich wenig zur Bestimmung dessen beiträgt, was dieses Zeitalter positiv kennzeichnet. Der Traditionsbegriff „verspricht“ insoweit etwas mehr, aber faktisch werden die Begriffe meist synonym verwendet.
Wenn das so ist, dann hält sich allerdings auch der analytische Ertrag eines Wechsels vom einen zum anderen Begriff in Grenzen. Andererseits kann man dann durchaus auch den Traditionsbegriff verwenden, ohne sich die Probleme einhandeln zu müssen, die die Kritik damit weithin verbunden sieht. Ein Beispiel für einen Text, dem das m.E. gut gelingt, ist das jüngste Buch von Jared Diamond (The World Until Yesterday. New York: Viking, 2012). Im Prolog unterscheidet Diamond vier grundlegende Gesellschaftstypen, die sich im Verlauf der bisherigen Menschheitsgeschichte herausgebildet hätten. Diese Typologie erinnert an Denkfiguren, die in der Soziologie und anderen Sozialwissenschaften gebräuchlich sind, und sie hat gerade aus Sicht der soziologischen Theoriebildung sicherlich einige Schwächen (ich neige, wie Sie wissen, eher zu einer an Luhmann angelehnten Typologie), aber das lasse ich an dieser Stelle einmal außer Betracht gestellt. Denn wie immer man sich zur einen oder anderen Typologie stellt, klar ist, dass jede Typologie vereinfacht. Für manche Beobachter erwächst daraus das Desiderat oder sogar das Erfordernis, überhaupt auf Begriffsbildung, auf Kategorisierungen, Klassifizierungen usw. zu verzichten.
Das mag zunächst befreiend wirken, ist aber für wissenschaftliche Erkenntnisbemühungen keine Option. Wie wir spätestens seit Kuhn wissen, gibt es keine (theoretisch, mithin auch begrifflich) voraussetzungslose Beobachtung der Wirklichkeit. Für die Wissenschaft kommt noch dazu, dass ihr Interesse, wie Sie jedem Lehrbuch entnehmen und selbst bei Anthropologen nachlesen können, nicht der „konkreten Wirklichkeit“ (als solcher), gilt, sondern dem Allgemeinen, den dem Besonderen in seiner Vielfalt zugrundeliegenden Strukturmustern: „Science“, so Radcliffe-Brown in dem Aufsatz „On Social Structure“, „is not concerned with the particular, the unique, but only with the general“ (Journal of the Royal Anthropological Society of Great Britain and Ireland 70: 1-12, 1940, S.4). Und dieses Allgemeine lässt sich mit ad-hoc Begriffen nicht erfassen.
Außerdem bleibt uns die „konkrete Wirklichkeit“ ohne Navigationsinstrumente, also ohne Begriffe, die die Selektivität unseres Zugriffs auf sie steuern, unzugänglich. Die Wissenschaft macht aus dieser Not eine Tugend, indem sie die genannte Selektivität durch Disziplinen „diszipliniert“ (Foucault), d.h. in geordnete Bahnen lenkt, mit Hilfe elaborierter Begriffssysteme (fachspezifischer Theorien, Paradigmen, Forschungsprogramme usw.) kontrolliert. Die Wirkungsmächtigkeit dieser Begriffssysteme zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Fachvertreter meist keine Schwierigkeit haben, den je eigenen Analysestil von dem anderer Disziplinen zu unterscheiden, die sich demselben Gegenstand zuwenden mögen.
Auch innerhalb der einzelnen Disziplinen setzt diese Selektivität sich fort – z.B. in verschiedenen Unterfächern und auf den Abstraktionsstufen unterschiedlicher Ebenen der Theoriebildung. Die von der Gesellschaftstheorie angepeilte Abstraktionsstufe ist relativ hoch, entsprechend stark vereinfachen ihre Begriffe, Modelle, Typologien. Die von Theorien mittlerer Reichweite verwendeten Typologien (z.B. zu den Welten des Wohlfahrtskapitalismus, den Spielarten der Demokratie usw.) sind demgenüber etwas „bodennäher“ konzipiert, aber auch sie vereinfachen radikal und würden ihrer Aufgabe nicht gerecht, wenn sie das nicht täten. Man könnte so fortfahren.
Manchmal erweisen Begriffssysteme sich als untauglich, relevantes, in ihren Zuständigkeitsbereich fallendes Sozialgeschehen adäquat zu erfassen. Dann müssen sie verfeinert, der Komplexität ihres Gegenstands angepasst werden. Die Alternativen zu unterkomplexen Theorien oder Begriffssystemen sind also nicht keine Theorien oder keine Begriffe, sondern bessere. Bei näherem Hinsehen zeigt sich denn auch regelmäßig, dass selbst diejenigen, die im Namen der vermeintlichen Überlegenheit „dichter Beschreibungen“ für den Verzicht auf Theorie werben, nicht ohne theoretische Annahmen auskommen, die die von ihnen präferierten Analysemethoden als vorzugswürdig ausweisen. Aber wenn das die These ist, dann ist auch das Thema des Streits nicht länger Theorie versus „etwas anderes“, sondern welche Theorie – welches Begriffssystem – im Blick auf welche Bezugsprobleme über die größeren Erkenntnispotentiale verfügt.
Sehr geehrter Herr Schnidt,
ich stimme Ihnen natürlich grundsätzlich zu. Meine Bedenken gegen den Begriff der Tradition haben Sie treffend zusammengefasst. Wenn jemand den Begriff Vormoderne genauso verwendet, dann ist das natürlich keinen Deut besser. Insofern lohnt es sich auch kaum „die“ Tradition durch „die“ Vormoderne zu ersetzen.
Ideal wäre dagegen m.M. nach, differenziertere Kategorien zu schaffen – vor allem: Kategorien, die nicht mit einem ausschließlichen Interesse für die Moderne geschaffen wurden. Dann mag man auf 3 Typen kommen oder auf 4 (von Jared Diamond halte ich nicht viel, deshalb habe ich auch keine Motivation, sein neues Buch zu lesen). Ich vermute, man würde sogar auch deutlich mehr Kategorien kommen. Wichtig ist dabei, dass die massiven Unterschiede, die es zwischen verschiedenen Epochen und zwischen verschiedenen Regionen gab, abgebildet werden. Also nicht so tun, als seien alle vormodernen Gesellschaften ungefähr gleich. Ein differenzierterer Begriffsapparat wäre sicher auch förderlich für eine Theorie der Moderne, da man dann die Heterogenität der vormodernen Gesellschaftsformen besser erfassen kann und damit auch das Besondere der Moderne evtl. besser im Blick hat.
Das Problem bei Luhmanns Kategorien sehe ich darin, dass er bei der Beschreibung vormoderner Zeiten zu wenig regional Differenziert. In der Moderne ist das ja Absicht („Weltgesellschaft“). Die bei ihm beschriebene stratifizierte Gesellschaft war aber keine Weltgesellschaft, es gab in MA und früher Neuzeit also mehrere stratifizierte Gesellschaften, deren Ständesystem nicht kompatibel war, und die (wenn Luhmann recht hat) irgendwie alle in einer funktional differenzierten Weltgesellschaft aufgegangen sind. Leider hat Luhmann sich nicht ausreichend damit Beschäftigt, inwieweit sich die Differenzierungsformen des MA und der frühen Neuzeit von einander unterschieden und ob es legitim ist, alle als stratifziert zu bezeichnen. (Und auch nicht mit der Frage, wie in diesen Regionen der Übergang zur Funktional Differenzierten Gesellschaft stattfand – denn auch wenn die Moderne ein Exportprodukt Europas war, konnten die Sozialen Systeme außerhalb Europas ja auch nur auf selbstreferenzielle Weise auf dieses Exportprodukt reagieren!)
Sehr geehrter Herr Meinhof,
dann sind wir uns ja einig.
Ihr Anliegen ist zweifellos legitim, aber ebenso klar scheint mir zu sein, dass bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte immer Wünsche offen bleiben, weil unterschiedliche Autoren (und wenn Sie fachspezifische Besonderheiten hinzunehmen, auch ganze Autorengruppen) unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen: Andere Fragen, andere Antworten und Gewichtungen. Das lässt sich freilich auch positiv wenden, indem man es als Ansporn nimmt, es selbst (besser) zu machen. Die Wahrnehmung von Defiziten oder Wissenslücken im jeweiligen „Stand der Forschung“ ist ja, so unbefriedigend diese im Enzelfall erscheinen mögen, nicht wirklich das Problem der Wissenschaft, sondern geradezu ihr Lebenselixier, das, was sie umtreibt und zu immer neuen Höchstleistungen antreibt. Was wäre Wissenschaft ohne sie?
Das soll keine Entschuldigung für kritikwürdige und zumindest partiell kontrollierbare Schwächen (persönliche Befangenheiten, unhaltbare Generalisierungen, die oft reflexartige Zurückweisung unvertrauter Sachverhalte/Sinnangebote/Deutungsmuster usw.) sein, aber es lädt doch dazu ein, Mängelbefunde, die vor allem die je eigenen Ideosynkrasien, paradigmatischen Präferenzen, Forschungsinteressen usw. reflektieren, nicht gar zu hoch zu hängen.
Schön, dass wir hier zu einer Einigung kommen konnten – ich habe zumindest viel gelernt und Anregungen zum Nachdenken bekommen (auch über meinen Interessenbereich China). Forschungslücken sind natürlich unvermeidlich – es kommt m.M. darauf an, dass man sich bewusst ist, dass hier eine Lücke und/oder eine einseitige Schwerpunktsetzung vorhanden ist.
Jedenfalls haben Sie mich davon überzeugt, dass eine Theorie der globalen Moderne vielversprechender ist als Multiple Modernities.
Sehr geehrter Herr Meinhof,
das Vergnügen war ganz meinerseits. Ich freue mich zu hören, dass Sie den Austausch nützlich fanden; erst recht natürlich, dass Sie auch etwas mit meinen Überlegungen zur Globalen Moderne anfangen können. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren eigenen Arbeiten!