Der Kampf um die Autonomie der Wissenschaft. Wie Rankings die Wissenschaft für externe Interessen instrumentalisieren und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausfordern

Zur Empfehlung des DGS-Vorstandes, aus dem CHE-Ranking auszusteigen 4

Im Oktober des vergangenen Jahres habe ich an einem Workshop über University Rankings an der Universität Helsinki teilgenommen. Der Workshop war geprägt von kritischen Beiträgen, die sich mit den methodischen Mängeln und den fatalen Effekten von Rankings für Forschung und Lehre an den Universitäten beschäftigten. Am Abend gab es einen Empfang beim Vizerektor für Forschung, der die international bedeutende Position der Universität Helsinki in Forschung und Lehre herausgehoben hat und darüber berichtete, dass die Universität alle Anstrengungen unternehmen wird, um im Shanghai-Ranking der 500 sichtbarsten Universitäten der Welt von gegenwärtig Platz 68 auf einen Platz unter den ersten 50 aufzusteigen. Über Sinn und Zweck globaler und nationaler Universitätsrankings hat der Vizerektor kein Wort verloren, methodische Mängel waren nicht im Fokus seiner Ansprache. Vielmehr erhoffte er sich, dass wir in unserem Workshop die richtigen Strategien für einen solchen Aufstieg herausfinden würden. Beim anschließenden Gespräch sagte ich ihm, das sei gar nicht so schwierig. Die sicherste Strategie sei doch, wenn die Regierung den anderen finnischen Universitäten ein Viertel ihrer Grundausstattung wegnähme und der Universität Helsinki das eingesammelte Kapital übergäbe, damit sie die weltweit reputiertesten, im Web of Science sichtbarsten Forscher berufen könne. Er meinte, dass sich die anderen Universitäten natürlich dagegen wehren würden und dieser Weg für seine Universität verschlossen sei. Stattdessen wolle man auf Schwerpunkte der Forschung setzen und für sie mehr Drittmittel einwerben, wodurch sich natürlich langfristig doch eine verstärkte Konzentration von Ressourcen auf die Universität Helsinki ergäbe.

Akademischer Kannibalismus

Man sieht an diesem Beispiel, dass die entscheidende Strategie – die Ressourcenvermehrung – nicht alle zugleich wählen können, weil bei nicht endlos wachsenden Summen die einen weniger bekommen, was die anderen mehr erhalten. Bei einem Nullsummenspiel ist eben der Gewinn des einen der Verlust des anderen. Wozu nahezu alle bis auf die Reichsten gezwungen werden, ist die sogenannte Profilbildung, im Klartext die Abstoßung von allem, was unter der wettbewerbsfähigen kritischen Masse liegt, und die Investition der freiwerdenden Mittel in wenige Schwerpunkte. An die Stelle der Universität tritt dann eine Spezialhochschule mit eingeschränktem Denkhorizont, wodurch die Chancen für interdisziplinäres Arbeiten just zu einer Zeit sinken, wo alle danach rufen.

Wenn der Wettbewerb von Hochschulen um Ressourcen erstens zu einer größeren Ungleichheit ihrer Verteilung führt, zweitens die meisten Universitäten in Spezialhochschulen transformiert und drittens die Diversität von Forschung und Lehre reduziert, dann muss man sich fragen, was diesen Wettbewerb so antreibt, dass er für die Hochschulleitungen zum völlig unhinterfragten Faktum geworden ist. In meinen Augen ist es die große Verwechslung des genuin wissenschaftlichen Wettbewerbs um Erkenntnisfortschritt mit dem ökonomischen Wettbewerb um Monopolrenten. Wer sich den Wettbewerb nicht wünscht, der setzt sich sofort dem Verdacht aus, es sich bequem machen und auch ohne Anstrengung zu Geld und Ehren kommen zu wollen. Nur, worin besteht denn die Anstrengung von Hochschulleitungen, die ihre Universität im Ranking um ein paar Plätze nach oben bringen wollen? Sie kann allein darin bestehen, Kapital zu generieren, das in schon vorhandene Schwerpunkte investiert wird. Wenn kein Geldgeber von außen kommt, dann kann nur die innere Kannibalisierung der Fachgebiete unterhalb der kritischen Masse den erwünschten Erfolg bringen.

Die Verwechslung des managerialen mit dem wissenschaftlichen Wettbewerb

Mit einer Steigerung der „wissenschaftlichen“ Leistungsfähigkeit der Universität hat diese Strategie direkt nichts zu tun, denn die Wissenschaftler fördern ihre Erkenntnisse unabhängig von ihrer Arbeitsstelle zutage und machen sie der Allgemeinheit zugänglich. Das ist dasselbe Spiel wie im Fußball, wo Mario Gomez, Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo ihre Tore unabhängig davon schießen, ob sie für Bayern München, den FC Barcelona oder Real Madrid spielen. Es handelt sich lediglich um eine Steigerung der managerialen Handlungsfähigkeit von Universitäten. Bei Wirtschaftsunternehmen und Fußballklubs kann das die richtige Strategie sein, bei Universitäten steht jedoch mehr auf dem Spiel als die bloße manageriale Handlungsfähigkeit. Es zählt nicht die manageriale Leistung von Uli Hoeneß, sondern allein die Publikation von Forschungsergebnissen. Wo diese entstanden sind, spielt für die Wissenschaft keine Rolle, solange sie noch als Kollektivgut betrachtet werden. Ist das nicht mehr der Fall, dann hat man ohnehin den Rubikon überschritten und die wissenschaftliche Arbeit komplett in ein ökonomisches Streben nach Monopolrenten umgewandelt.

Die Erhaltung der Universitäten im Wortsinne ist eine wesentliche Voraussetzung für die Horizonterweiterung in Forschung und Lehre. Wenn das nicht gegeben ist, gehen wir einer Welt voller Fachidioten entgegen. Die neu geschaffenen Schwerpunkte sind in aller Regel weit über den optimalen Punkt hinaus überausgestattet und deshalb umso mehr vom Gesetz des sinkenden Grenznutzens jenseits dieses Punktes betroffen. Die wachsende Ungleichheit der Ressourcenverteilung führt außerdem dazu, dass es neben den überausgestatteten Zentren eine Vielzahl von unterausgestatteten Fachbereichen in der Peripherie gibt. Das gesamte System schöpft deshalb seine Ressourcen nicht optimal aus. Genau diese ökonomische Fehlleistung mit fatalen Konsequenzen für den Erkenntnisfortschritt wird paradoxerweise unter der Agenda des „Leistungswettbewerbs“ zwischen den Hochschulen erbracht.

Die HRK auf der Fährte der neoliberalen Reformagenda

Wie wenig die Protagonisten des Universitätsrankings wissen, was sie tun, zeigt die Gründung des Centrums für Hochschulforschung (CHE) durch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung im Jahre 1994. Die HKR ist damit den Isomorphiezwängen der global wirksamen neoliberalen Reformagenda gefolgt und hat sich auf der Linie dieser Agenda für den Leistungswettbewerb zwischen den Hochschulen stark gemacht, wobei als eigene „Einsicht“ angegeben wird, was nichts anderes als das Aufspringen auf einen globalen Trend war: „Hintergrund war die in der HRK gewachsene Einsicht, dass sich das Hochschulwesen in Deutschland stärker wettbewerblich orientieren muss und hierfür geeignete Instrumentarien zu entwickeln sind“ (HRK 2012). Das laut HRK „geeignete Instrumentarium“ ist das CHE-Hochschulranking. Die HRK hat sich damit unmissverständlich auf die Seite des weltlichen Pols im akademischen Feld gestellt. Auf dieser Seite stehen die Universitäten unter der neoliberalen Reformagenda in einem verstärkten Kampf um mediale Sichtbarkeit, Einfluss in der politischen Arena und Geld im ökonomischen Wettbewerb um Drittmittel. In diesen Kämpfen überlagern die Gesetzmäßigkeiten der medialen Erzeugung von Aufmerksamkeit, der politischen Einflussnahme und der Erringung ökonomischer Wettbewerbsvorteile die Praxis von Hochschulbildung und –forschung. Weil diese weltliche Seite des akademischen Feldes enorm an Gewicht gewonnen hat und einstige Treuhänder der Wissenschaft wie die HRK und die Hochschulleitungen die Seite gewechselt haben und zu Protagonisten eines Verdrängungswettbewerbs geworden sind, hängt die Erhaltung der Autonomie der Wissenschaft umso mehr von ihren genuinen Trägerinnen, von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften ab. Genau dieser Herausforderung hat sich der DGS-Vorstand mit seiner Empfehlung gestellt, aus dem CHE-Ranking auszusteigen. Als Fachgesellschaft steht die DGS auf der Seite des autonomen Pols des wissenschaftlichen Feldes und liegt damit im Konflikt mit Hochschulleitungen und HRK auf der Seite des weltlichen Pols.

Die Agenda der Fachgesellschaften: Verteidigung der Autonomie der Wissenschaft

Beim Kampf gegen das Diktat von Rankings geht es nicht nur um behebbare methodische Mängel, sondern viel grundsätzlicher darum, ob sich die Fachdisziplinen einen wissenschaftsfremden Distinktionskampf aufzwingen lassen wollen, der nur wenige Gewinner, aber viele Verlierer kennt und Wissenschaft und Bildung daran hindert, ihre genuinen Aufgaben zu erfüllen. Das gilt national und weltweit. Die Drohung des CHE, dass das weltweite QS-Ranking so oder so die Hierarchisierung von Wissenschaft und Bildung betreiben wird, sollte als solche verstanden und angenommen werden. Das wäre eine Aufgabe für die International Sociological Association. Die DGS ist als Fachgesellschaft die geborene Treuhänderin von Wissenschaft und Bildung. Es ist ihre Aufgabe, für deren Autonomie und gegen deren Usurpation durch wissenschafts- und bildungsfremde Interessen zu kämpfen (Bourdieu 1975; Bourdieu und Wacquant 2006: 212-237). Weder von Regierungen noch von den Universitäten kann das erwartet werden. Regierungen verfolgen politische Interessen und instrumentalisieren Wissenschaft und Bildung zwangsläufig für diese Interessen. Sie kreieren z.B. Leuchttürme, um im politischen Standortwettbewerb zu punkten. Dieses Interesse ist nicht identisch mit dem Interesse am Erkenntnisfortschritt und an einer bestmöglichen Bildung für alle. Die Universitäten sind durch das Einfrieren oder sogar Schrumpfen der Grundausstattung und den Ausbau der Drittmittelförderung in der Tendenz in Unternehmen transformiert worden, die ein Interesse an der Akkumulation von Wettbewerbsvorteilen und der Distanzierung von Konkurrenten haben. Auch dieses Interesse ist nicht identisch mit der Förderung von Erkenntnisfortschritt und Bildung per se. Weil Politik und unternehmerische Universitäten das Feld von Wissenschaft und Bildung in neuer Weise fremden Interessen unterwerfen, sind die Fachgesellschaften umso mehr herausgefordert, die Autonomie der Wissenschaft zur Geltung zu bringen.

Rankings bedienen das Interesse der Medien, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Leser zu gewinnen, das Interesse der Politik, im Standortwettbewerb durch die Investition in Leuchttürme mitzuhalten und das Interesse von unternehmerischen Universitäten, sich durch die Investition in ihre eigenen Leuchtturm-Fächer gut zu positionieren. Sie erzeugen dabei wenige Gewinner und viele Verlierer. Zu den Verlierern zählt auch die Wissenschaft selbst, weil Rankings die ideale Sprechsituation (Habermas 1971) als Grundbedingung des wissenschaftlichen Diskurses aushebeln. Sie bieten sich als Heilsbringer in einer angeblich völlig unübersichtlich gewordenen Welt an und versprechen eine „objektivierte“ Reduktion von Komplexität als sichere Entscheidungsgrundlage für Studieninteressierte, Hochschulleitungen und Regierungen. Das Medikament, das sie dem angeblich von der Informationsflut überforderten Patienten verabreichen, zerstört jedoch die eigenen Lebenskräfte des angeblichen Patienten. Es verursacht eine Art Seuche, die das ganze Wissenschaftssystem befällt und es seiner inneren Funktionsfähigkeit beraubt. Der angebliche Helfer erweist sich als ein Diktator, der Forschung und Lehre sein eigenes Spiel aufzwingt. Wenn die Wissenschaft ihre Autonomie wiedergewinnen will, muss sie sich von der Diktatur der Rankings befreien. Weil Politik und Universitäten in ihrem Interesse an der instrumentellen Nutzung der Wissenschaft für ihre eigenen, wissenschaftsfremden Interessen als Komplizen der Rankings agieren, sind die Fachgesellschaften als genuine Treuhänder der Wissenschaft, deren Interesse allein der Förderung des Erkenntnisfortschritts gelten kann, umso mehr herausgefordert, dagegenzuhalten. Das heißt, sich der Oktroyierung von Rankings zu widersetzen und dabei auch den Konflikt mit Hochschulleitungen und Ministerien nicht zu scheuen. Im Interesse der Autonomie der Wissenschaft ist es ihre Pflicht, diesen Konflikt auszutragen.

Für die Forscher und Lehrer entstehen Loyalitätskonflikte neuer Art. Die unternehmerische Universität nimmt ihnen ein Stück ihrer Freiheit der Forschung und Lehre, die sie nach bestem Wissen und Gewissen nach den Maßstäben ihrer Fachgesellschaften ausgeübt haben. Sie macht sie in der Tendenz zu weisungsgebundenen Angestellten eines Betriebs, dessen Interesse die durch Rankings dokumentierte Positionierung im Wettbewerb mit anderen Universitäten ist. Aus genau diesem Grund arbeitet die Hochschulrektorenkonferenz mit dem CHE zusammen. In der Tat werden Forscherinnen und Forscher ja auch verstärkt in den Wettbewerb gegeneinander um allerlei Trophäen geschickt. Dabei geht auch ein gewisses Maß an Kollegialität und damit an wechselseitigem Vertrauen verloren, eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren der Wissenschaft.

Der DGS-Vorstand hat das richtige Zeichen gesetzt. Er erinnert seine Mitglieder mit diesem Zeichen auch daran, dass sie nicht nur Angestellte eines Betriebs sind, sondern eine Verantwortung für die Wissenschaft jenseits betrieblicher Interessen haben. Diese Verantwortung wahrzunehmen, ist die genuine Aufgabe der Fachgesellschaften.

Literatur

Bourdieu, Pierre. 1975. The Specifity of the scientific field and the social conditions of the progress of reason. In: Social Science Information 14 (6), S. 19-47
Bourdieu, Pierre und Loïc Wacquant. 2006. Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen. 1971. Vorbereitende Bemerkungen zu eine Theorie der kommunikativen „Kompetenz“. In: J. Habermas und N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 101- 141.
HRK (Hochschulrektorenkonferenz). 2012. Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). http://www.hrk.de/de/projekte_und_initiativen/117.php. Abgerufen am 30.07.2012.

12 Gedanken zu „Der Kampf um die Autonomie der Wissenschaft. Wie Rankings die Wissenschaft für externe Interessen instrumentalisieren und die wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausfordern“

  1. Sehr geehrter Herr Prof. Münch,

    dass der Vorstand der DGS eine kritische Position zum CHE-Ranking eingenommen hat ist wirklich zu begrüßen.
    Aber was möchte diese Fachgesellschaft mir mitteilen, wenn sie auf der einen Seite die Einbeziehung in ein System numerischer Bewertung kritisiert (CHE, Mitteilung vom 27.06.2012: Wissenschaftliche Evaluation ja – CHE Ranking nein) und zeitgleich auf der anderen Seite bejubelt (Pressemitteilung auf der Startseite online bis zum 2.8.2012: Erstmals deutsche kommunikationswissenschaftliche Fachzeitschrift in den renommierten Social Science Citation Index (SSCI) aufgenommen) ?

    Oder ist dies ihrer Meinung nach eine unzulässige Gegenüberstellung?

    herzliche Grüße

    1. Sehr geehrter Kommentator,

      Sie haben recht, wenn Sie sagen wollen, dass der SSCI ein Instrument ist, mit dessen Hilfe Rankings der verschiedensten Art erstellt werden können, deren Einseitigkeit insbesondere darin besteht, dass angelsächsische Forschung und Forschungstraditionen weit überrepräsentiert sind. Die erst jetzt erfolgte Aufnahme einer schon im 36. Jahrgang in Deutschland herausgegebenen kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschrift ist ein aktueller Beweis dafür. Man muss, wie die Herausgeber es kundtun, schon dankbar sein, wenn das überhaupt geschieht, weil der SSCI das Feld beherrscht und definiert, was Sozialwissenschaft ist. Alles, was außerhalb des SSCI publiziert wird, ist angesichts der Definitionsmacht des SSCI nicht existent. Dass auf der DGS-Homepage die entsprechende Pressemitteilung des herausgebenden Instituts wiedergegeben wird, lese ich nicht direkt als ein Unterstützung von Rankings, die den SSCI nutzen, sondern als eine Wiedergabe eines Geschehens, über das wir uns unsere eigenen Gedanken machen können. Gejubelt hat ja nicht die DGS, sondern das herausgebende Institut, das aus seiner Sicht zurecht glücklich über einen gewonnenen Punkt im internationalen Kampf um Sichtbarkeit ist und dies mitteilt, um diesen Erfolg in der Fachöffentlichkeit sichtbar zu machen. Wer das im Kampf um Sichtbarkeit nicht tut, geht unter.

      Herzliche Grüße
      Richard Münch

  2. Sehr geehrter Richard Münch, auch in diesem Beitrag wird deutlich, das Wissenschaftlerinnen und -schafftler selbst aktiv an dem „change management“ in ihren Universitäten beteiligt sind. Sie stellen ja sehr ausführlich die Beteiligung der HRK dar, die sich in Ihren Augen als Follower der „Isomorphiezwänge der global wirksamen neoliberalen Reformagenda“ erweist. Außerdem lese ich Ihren Text so, dass Sie sehr wohl für Distinktionskämpfe sind, aber nicht für wissenschaftsfremd initiierte. Zur Rechtfertigung dieser Forderung unterstellen Sie für Wissenschaft unter Rekurs auf Habermas eine „ideale Sprechsituation“. Muss denn diese Diskussion mit so vielen Idealtypisierungen geführt werden? Was ist denn mit der Aufforderung „Wissenschaft neu denken“ (Nowotny u.a.)?

    1. Sehr geehrte Katrin Späte,

      Nowotny, Scott und Gibbons ziehen in „Wissenschaft neu denken“ aus der Beobachtung von Fällen der Überschneidung von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit völlig unhaltbare wissenschafts- und gesellschaftstheoretische Schlüsse. Sie stülpen ihren Beobachtungen das Konzept der Ko-Evolution von Gesellschaft und Wissenschaft über und generalisieren empirische Fälle zu einer scheinbar unausweichlichen neuen Stufe der sozio-kulturellen Evolution hoch. Das ist methodisch völlig unzulässig und gesellschaftstheoretisch Nonsens. Durch die evolutionstheoretische Überhöhung empirischer Einzelfälle wird ihre Analyse zur reinen Affirmation gegebener Verhältnisse, zu denen es scheinbar keine Alternative gibt. Auch wenn sich Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit in der Agora überschneiden und in der Agora „sozial robustes“ Wissen gefertigt wird, gibt es ja immer noch Wissenschaft außerhalb der Agora. Diesen autonomen Pol der Wissenschaft auch noch der Agora zu übergeben, würde doch schlicht bedeuten, dass die Wissenschaft jegliche Aufklärungsfunktion verlieren würde, kein nach wissenschaftlichen Kriterien generiertes wissenschaftliches Wissen mehr das in der Agora verkrustete Wissen verändern könnte. Alles wäre nur noch eine Soße, Wahres und Falsches nicht mehr unterscheidbar. Das wäre nicht Evolution, sondern Regression. Deshalb halte ich von “ Wissenschaft neu denken“ nichts.

      In meinem Essay wollte ich darauf aufmerksam machen, dass die unternehmerische Universität eine neue Dynamik am weltlichen Pol des wissenschaftlichen Feldes entfaltet, aufgrund derer die wissenschaftlichen Fachgesellschaften umso mehr herausgefordert sind, Gegenkräfte am autonomen Pol zu mobilisieren, wenn die Wissenschaft noch einen epistemologischen Kern der Generierung von wissenschaftlichem Wissen nach wissenschaftlichen Kriterien bewahren soll. Um das zu verstehen, helfen Nowotny et al. überhaupt nicht, aber Habermas` Idealtypus der idealen Sprechsituation als regulative Idee und Bourdieus Konzept einer Realpolitik der Vernunft sehr wohl.

      Um wissenschaftliche Distinktionskämpfe gut zu verstehen, hilft Bourdieus Konzept der symbolischen Ökonomie und seine Unterscheidung des autonomen Pols vom weltlichen Pol des wissenschaftlichen Feldes. So weit wir gut sozialisierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind und die wissenschaftliche Fachgesellschaft darüber wacht, treibt uns am autonomen Pol die Neugierde nach neuer Erkenntnis an. Veröffentlichen wir die Ergebnisse unserer Forschung, dann ist das ein Geschenk für die wissenschaftliche Gemeinschaft, für das wir keine direkte Belohnung erhalten und auch nicht wollen. Wir bekommen aber Einladungen zu Vorträgen und werden zitiert. Das sind Gegengeschenke, die zu Anerkennung verallgemeinert werden. Es sind aber keine direkten Belohnungen, die wir vertragsmäßig einfordern könnten. Das ist die eine Wahrheit. Die andere Wahrheit besteht darin, dass wir forschen und veröffentlichen, um Anerkennung zu bekommen. Das motiviert zu wissenschaftlichen Distinktionskämpfen. Damit dadurch die Wissenschaft nicht zu weitgehend externen Interessen am weltlichen Pol unterworfen wird, müssen uns Regeln dazu zwingen, für alles, was wir tun, verallgemeinerbare Gründe anführen zu können. Es muss Institutionen geben, die dafür sorgen, dass Waffengleichheit besteht, die ideale Sprechsituation als regulative Idee dient, Monopole verhindert werden. Das ist die Realpolitik der Vernunft, die immer wieder in die Distinktionskämpfe eingreift. Von der unternehmerischen Universität ist das nicht zu erwarten, von den Fachgesellschaften aber nach wie vor. Deshalb fällt ihnen eine außerordentlich wichtige regulative Rolle in diesen Kämpfen zu.

      Viele Grüße
      Richard Münch

    1. Vielen Dank für diesen interessanten Link! Es beginnt sich Widerstand gegen das Diktat von Rankings zu formieren. Wann folgen andere Fachgesellschaften dem Beispiel der DGS?

  3. Hier legen Osterloh & Kieser nochmal Ihre Position gegen die absurde Argumentation der Handelsblatt-Journalisten dar, die jede Kritik an ihnen zurück in das System Wissenschaft verweisen, ohne zu verstehen, dass sie mit ihrem Handeln genau dieses ganz entscheidend beeinflussen: http://handelsblattranking.wordpress.com/

    Aber, Herr Münch, auch wenn diese Entwicklungen im Einzelnen positiv sind: Wir sollten Sie nicht überschätzen. Beide – Osterloh & Kieser – haben lange Forschungskarrieren hinter sich, sind mittlerweile emeritiert und können es sich leisten, Kritik dieser Art anzubringen. Ansonsten sehe ich da in Deutschland leider nur sehr viel „beating the index“, also die Maximierung der Erfolgsgrößen, die in Rankings gemessen werden (http://blog.handelsblatt.com/handelsblog/2012/08/25/zwei-weitere-lichtenthaler-aufsatze-zuruckgezogen/).

    (PS: Haben Sie mal überlegt, auch nach „Ihren zwei Monaten“ weiter zu bloggen? — Der Teil der Wissenschaftscommunity, dersich online organisiert, könnte von Ihren Beiträgen nur profitieren.)

    1. Ja, überschätzen sollte man die Wirkung des Aufrufs von Kieser und Osterloh nicht, aber die Liste derjenigen, die den Aufruf unterzeichnet haben, ist nicht gerade kurz.

      Die zwei Monate bloggen für die DGS waren eine interessante Erfahrung, die tatsächlich Interesse am weiteren Bloggen geweckt hat. Ich muss mal sehen, ob sich das einrichten und mit den sonst üblichen Tätigkeiten koordinieren lässt, denn es verlangt doch nicht wenig Zeit und Aufmerksamkeit.

  4. Als ich gestern den Link postete, lag mir die Liste der Unterstützer noch nicht vor. Über die fast 250 Unterschriften war ich dann in der Tat sehr erstaunt. Wer hätte damit in der BWL gerechnet? Vielleicht möchten Sie oder die DGS die Initiative ja begrüßen, die Ausgangspunkte und Argumente sind zumindest in beiden Debatten sehr ähnlich. Das wäre dann mithin einer erste Schritt des gemeinsamen Widerstandes, den Sie oben ansprechen.

    Sie haben Ihren „Job“ als Blogger hier sehr ernst genommen. Wenn Sie in Zukunft nebenbei bloggen würden, erwartet niemand von Ihnen, dass Sie das auf SozBlog-Niveau tun. Aber ab und zu Ihre Perspektive auf aktuelle Phänomene zu lesen, das wäre interessant. Überlegen Sie es sich.

    1. Die Initiative der Kolleginnen und Kollegen der BWL begrüße ich auf jeden Fall. Sie ist mutig und geht mit gutem Beispiel voran. Ich bin jetzt gespannt, wie sich die Fachgesellschaft der BWL dazu äußert. Erst danach könnte sich die DGS zu Wort melden. Das weitere Bloggen werde ich im Auge behalten. Vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Blogs und Ihre weiterführenden Kommentare!

  5. Wenn Sie Ihre Unterstützung vor Ort im Blog der Initiative formulierten, wäre die Resonanz sicherlich größer. Außerdem könnten Sie die Diskutierenden auch auf Ihre vier Beiträge hier verweisen — und würden gleichzeitig auch weitere Diskussionen hier anregen ;-)

    Wenn Sie noch Anregungen oder Argumente brauchen, warum Sie weiterbloggen sollten, brauchen Sie ja gar nicht so weit schauen: Z.B. zu Ihrem ehemaligen Doktoranden http://www.schmidtmitdete.de. Oder Sie schauen bei Fritz B. Simon (http://www.carl-auer.de/blog/), Anatol Stefanowitsch (http://www.scilogs.de/wblogs/blog/sprachlog), Werner Nienhüser (http://employmentrelations.wordpress.com/) etc. vorbei.

Kommentare sind geschlossen.