Einseitigkeit – die Zweite

In meinem ersten Blog-Beitrag habe ich für mehr Einseitigkeit geworben. Ich möchte in diesem zweiten Beitrag nun einige Andeutungen machen, welche Folgen eine solche Einseitigkeit für das hat, was ich im ersten Beitrag referiert habe: bei der theoretischen Bestimmung eines Gesellschaftsbegriffs tatsächlich einseitig differenzierungstheoretisch zu argumentieren. Die Differenzierungstheorie, genauer: die Theorie funktionaler Differenzierung wird meistens nicht als eine theoretische Problemlösungsfigur rezipiert, sondern als so etwas wie eine lebensweltlich anschlussfähige Erfahrung von Perspektivendifferenz, Arbeitsteilung, Gegeneinander von Professionen usw. All das ist der Soziologie lange bekannt – und aus differenzierungstheoretischer Perspektive sind all das gewissermaßen Nebenfolgen dessen, was man systemtheoretisch beschreiben kann.

Was der Soziologie offensichtlich wenig plausibel erscheint, ist das Problem der operativen Schließung von Funktionssystemen. In der soziologischen Fachdiskussion wird deshalb gerade das, was eine systemtheoretische Soziologie auszeichnet, schlicht weggelassen – oder aber von einer systemtheoretischen Orthodoxie einfach zitiert, ohne auf die Folgen abzustellen, die solche Begriffsumstellungen haben. Deshalb hier einige sehr einseitige Beschreibungen:

Dass etwa das ökonomische Funktionssystem ausschließlich durch die Zuweisung positiver (zahlen) und negativer (nicht zahlen) Codewerte geschlossen wird, klingt auf den ersten Blick tatsächlich kontraintuitiv, können wir doch genau beobachten, dass sich Akteure auf ökonomischen Feldern über ganz andere Fragen Gedanken machen. Die operative Geschlossenheit dagegen sieht so aus, als sei das System ausschließlich auf sich selbst geworfen und damit nicht zu Außenkontakt in der Lage. Aber das systemtheoretisch Interessante ist doch eher die Frage, wie die operative Schließung des Systems Offenheit erzeugt.

Codierte Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Anschlussstellen, also die Fortsetzung ihrer Operationsweise ausschließlich in der Zuweisung von positiven oder negativen Code-Werten zu sehen sind. Um ausdifferenzierte Systeme handelt es sich nicht nur deshalb, weil in ihnen die Welt nur in Form von Eigenprojektionen der Codes vorkommt, sondern vor allem deshalb, weil diese stets an Operationen des eigenen Systems anschließen. Mit anderen Worten: Gerade weil es sich bei den modernen Funktionssystemen um codierte Systeme handelt, fehlt ihnen eine eingebaute Stoppregel und damit die Fähigkeit einer besseren Konditionierung der eignen Zukunft und der Koordination mit anderen Funktionssystemen auf der Ebene der Codierung. Die einzige Stoppregel, die codierte Systeme kennen könnten, ist die, dass sie sich nur innerhalb des Codes bewegen können – selbst wenn semantisch und aus der Perspektive der Selbstbeschreibung von Akteuren etwas anderes beabsichtigt wird. So kann man ethische, religiöse, politische oder künstlerische Folgen mit einer Zahlung intendieren und wird solche Folgen auch hervorbringen, die Zahlung selbst aber findet ihre Erfolgsbedingung im Systemzusammenhang anderer Zahlungen, so dass auch die beste Intention keine Zahlungsfähigkeit herstellen kann, wenn die Folgen einer Zahlung oder Nicht-Zahlung das nicht hergeben. Das mag befremdlich klingen, bildet aber exakt den Sog ab, den Funktionssysteme der modernen Gesellschaft erzeugen, wenn Operationen ihren Code und ihr symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium verwenden. Das bedeutet auch, dass die Anschlusslogiken der Funktionssysteme in der Weise generalisiert sind, dass es keine Zahlung gibt, die sich der Autopoiesis von Zahlungsketten entziehen kann, wie auch politische Entscheidungen stets für kollektiv bindende Wirkung sorgen müssen oder Wissenschaft sich an Wahrheitsfragen halten muss. Die besondere Eigendynamik solcher Systeme ist es, die die Erfolgsbedingung der Moderne ausmacht: dass sich die auf sich selbst verwiesenen Operationen tatsächlich von flankierenden semantischen  Irritationen unabhängig machen können. Aus diesem Sog scheint es kein Entrinnen zu geben.

Wenn es stimmt, dass stratifizierte Gesellschaften die Komplexität semantischer Autonomisierungen in Wissenschaft, Ökonomie, Politik, Kunst und sogar Religion nicht mehr mit dem eigenen funktionalen Schema der Stratifikation und Hierarchisierung bewältigen konnte, tritt das funktionale Bezugsproblem der Umstellung auf funktionale Differenzierung erst ins Rampenlicht. Das Bezugsproblem besteht dann darin, Komplexität dadurch zu bewältigen, dass sich autonome Formen von Anschlussfähigkeiten und damit von Systembildung herausgebildet haben. Die Erfolgsbedingungen der einzelnen Funktionssysteme richteten sich dann an internen Anschlussbedingungen aus, die sich von anderen operativ unabhängig gemacht haben. Die Umstellung auf codierte Funktionssysteme hatte den Vorteil, Anschlussfähigkeiten zum Teil auch gegen semantische und intentionale Ansprüche zu sichern. So kann man dann politisch wollen, was man will, bleibt aber gebunden an die Erfolgsbedingungen des Politischen, sachlichen, zeitlichen und sozialen Sinn an der Funktion des Politischen auszurichten, nämlich an der Frage kollektiv bindender Entscheidungen. Und auch ökonomisch kann man wollen, was man will, nur bleibt es eben gebunden an die Funktion des Knappheitsausgleichs – ob man will oder nicht. Die Codierung verselbständigt sich von den Akteuren – weswegen die Systemtheorie eben keine akteurszentrierte Theorie ist, übrigens nur deshalb, um den Akteur und sein Vermögen wirklich ernst zu nehmen.

Nur weil der Code so simpel ist, kann entsprechende Komplexität aufgebaut werden. Vielleicht treffen wir hier auf den eigentlichen Ertrag dessen, was die Theorie funktionaler Differenzierung wirklich wissenschaftlich interessant macht. Funktionale Differenzierung meint eben nicht so etwas wie eine Differenz kultureller Wertsphären, auch nicht Arbeitsteilung oder die bloße Differenz von Professionen. Die Theorie funktionaler Differenzierung geht vom Problem der Komplexität der Gesellschaft aus. Sie beschreibt, wie Komplexität durch Einfachheit reduziert und ermöglicht wird. Die Codierungen sind geradezu provokativ simpel – gerade deshalb können sie der Komplexität der modernen Welt entgegenkommen. Die unfassbare Formenvielfalt des modernen Kapitalismus etwa ist ein Resultat seines im Vergleich dazu simplen Erfolgsmodus. Und die Pluralisierung politischer Interessen, Lösungshorizonte und Programme ist nur möglich, weil dahinter ein sehr simpler Mechanismus von Machterwerb und –verlust steht, vor dem politische Rede erst als politische Rede dechiffrierbar wird. Die Schließung dieser Funktionssysteme ist deshalb in ganz und gar radikaler Weise ausschließlich als operative Schließung zu sehen, nicht als semantische oder organisatorische Schließung. Deshalb muss man die Selbstbeschreibungen von Funktionssystemen und ihre Operationsweise auch unterscheiden, um den systemtheoretischen Sinn der Differenzierungstheorie zu verstehen.

Was mir vorschwebt, ist eine Theorie der Unentrinnbarkeit: Zahlungen werden stets auf Zahlungen verweisen und ihre Erfolgsbedingung darin finden. Politische Entscheidungen müssen ihre Plausibilität stets in kollektiver Verbindlichkeit finden. Wissenschaftliche Kommunikation kann nicht anders, als sich an Wahrheitsfragen scharfzustellen. Massenmedien folgen der simplen Logik von Informationswerten. Und religiöse Kommunikation wird sich stets mit Bestimmtheit auf Unbestimmtheit beziehen und auf Unbeobachtbares verweisen. Das alles ist empirisch völlig kontraintuitiv, weil es eben nur die Anschlussebene codierter Systeme ist. Aber man kann es dort beobachten, wo der Sog der entsprechenden Erfolgsbedingung der Funktionssysteme Unentrinnbarkeiten erzeugt. Am Ökonomischen lässt es sich am deutlichsten zeigen: Zahlungen und Nicht-Zahlungen schließen sich in der Kumulation ihrer eigenen Selbstreferenz (was wir bereits aus Marx’ Kreislauftheorie des Ökonomischen kennen – vgl. dazu eine sehr luzide Rekonstruktion von Marx aus der Perspektive der Differenzierungstheorie von Hauke Brunkhorst im nächsten Heft der Sozialen Welt) und erzeugen dann merkwürdige Differenzierungsfolgen.

Die besondere Potenz dieser auf Geldwirtschaft und dezentrale Organisation setzende Form des Wirtschaftens, vulgo bekannt als „Kapitalismus“, besteht wohl darin, dass Knappheitsausgleich von anderen Funktionen unabhängig gemacht werden konnte. Das Geld ist ein geschichts- und gesichtsloses Medium, weil man ihm nicht ansieht, wo es her kommt und wo es hin geht. Geld ist das vielleicht simpelste Medium, weil es wenig Interpretationsspielraum hinterlässt. Es kann harte Faktizitäten simulieren und lässt sich in alle möglichen Waren, Dienstleistungen, Erlebnisse usw. übersetzen, wenn man nur zahlen kann. Doch dabei folgt es wieder nur seiner eigenen Logik. Deshalb war dieses besonders potente Medium auch nie in der Lage, gesellschaftliche Probleme zu lösen – und war deshalb der entscheidende Kulminationspunkt für Kritik. Der Markt kann alleine keine Ordnung schaffen, er kann keine Bevölkerungen versorgen, kann nicht für Gerechtigkeit sorgen, ist nicht daran interessiert, wie Güter und Möglichkeiten distribuiert werden. All das interessiert den Markt deshalb nicht, weil sich das letztlich nicht ökonomisch im engeren Sinne darstellen lässt. Der Markt der Ökonomie ist insofern tatsächlich ein operativ geschlossenes System von Zahlungen, die wiederum Folgen haben – für Zahlungen.

Und wenn man das analog für andere Funktionssysteme rekonstruiert, erhält man ein Instrumentarium, mit dem man verstehen kann, warum sich die Selbstbeschreibungen, in denen sich die moderne Gesellschaft üblicherweise einrichtet, die Einfachheit der codierten Systeme nicht erreichen kann, weil deren Einfachheit nur möglich ist, wenn sie durch komplexe Programmierungen und Semantiken aufrechterhalten wird. Die Beschreibung der Ökonomie durch Marx hatte den Vorteil, die Verselbständigung des Geld- und Wertkreislaufs und seine Folgen beschrieben zu können. Der Nachteil dieser Beschreibung ist, dass Marx – man nehme einfach das „Manifest“ von 1848 noch einmal zur Hand – am Ende die Ungleichheitsfolgen der Ökonomie durch Gleichheitszumutungen des Politischen heilen wollte, anstatt zu sehen, dass dies nur zu ähnlich paradoxen Folgen nun des Politischen führen musste (mit das Klügste dazu ist nachzulesen bei Heinz Bude: Wie weiter mit Marx?, Hamburg 2008). Aber die Denkfigur ist nach wie vor beispielhaft: Was geschieht, wenn Paradoxien der Selbstbezüglichkeit zu Instabilitäten führen? Und wie reagiert der semantische Haushalt der Gesellschaft darauf?

Solche Fragen werde ich – unter dem Stichwort „Krise“ in meinem nächsten Beitrag behandeln. Der übernächste wird die Unterscheidung zwischen semantischen und operativen grenzen zwischen Funktionssystemen thematisieren, und ein weiterer wird dann „Ungleichheit“ und „Kultur“ in den Blick nehmen – die beiden Topoi, die Schimank in seinem in meinem ersten Beitrag zitierten Vortrag ins Feld geführt hat. Die nächsten Beiträge werden übrigens nicht so lange auf sich warten lassen wie dieser.

Ein Gedanke zu „Einseitigkeit – die Zweite“

  1. Systemtheorie ist eben weitaus mehr als die Erkenntnis, dass es verschiedene Blickwinkel auf die Welt geben kann. Die Kommunikation folgt bestimmten Mechanismen und bildet schließlich operativ geschlossene Blasen um der steigenden Komplexität Herr zu werden, egal, was der Mensch, der da spricht, sich dabei gedacht hat.
    Für mich eine Theorie mit enormem Erklärungspotential.

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