Einseitigkeit – die Dritte

In meinem zweiten Blog-Eintrag habe ich darauf hingewiesen, dass die Theorie funktionaler Differenzierung nicht einfach Perspektivendifferenz oder die Differenz kultureller Wertsphären im Blick hat, auf die man sich womöglich verständigen könnte. Letztlich scheint die moderne Gesellschaft gar keine Kommunikations- und Reflexionsmöglichkeiten dafür zu haben, die Folgen des so simplen Mechanismus codierter Systeme kommunikativ zu bewältigen. Man kann sich dann nur in Narrativen der Gesellschaft einrichten, die selbst wiederum starke Vereinfachungen sein müssen, mit denen man sich einen Reim auf die Komplexität der Gesellschaft macht. Die wirksamsten Narrative waren ohne Zweifel diejenigen, die semantisch die Funktionen des politischen und dann des ökonomischen Funktionssystems in Anspruch genommen haben (mein nächster Beitrag wird das Verhältnis von semantischen und operativen Grenzen von Funktionssystemen in den Blick nehmen).

Diese semantischen Optionssteigerungen haben die Gesellschaft mit Selbstbeschreibungstools versorgt, die in der Lage waren, die Programmierung anderer Funktionssysteme entsprechend zu infizieren – mit krisenhaften Folgen, die ich im folgenden erläutern möchte (ich nehme Grundgedanken eines ausführlichen Beitrags aus dem nächsten Heft der Sozialen Welt vorweg, mit dem wir eine Debatte über „Ökonomisierung“ anstoßen wollen).

Funktionale Differenzierung ist die funktionale Lösung für das Komplexitätsproblem, das mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung bewältigt wird. Es besteht, wie in meinem zweiten Blog-eintrag entwickelt, darin, dass sich Anschlüsse von externen und internen Stoppregeln unabhängig machen.

Diese Lösung ist aber zugleich das Problem. Die Codierung ist so niedrigschwellig gebaut, dass letztlich alles, was geschieht, Beobachtungsanlass für die Funktionssysteme wird: Letztlich kann alles, was unter der Sonne geschieht, politisch, rechtsförmig, religiös, wissenschaftlich, künstlerisch oder pädagogisch verarbeitet werden und lässt Optionen für weiteres Verhalten nie knapp werden, denn exakt dafür haben sie sich ausdifferenziert: Anschlüsse weniger unwahrscheinlich zu machen. Funktionssysteme, deren einzige Existenz-, besser: Operationsbedingung die Anwendung ihres Codes ist, verlieren gewissermaßen die Selbstkontrolle, weil sie aus ihrem Code nicht ausbrechen können.

Beispiele dafür lassen sich mannigfaltig finden: Wissenschaft kann wissenschaftliche Erkenntnisse nicht vermeiden oder aktiv vergessen, deshalb wird man weder die Kernspaltung noch die Systemtheorie wieder los und deshalb verlieren wissenschaftliche Perspektiven auch an Konvergenz mit sogenannten lebensweltlichen Perspektiven; medizinischer Fortschritt führt zu medizinischen Optionssteigerungen, die im Kontakt mit medizinischen Nachfragern kaum mehr auf Verständnis, geschweige denn auf eingelebte Rituale treffen, man denke nur an den gesamten Fragenkomplex der Intensivmedizin oder der Todeszeitbestimmung zwecks Organtransplantation; ökonomische Prozesse haben sich teilweise völlig vom Warenverkehr und von der Warenproduktion abgekoppelt und greifen auf Optionen eines geradezu virtuellen Geldverkehrs zu, der sich von wirtschaftlichen Bedürfnissen ganzer Volkswirtschaften abgekoppelt hat; die technische Entwicklung greift auf Optionen zu, die ihrerseits nicht mehr rational zu beherrschen sind, weil sie so komplexe Zeit- und Sachdispositionen auflaufen lassen, dass weder Zeit noch Kenntnis für Entscheidungen bleibt; Politik kann sich letztlich zu keinem Thema enthalten, in dem Macht erworben, gesichert oder verloren werden könnte. Die Quintessenz meiner These lautet also: Codierte Funktionssysteme haben weder externe noch interne Kriterien, die ihre Operationen limitieren könnten, die also ein Maß zur Selbstbeschränkung, zum Verzicht auf Optionen ausbilden oder letztlich zu völliger Transparenz der eigenen Logik führen könnten. Das Fehlen einer Stoppregel gilt wenigstens auf der Ebene der Codierung, die ja in ihrer evolutionär simplen Form gerade funktional dafür sorgen soll, dass das System nicht auf interne Stoppregeln stößt. Das Bezugsproblem war bei der Umstellung von stratifikatorischer Differenzierung gerade die durch Schichtung bedingte Stoppregel, dass Anschlussfähigkeiten stets auf Grenzen stießen, die außerhalb ihrer eigenen Logik lagen.

Die Ausdifferenzierung von Teilsystemen der Gesellschaft am Differenzierungskriterium der Funktionen hat also ein Problem gelöst, das nun seinerseits Folgeprobleme erzeugt. Die Stärke simpler, binärer Codierung wird zu einem Krisenanlass. Und letztlich steht der Gesellschaft wenig Anderes zur Verfügung, als den krisenerzeugenden Mechanismus zu verwenden, um mit der Krise klarzukommen. Wahrscheinlich kommt man nicht umhin, so etwas wie gelungene Vergesellschaftung an eine Art Equilibrium der Funktionen zu binden – was schon aus konzeptionellen Gründen auf Antinomien stößt, denn wo soll der Ort, wo soll die Funktionsstelle sein, an der man für solches Gleichgewicht sorgen soll? Das evolutionstheoretische Design der Differenzierungstheorie kann denn auch zeigen, wie sehr gesellschaftliche Ordnung etwas ist, das durch je gegenwärtige Operationen immer wieder neu hergestellt werden muss. Nicht umsonst hatte Parsons in seinem systemtheoretischen Modell noch so etwas wie eine Integrationsfunktion vorgesehen, um dieses Bezugsproblem zu lösen. Eine operativ gebaute Differenzierungstheorie muss darauf verzichten und Integration im Sinne der Einschränkung der Teile zugunsten eines Ganzen in die Teile selbst verlagern und sie dann zu einer empirischen Frage machen – zu der empirischen Frage, ob die intern nicht sichtbaren Folgen einzelner Optionssteigerungen von andern Funktionssystemen aufgefangen werden können – also etwa die Folgen einer dynamischen Wirtschaft für Güter- und Arbeitsmärkte durch das politische System; die Folgen politischer Steuerungseuphorien durch ein kontrollierendes Rechtssystem; die Folgen wissenschaftlicher Eindeutigkeitszumutungen durch religiöse Formen des Umgang mit Unbestimmtheit usw. All das kann aber stets nur operativ, nur konkret, nur in praxi erzeugt werden, nicht als Strukturkategorie. Gelingt das nicht, kommt es zu krisenhaften Optionssteigerungen, wie man sie stets in solchen Phasen beobachten kann, in denen einzelne Funktionssysteme der Gesellschaft ihre Optionen so stark steigern können, dass sie die Programmierung anderer Funktionssysteme beeinflussen.

Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts von rechts und links etwa können dann – bei aller erheblichen Unterschiedlichkeit, die ich hier vernachlässige – als Optionssteigerungen des Politischen interpretiert werden, die ökonomische, wissenschaftliche, erzieherische, mediale, rechtliche und religiöse Operationen entsprechend programmiert haben, wenigstens in dem Sinne, wie Harrison C. White die netzwerkhafte wechselseitige Beobachtung und Strukturbildung beschreibt, die über die Funktionssysteme hinaus geht (White beschreibt das für das Wirtschaftssystem, aber man kann dies analog für andere Funktionssysteme beschreiben. Übrigens könnte hier eine Auseinandersetzung mit Dirk Baeckers „Nächste Gesellschaft“ anschließen, aber das schließt der Platz hier aus. Also: in nächsten Texten etwas über die „nächste Gesellschaft“). Nur so kann es Funktionssystemen gelingen, ihren Strukturwert für die Gesamtgesellschaft zu erhöhen – und das haben faschistische Regime und der Nationalsozialismus ebenso vermocht wie der real existiert habende Sozialismus kommunistischer Einheitsparteien, eingedenk aller systematischen Unterschiede dieser Bewegungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in ähnliche Krisen geraten, weil sie sich eben nur selbstreferentiell an sich selbst kontrollieren können. Die Folge ist eine Machtkrise, die aus der unkontrollierten Anwendung von Macht resultiert. Ein Indikator dafür ist die Gewaltnähe solcher Regime, die nur ein Ausdruck dafür sind, dass der systeminterne Machtkreislauf gestört ist. Kollektiv bindende Entscheidungen können dann nicht mehr auf die Einsicht und Legitimation durch das Publikum rechnen, sondern müssen gegen das Publikum und durch offene Drohung mit Gewalt durchgesetzt werden, während unter anderen Bedingungen Gewalt nur als abstrakte Drohung vorliegt, nicht als konkrete Wirklichkeit. Jedenfalls lässt sich diese Optionssteigerung des Politischen als krisenhafte Entwicklung beschreiben, weil die Übererfüllung der Funktion die Funktionserfüllung unmöglich macht.

Von einer marxistischen Beschreibung unterscheidet sich dies nur, weil in solchen krisenhaften Entwicklungen aus differenzierungstheoretischer Perspektive keine Notwendigkeit gesehen wird und weil die Folge selbstreferentieller Optionssteigerungen nicht allein auf das ökonomische System bezogen wird. Insofern ist eine solche Perspektive sowohl empirisch tiefenschärfer als auch radikaler, weil sie krisenhafte Verläufe nicht nur ökonomisch denken kann. Denn den Faschismus etwa ausschließlich als Kapitalismusfolge zu interpretieren, scheint doch zu einfach zu sein.

Was wir derzeit als Ökonomisierung bezeichnen, ist dann analog dazu tatsächlich eine Optionssteigerung des Ökonomischen, das die Programmierung anderer Funktionssysteme und Organisationen der Gesellschaft bestimmt, was letztlich nur auf den ersten Blick ein Sieg des Ökonomischen über andere Funktionen ist. Wohlgemerkt: Die Analogie, die ich hier formuliere, ist im Sinne einer funktionalen Äquivalenz zu verstehen, die Selbstbeschreibungen mit macht ausstattet, denen es gelingt, die Funktionssysteme geradezu gewaltsam zu programmieren.

Was wir derzeit beobachten, ist letztlich eine Selbstgefährdung des Ökonomischen durch seine Optionssteigerung. Wie Colin Crouch in seiner Studie Über das befremdliche Überleben des Neoliberalismus (Berlin 2011) gezeigt hat, war es der Keynesianismus selbst, der es der Finanzwirtschaft ermöglicht hat, von staatlicher Ausgabenpolitik so weit zu profitieren, dass sie im Sinne einer monetaristischen Politik ihre volkswirtschaftliche Funktion für die Realwirtschaft eingebüßt hat. „Insofern waren wir alle Komplizen dieses Finanzierungsmodells – was es dem Staat dann noch schwerer machte, in der Krise Gesuche der Banken abzulehnen, die darum baten, man möge doch bitte dabei helfen, wieder auf die Füße zu kommen.“ (Crouch 2011, S. 159) Staaten waren immer auch ökonomische Akteure, aber inzwischen wurde die Beschaffung von Geld dadurch einfacher, dass der Geldmarkt immer flexibler wurde. Paradoxerweise waren die Banken die staatstreuesten Akteure – sie haben trotz aller sog. neoliberalen Semantik den Staaten mehr vertraut als unterprivilegierte Wähler. Der Staat als Kreditnehmer, der sich als Wohlfahrtsstaat Massenloyalität durch teure Versorgung unterschiedlicher Gruppen der Gesellschaft erkauft hat, anstatt lediglich für die Daseinsvorsorge derjenigen zu sorgen, die Unterstützung tatsächlich brauchen, galt per se als kreditwürdig. Banken hatten ein geradezu „sozialistisches“ Verständnis vom Staat: als Adresse immerwährender Zahlungsfähigkeit. Staaten haben sich also genauso an den Finanzmärkten bedient wie private Haushalte auch. Crouch spricht von „Wachstum der Kreditmärkte für Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen“ sowie von der „Entstehung von Märkten für Derivate und Terminkontrakte für Menschen mit großem Vermögen. Diese Kombination brachte einen ‚Keynesianismus der privaten Hand’ hervor, der zunächst zufällig entstand, dann aber von der Politik aufgegriffen und gezielt gefördert wurde. Statt daß der Staat Schulden machte, um die Wirtschaft anzukurbeln, verschuldeten sich Privatleute, nicht zuletzt die, deren Einkommen gering war.“ (Ebd., S. 164) Diese eher auf die USA gemünzte Diagnose gilt strukturell auch für Europa mit seiner stärkeren Staatstätigkeit – aber es zeigt, wie die Ökonomisierung von Semantiken andere Funktionssysteme und Organisationen entsprechend programmieren können. Lapidar schreibt Crouch: „Das Problem ist, daß Banker wie Politiker vom Baum der Erkenntnis der sekundären Märkte gekostet haben.“ (Ebd., S. 175) Die Folgen sind bekannt, und sie wirken sich auf entsprechende Steuerungsmodelle aus – man denke nur an die Steuerung der Forschung an Universitäten durch betriebswirtschaftliche Steuerungstools oder an ökonomische Formen des New Public Management. Dass dies differenzierungstheoretisch keine Entdifferenzierung bedeutet, lässt sich leicht daran erkennen, dass sich nur die Steuerungstools ökonomisch gebärden, nicht aber die Operationen selbst. Noch die ökonomienaheste Semantik an Hochschulen stellt wissenschaftliche (Forschung) und erzieherische (Lehre) Operationen nicht auf die Erfolgsbedingungen des Geldmediums um. Und die Umstellung etwa kommunaler Verwaltungen auf ökonomische Steuerungsmodelle kann nur so weit gehen, wie es sich politisch darstellen lässt, also im Hinblick auf kollektiv bindende Entscheidungen und ihrer (künftig in Wahlen zu ermittelnden) Legitimation.

Optionssteigerungen des Ökonomischen haben also ähnliche Folgen wie diejenigen des politischen Systems im 20. Jahrhundert. Die krisenhafte Zuspitzung auf die Funktionsübererfüllung des Systems – dort Totalpolitisierung der Gesellschaft durch Ausschaltung der negativen Codewerte des Politischen (Opposition), hier Abkoppelung von wirtschaftlichen Operationen durch Abkoppelungen von realwirtschaftlichen Umweltbedingungen vor allem in der Finanzwirtschaft – führt letztlich zu einer Entwertung des Mediums, das dann anders gesichert werden muss. Es ist womöglich keine Übertreibung, folgende Analogie zu bilden: Was in den Optionssteigerungen des Politischen die Anwendung von Gewalt als Sicherung von Macht war, ist in den Optionssteigerungen des Ökonomischen der Finanzbedarf der Banken, der sich nicht mehr wirtschaftlich herstellen lässt, sondern paradoxerweise aus der „Umwelt“ des Systems bezogen werden muss, kommt doch in der Umwelt des Wirtschaftssystems gar kein Geld vor. Gewalt in der Politik macht sichtbar, was sonst unsichtbar bleiben muss: dass im Extremfall die Sanktionsdrohung des Staates jene Ordnung herstellen kann, die vor allem dann reibungslos funktioniert, wenn auf die Drohung verzichtet werden kann (vgl. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 46f.). Der Zusammenbruch von Banken und ihr Finanzbedarf von außen macht sichtbar, wie selbstreferentiell und fragil das Geld letztlich ist und wie sehr sein Wert davon abhängt, dass man von den Bedingungen seines Wertes im operativen Geschäft absehen kann. All das ist die Folge einer Optionssteigerung, die auch das Publikum erfasst hat, dem dies durch semantische Flankierung plausibel gemacht wurde – denn dieses Publikum hat, wie staatliche Akteure auch, seine Unschuld dadurch verloren, dass es „vom Baum der Erkenntnis der sekundären Märkte gekostet“ (Crouch 2011, S. 174) hat, um noch einmal diese gelungene Formulierung von Colin Crouch aufzunehmen.

Funktionale Differenzierung – und dies ist kein Programm oder gar eine politische Idee oder ein Lösungskonzept, sondern schlicht die Grunderfahrung der Moderne, dass die Dinge sich aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich darstellen. Kategorial folgte daraus paradoxerweise zweierlei: zum einen der Verlust einer gesellschaftlichen Zentralperspektive, zum anderen der Bedarf nach einer solchen Perspektive.

Modernität erlebt sich deshalb als Krise, weil sie die Widerständigkeit der Gesellschaft für intervenierende Zugriffe erlebt. Auf politische Rahmenbedingungen reagiert die Ökonomie ökonomisch und konterkariert oft die politische Intention; das Bildungssystem vermag die Probleme nicht so schnell zu lösen, wie es in politischen Öffentlichkeiten oder in Unternehmen gebraucht wird; Wissenschaft erzeugt widersprüchliche Analysen, weil sie eben in erster Linie wissenschaftliche Probleme löst; ökonomische, politische und rechtliche Formen entziehen sich ethischen Begründungsalgorithmen; ökonomische Prosperität und ihre Parameter erzeugen trotzdem ökonomische Not und Ungerechtigkeit. Die Potenz der Moderne besteht gerade darin, dass die unterschiedlichen Logiken ihre gesellschaftliche Bedeutung als eigenlogische Bedeutung ansehen. So ist die enorme Potenz des Marktes und der kapitalistischen Ökonomie tatsächlich ein genialer Problemlöser – aber eben nur unter ökonomischen Aspekten. So kann ökonomischer Erfolg mit wenig sozialverträglichen Folgen einhergehen. Und politischer Erfolg bemisst sich bisweilen am Erfolg innerhalb des politischen Prozesses, nicht daran, ob identifizierte Probleme gelöst worden sind. Auch Wittgensteins berühmte Sentenz, dass die Lösung aller wissenschaftlichen Probleme noch kein Lebensproblem gelöst haben mag, ist in diesem Kontext zu sehen. Insofern erzeugen gerade die mächtigsten Reflexionstheorien auch die naivsten Konzepte über die Gesellschaft. Das neoliberale Paradigma der Lösung aller Probleme durch sparsamen Einsatz von Mitteln und entsprechende Anreizstrukturen ist genauso lächerlich wie der Glaube an die prinzipielle Lösbarkeit aller Probleme durch Partizipation oder die vollständige Ethisierung von Entscheidungsalgorithmen. Die Krisenhaftigkeit der Moderne beruht auf der Erfahrung, dass die Konzepte, über die wir verfügen, offensichtlich nicht hinreichen – wir erleben etwas als krisenhaft, wenn es sich dem handelnden Zugriff im Sinne einer objektiven Gewalt entzieht, die „einem Subjekt ein Stück Souveränität entzieht, die ihm normalerweise zusteht“, wie Jürgen Habermas 1973 in „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ einmal formuliert hat. Das trifft es ziemlich genau – und doch ist diese Formulierung noch von der Idee imprägniert, dass sich Krisenhaftigkeit prinzipiell durch Souveränität überwinden lasse. Wahrscheinlich ist aber die Grundstruktur der Moderne dadurch geprägt, dass exakt diese Souveränität dem Subjekt schon lange nicht mehr zusteht – zumindest nicht in dem Sinne, dass sich die Dinge an das halten, was die Intention des Akteurs gewollt haben könnte. Die Krisenhaftigkeit der Moderne ist deshalb keine objektive Krisenhaftigkeit, sondern eine, die dadurch entsteht, dass diese Gesellschaft nie still steht und nach einer Eigenlogik reagiert, die sich jeglichem Souverän entzieht. Die Moderne ist letztlich unregierbar – und das gilt als Erfahrung komplexer gesellschaftlicher Bereiche ebenso wie für die individuelle Lebensführung.

Ich hoffe, dass das Argument in der Kürze der hier zur Verfügung stehenden Möglichkeiten irgendwie funktioniert. Was fängt man aber damit an? Um eines klarzustellen: Die Moderne für unregierbar zu halten, heißt nicht im geringsten, ein schicksalhaftes Geschehen anzunehmen, dem man sich nicht entziehen kann. Die Moderne ist sehr erfolgreich in Selbstkorrekturen, und gerade weil sie nie stillsteht, entstehen Lösungen und daraus neue Probleme. Dem systemtheoretischen Beobachter wird auch gerne vorgehalten, moralisch ein unsicherer Kantonist zu sein – zu unrecht freilich. Denn es geht hier gerade darum, nicht auf der Ebene der ohne Zweifel diskutierbaren politischen Einflußnahme auf Krisenfolgen zu diskutieren, sondern um etwas Anderes: Es geht um die Frage, den krisenerzeugenden Mechanismus aufzudecken und dafür Beschreibungsfolien zu generieren. Es eghört dabei zum Krseinbild der Moderne dazu, dass sich dies letztlich nur wissenschaftlich/soziologisch auf den Begriff bringen lässt. Eine kontraintuitive, theoriegeleitete Beschreibung dieses Mechanismus zehrt von der Möglichkeit der Selbstgenügsamkeit wissenschaftlicher Erklärungen – und handelt sich dabei das Problem der eigenen Unerreichbarkeit ein. Solche Erklärungen sind unrealistisch, weil sie anders beschreiben. Das ist übrigens ihr Realitätsindex und ihre Unmöglichkeit, dort anschlussfähig zu sein, wo es darum ginge. Für dieses Kommunikationsproblem hat die Soziologie noch keine Lösung gefunden.

4 Gedanken zu „Einseitigkeit – die Dritte“

  1. So ein langer Text – ich habe gar nicht verstanden, was Sie eigentlich erklären. Können Sie ein Beispiel aus Ihrer Forschung geben?

  2. Sehr geehrter Prof. Nassehi,

    mit großem Interesse habe ich Ihre bisherigen Beiträge in diesem Blog verfolgt. Bei der These über die fehlenden Stoppregeln für gesellschaftliche Funktionssysteme habe ich allerdings etwas gestutzt. Hier ist zwar nicht der Platz in der notwendigen Ausführlichkeit darauf einzugehen. Möglicherweise ist es auch zu früh, da im nächsten Beitrag noch behandelt werden soll wie es Funktionssystemen ihre Grenzen ziehen. Trotzdem möchte ich einige Bemerkungen dazu machen.

    Die These ist zum Einen theorieintern – zumindest wenn man auf der Grundlage von Luhmanns soziologischer Systemtheorie argumentiert – problematisch und zum Anderen auch empirisch schwer zu belegen.

    1. Das Fehlen jeglicher Kriterien für Selbstbeschränkungen würde implizieren dass die gesellschaftliche Komplexität sinkt und nicht steigt. Wenn die These auf den Code eines Funktionssystems bezogen wird ohne zu fragen, was die jeweilige Funktion des Systems ist, dann stimmt zwar dass prinzipiell alles mit diesem Code beobachtet werden kann. Das beschreibt aber nur das Problem und nicht dessen Lösung.
    2. Die Lösung liegt in den Programmen der jeweiligen Funktionssysteme. Das heißt danach zu fragen, wie Funktionssysteme Ablehnungsmöglichkeiten einbauen, damit nicht mehr jedes Ereignis systemintern anschlussfähig ist. Ansonsten würde die Optionssteigerung ein System tatsächlich überfordern und zu einer Krise führen.
    3. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene würde das bedeuten danach zu fragen, wie durch den jeweiligen Zweck des Systems erste Einschränkungen eingebaut werden? Hinsichtlich des Wirtschaftssystems würde das z. B. heißen, dass alle Waren und Dienstleistungen die nicht knapp sind keine Relevanz besitzen; hinsichtlich der Politik dass alle Entscheidungsnotwendigkeiten, die nicht alle Menschen innerhalb eines Staatsgebiets betreffen keine Relevanz besitzen. Man könnte auch umgekehrt fragen, warum z. B. die Wissenschaft es ablehnen muss die Frage zu beantworten, ob es Gott gibt?
    4. Weitere Einschränkungen werden dann durch die Konditionalprogrammierungen eingebaut. Ab hier reicht es jedoch nicht sich auf die gesellschaftstheoretische Ebene zu beschränken. Vielmehr muss man hier Organisationen beobachten, wie diese weitere Beschränkungen ihrer Operationsmöglichkeiten einbauen um sich nicht selbst zu überfordern. Eine Firma sollte zumindest wissen ob sie mit Autos oder Kühlschränken Geld machen will. Ein Gericht sollte wissen, ob es über Strafrechtsangelegenheiten oder Sozialrechtsangelegenheiten urteilen will. Und eine Forschungseinrichtung sollte wissen ob es über Quantenphysik oder soziale Prozesse forschen will. Dies verweist bereits auf weitere funktionssysteminterne Differenzierungen. Davon ausgehend können die Organisationen ihre jeweiligen Möglichkeitsspielräume weiter einschränken und mit wenn-dann-Kalkulationen soweit verfeinern, dass sie handlungsfähig bleiben.
    5. In der Konsequenz bedeutet das, es gibt durchaus systeminterne Stoppregeln für die Operationen einzelner Funktionssysteme. Angewendet werden diese Regeln aber von Organisationen. Das muss nicht heißen, dass diese Regeln immer hinsichtlich des jeweiligen Zwecks eines Funktionssystems angemessen sind. Immerhin können die Regeln schon zwischen einzelnen Organisationen variieren. Genauso wenig lässt sich über Konditionierungen völlige Transparenz für die eigene Operationslogik herstellen. Aber es gibt systeminterne Stoppregeln und einzelne Organisationen können sich diese durchaus einsichtig machen. Sie müssen es sogar, denn sonst könnten die Organisationen auch nicht ihrer Umwelt in der Form von Leistungsempfängern deutlich machen, wo die Grenzen der Leistungsfähigkeit sind. Man kann eine Liebesbeziehung nicht einklagen, wenn man einen Korb gekriegt hat. Das müssten Anwälte dann auch deutlich machen, wenn es trotzdem jemand versuchen sollte. Wie könnten sie das, wenn es keine rechtlichen Selbstbeschränkungen gäbe? In der Praxis ließen sich eine Menge weniger absurde Fälle finden bei denen es auf den ersten Blick nicht so eindeutig ist. Es sind sehr feine Konditionierungen notwendig um dann doch eine Entscheidung treffen zu können. Diese ergeben sich aber nicht deduktiv aus dem Code oder dem Zweck sondern aus der Beobachtung der Umwelt bzw. dem daraus entstehenden Selektionsdruck hinsichtlich weiterer Differenzierungen und dem Rückbezug auf das Organisationsziel.

    Ihre These über die fehlenden Selbstbeschränkungen von Funktionssystemen verstehe ich als Reduktion des Strukturbegriffs auf Codes als Minimalstrukturen und einseitige Fokussierung auf den Kommunikationsprozess. War das mit Einseitigkeit gemeint? Diesbezüglich reicht es bereits aus im Rahmen der Systemtheorie auf die semantischen Strukturen in Form von Selbstbeschreibungen und Zweck- & Konditionalprogrammierungen hinzuweisen, welche sich auch leicht in Anwendung beobachten lassen, um berechtigte Zweifel an Ihrer These aufkommen zu lassen. Insofern bin ich neugierig auf den nächsten Beitrag. Vielleicht kann er einige Zweifel ausräumen oder die Gründe für diese Form der Einseitigkeit verständlicher machen. Der Beitrag kommt hoffentlich noch?

    MfG
    BdM

    1. Lieber „Beobachter der Moderne“,

      vielen Dank für den sehr ausführlichen und sehr ertragreichen Kommentar. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich ihn erst bemerkt habe, nachdem die nächsten beiden Blog-Beiträge bereits verfasst und publiziert waren. Deshalb nehme ich erst jetzt dazu Stellung:
      Ich hoffe, dass ich mit meinem vierten Beitrag in dem Sinne argumentiert habe, den Sie angedeutet haben. Sie haben völlig Recht: Es sind die semantischn Programmierungen sowie vor allem Organisationen, die so etwas wie Stoppregeln in die Funktionssysteme einbauen. Und aus der Perspektive etwa von Unternehmen oder staatlichen Organisationen stimmt in der Tat, was Sie sagen: Man muss wissen, ob man in einem Unternehmen Autos oder Kühlschränke produziert werden (ich glaube, Mitsubishi macht beides, oder?); und man muss wissen, welche Art von politischer Agenda man verfolgt. Insofern ist der Strukturwert von Organisationen nicht zu unterschätzen.
      Entscheidend ist aber m.E., dass Funktionssysteme keine Organisationen sind. Nicht umsonst haben politische Großprogramme stets versucht, die Gesellschaft wie eine Organisation zu steuern, man denke etwa an den Sozialismus sowjetischer Prägung, der die Gesellschaft dadurch domestizieren wollte, sie zu organisieren. Auch westliche Versuche, den Kapitalismus zu „zähmen“, haben auf Organisationen gesetzt – nicht auf die Organisation der Gesellschaft, aber auf spezielle Organisationsarrangements, wenn man etwa an den von Michel Albert so genannten „rheinischen Kapitalismus“ denkt.
      Letztlich bleibt der Selbstthematisierung der Gesellschaft gar nichts anderes übrig, als sich auf Zurechnungen an Organisationen zu kaprizieren – aber genau das ist eine semantische Vereinfachung, die überhaupt erst die Narrationsfähigkeit der Gesellschaft verbürgt. Das Surplus, das eine soziologische Beobachtung liefern kann, ist über diese Beschreibungsebene hinauszugehen. Es kommt dann auf eine Verhältnisbestimmung der simplen Codierung und der semantischen und organisatorischen Programmierung an. Die theoretische Leistung besteht darin, diesen Zusammenhang überhaupt aufzudecken und Organisationen und Programmierungen in ihrer Funktion zu beschreiben. Erst das eröffnet einen empirischen Blick darauf, dass die bloße Konzentration auf Organisationen und Entscheidungsprogramme eine unterkomplexe Form der Beschreibung und damit auch eine unterkomplexe Form für die Neuentwicklung von Lösungen ist.
      Womöglich müssen neue Lösungen mit netzwerkartigen Formen rechnen, die Programmierungen von ihren traditionellen Konzentrationen auf einseitige Funktionsbezüge befreien. Ein wenig geht das in die Richtung dessen, was Dirk Baecker als „nächste Gesellschaft“ beschreibt – wobei mir bei ihm die Bedeutung codierter Funktionssysteme unterbelichtet scheint. Aber daran müsste man weiter denken.
      Mit besten Grüßen
      Ihres
      Armin Nassehi

  3. Sehr geehrter Prof. Nassehi,

    vielen Dank für Ihre Antwort. Nachdem ich Ihre restlichen Beiträge gelesen habe, war mein Einwurf tatsächlich etwas verführt. Sie konnten einige Fragen beantworten. Es haben sich aber auch neue ergeben.

    Sie haben natürlich Recht, dass eine einseitige Konzentration auf Organisationen nicht ausreicht für eine Verhältnisbestimmung von Codierung und Programmierung. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Codes der Funktionssysteme und den Konditionalprogrammierungen der Organisationen transformiert sich für mich in die Frage nach dem Verhältnis zwischen den drei Ebenen der Systembildung Interaktion, Organisation und Gesellschaft. In zeitlicher Perspektive ist das ein Rückkopplungsverhältnis von Interaktion über Organisation zur Gesellschaft und wieder zurück. Um dieses Rückkopplungsverhältnis beobachten zu können, sind Organisationen hervorragende Studienobjekte. Hinsichtlich einer Bereicherung durch den Netzwerkbegriff bin ich allerdings skeptisch. Ich muss gestehen, dass ich mich mit Netzwerktheorien noch nicht beschäftigt habe. Die theoretischen Ansätze, die ich bevorzuge (Luhmann/Goffman/Collins), zeichnen sich alle durch ihre Indifferenz gegenüber dem Netzwerkbegriff aus. Möglicherweise zu recht. Aus meiner beruflichen Praxis als Teil einer über 700 Mitarbeiter starken Organisation kann ich sagen, dass Netzwerke bisher weder als Problem noch als Lösung ins Blickfeld geraten sind. Insofern teile ich nicht die Hoffnung auf neuartige Lösungen, die Programmierungen von der Konzentration auf Funktionsbezüge befreien sollen. Hieße das nicht, dass Organisationen den Unterschied aufgeben sollen, der es ihnen ermöglicht zwischen sich und der Umwelt zu unterscheiden? Wie könnte so etwas aussehen?

    Hinsichtlich der Inklusions-/Exklusions-Thematik darf ich auf den kommenden Beitrag in meinem Blog hinweisen, der sich auch damit beschäftigen wird. Der braucht allerdings noch etwas Zeit.

    Mit freundlichen Grüßen
    BdM

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