Einseitigkeit – die Vierte

In meinem vorletzten Blog-Beitrag möchte ich, wie angekündigt, auf das Verhältnis operativer und semantischer Grenzen von Funktionssystemen zu sprechen kommen. Ich habe in meinem zweiten Beitrag angedeutet, dass die operative Schließung von Funktionssystemen, gewährleistet durch die simple Binarität ihrer Ordnung, nicht gleichbedeutend ist mit semantischer oder organisatorischer Schließung. In meinem dritten Beitrag habe ich dann angedeutet, dass die Schließung der Funktionssysteme gewissermaßen hinter dem Rücken von Akteuren, Organisationen und semantischen Figuren abläuft. Diese verfremdende Beschreibung kann dann zugleich das Verhältnis von operativen und semantischen Grenzen von Funktionssystemen andeuten.

Zunächst zum Verhältnis von Organisationen und Gesellschaft. Es ist unstrittig, dass alle Funktionssysteme der modernen Gesellschaft ohne Organisationen nicht denkbar wären. Wirtschaften wäre ohne Betriebe, Geschäfte, Börsen und Banken ebenso wenig möglich wie rechtliche Regulierung ohne den Justizapparat, Politik ohne Organisationen des Staates ebenso wenig wie Erziehung ohne Schulen, Glaube ist ohne Kirchen nur schwer auf Dauer zu stellen, und Wissenschaft wäre ohne Universitäten und Forschungsorganisationen nicht denkbar, und selbst gepflegter Terrorismus scheint auf Organisation zurückgreifen zu müssen. Dabei ist zu beobachten, dass der Modernisierungsprozess, also die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen flächendeckend mit der Herausbildung von Organisationen einhergeht, die jeweiligen Funktionssystemen zugeordnet sind, ohne dass Organisationssysteme selbst Teilsysteme von Organisationssystemen wären. Organisationen scheinen vielmehr dazu zu dienen, einerseits für verdichtete Operationen von Funktionssystemen und damit für Interdependenzunterbrechungen innerhalb der Funktionssysteme zu sorgen. Andererseits scheint es Organisationen zu gelingen, die Funktionssysteme strukturell zu koppeln. So wird an Universitäten nicht nur geforscht, sondern auch gezahlt, in Kirchen nicht nur geglaubt, sondern auch erzogen, und in öffentlichen Verwaltungen nicht nur politisch, sondern auch rechtlich operiert. Alfons Bora spricht treffend von der „Multireferentialität von Organisationen“. Organisationssysteme scheinen also unter anderem die Funktion zu haben, Ereignisse zum gleichzeitigen Gebrauch in unterschiedlichen Funktionssystemen zu ermöglichen, ferner haben sie insofern eine gesellschaftsstrukturelle Funktion, als in ihnen dafür gesorgt werden kann, für spezielle strukturelle Kopplungsbedingungen der Funktionssysteme zu sorgen. So wird in allen Organisationen Geld verwendet, etwa Personal bezahlt; fast alle Organisationen verfügen über rechtsförmige Selbstbindungen oder sogar Konfliktregelungsmechanismen; in Organisationen wird sowohl intern als auch nach außen politisch agiert; und in nahezu jeder Organisation fällt nolens volens Liebe an. Organisationen vollziehen also einerseits die Autopoiesis der Funktionssysteme mit, andererseits beziehen sie ökonomische, rechtliche, religiöse, wissenschaftliche oder politische Ereignisse und Ereignisketten aufeinander, ohne dass es damit zu einer Verschmelzung der Funktionssysteme kommt. Organisationen liegen also quer zur primären Differenzierungsform der modernen Gesellschaft – und verschaffen gerade dadurch den Funktionssystemen einen internen Ordnungsgewinn. Wiederum auf das ökonomische System bezogen, wäre es kaum denkbar, dass sich ohne Banken, Betriebe und Börsen Binnenstrukturen des Funktionssystems ausbilden würden. Wiewohl Zahlungen fast überall vorkommen (können), bilden die Organisationen des genannten Typs und ihre Netzwerke so etwas wie Zonen dichter gekoppelter Anschlussfähigkeit von Ereignissen. Insofern entfalten auch Funktionssysteme innerhalb ihrer selbst Räume kommunikativer Erreichbarkeit, man könnte sagen: Zonen dichter Kommunikation und stärkerer Kopplung der Elemente, die dann als kommunikative Räume erscheinen – in der Politik als Staaten mit ihrem exekutiven Apparat, in der Ökonomie als Märkte, in denen v.a. Organisationen als Akteure beobachtet werden, in der Wissenschaft als Disziplinen oder Sprachgemeinschaften, die wiederum an Organisationen und ihre Netzwerke gekoppelt sind, in der Religion als Denominationen oder Konfessionen, denen Kirchen ihre Namen geben, im Recht als Geltungsräume, die von Organisationen der Rechtspflege bedient werden, im Bildungssystem als Schulen und Universitäten und selbst in der Kunst als Rezeptionsräume, die nicht ohne Leistungen von Organisationen (Galerien, Museen, Akademien) auskommen. Wie die historische Organisationsforschung zeigt, ist die Selbststabilisierung der Funktionssysteme über die Etablierung von Organisationsarrangements von Industrie, Handel, Schulen, staatlichen Verwaltungen, Gefängnissen, Sozialfürsorge und Sozialversicherung erfolgt. Diese Organisationsarrangements ermöglichten es, die Operationen der Funktionssysteme parallel zu nationalstaatlichen Grenzziehungen zu verdichten, also die Anschlussfähigkeit ökonomischer, rechtlicher, pädagogischer, sogar wissenschaftlicher, ästhetischer und religiöser, v.a. aber politischer Kommunikationen jeweils so zu verdichten, dass daraus das Simulakrum nationalstaatlicher Gesellschaften entstehen konnte. Bis heute scheint der organisationsgestützte Ursprung der Vernationalstaatlichung des Politischen, der bis in die soziologische Nomenklatur das Normalbild westlicher Vergesellschaftungsformen prägt, kaum begriffen zu sein – von der Selbstverunsicherung dieses Normal- und Nominalmodells durch das, was wir heute Globalisierung nennen, ganz zu schweigen. Wie dem transnationalen Operationsgebiet etwa ökonomischer, massenmedialer, wissenschaftlicher oder politischer Organisationen aber inzwischen zu entnehmen ist, scheinen sich hier neue Organisationsarrangements anzudeuten, die im Bestimmungsbereich der Funktionssysteme neue Formen des Ordnungsaufbaus ermöglichen und wiederum Organisationen in Anspruch nehmen. Wie Gesellschaft auf symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien zugreift, um Interdependenzunterbrechungen in ihre eigene Struktur einzubauen und gesellschaftlicher Kommunikation damit Formvorschriften ermöglicht, die als funktionale Differenzierung erscheinen, scheinen Funktionssysteme ihrerseits Organisationen als Medien für internen Ordnungsaufbau zu nutzen. Organisationen bieten damit also ein relativ stabiles Medium elementarer Operationen an, auf deren Boden dann hoch aggregierte Formen möglich werden. Dieses Medium heißt im Falle von Organisationen Entscheidung.

Der Rekurs auf Entscheidungen hat eine lange Tradition in der Organisationssoziologie, auf die ich hier nicht eingehen kann. Lediglich andeuten möchte ich hier, dass sich Organisationssysteme als Kette von Entscheidungen beschreiben und darin ihre spezifische Form der Realitätsverarbeitung finden. Diese perspektive auf Entscheidungsgeschichten ermöglicht es dann aber zugleich so etwas wie eine indirekte Beobachtbarkeit von Funktionssystemen. Man kann dann an der Entscheidungsgeschichte von Organisationen sehen, wie sich „die Wirtschaft“ entwickelt – und nur weil es sich hier um Entscheidungsgeschichten handelt, lässt sich ein reflexives Bild zeichnen, auf das das ökonomische Funktionssystem wiederum rekursiv – also: mit Zahlungen – reagiert und Organisationen reflexiv – also: mit Entscheidungen – anschließt. Und weil es sich um Entscheidungen handelt, können die nicht gewählten Möglichkeiten, also die verworfenen Alternativen, ohne die eine Entscheidung nicht als Entscheidung erschiene, gleich mitgesehen werden. Ähnliches ließe sich auch für die anderen Funktionssysteme formulieren: Organisationen des politischen Systems erzeugen erst jene Reflexivität, die kollektiv bindendes Entscheiden in den Horizont früheren und zukünftigen Entscheidens stellen und nicht gewählte Alternativen mit in den Blick nehmen. Entscheidungen von Schulen und Hochschulen erzeugen erst jene dokumentierbare Reflexivität, die Bildungskarrieren ermöglicht (und: verhindert) und die gesellschaftliche Bereitstellung von Kompetenzen und Fähigkeiten beobachtbar macht. Entscheidungen von Gerichten schließen stets an Entscheidungen von Gerichten bzw. an Rechtsnormen an, die ihrerseits auf Entscheidungen rechtsprechender oder gesetzgebender Organisationen rückrechenbar sind. Diese Beispiele mögen genügen. Sie zeigen jedenfalls, dass sich die interne Struktur von Funktionssystemen nicht ohne Organisationen denken lässt und dass Organisationen aufgrund ihrer Entscheidungsförmigkeit Funktionssysteme mit einer Reflexivität ausstatten, die in die Rekursivität ihrer schlichten Codierung auf der Ebene der „Gesellschaft“ nicht eingebaut ist. Der zentrale Aspekt meines Argumentes besteht darin, dass Organisationen die niedrigschwelligen Anschlussbedingungen von Kommunikation innerhalb von Funktionssystemen mit höherschwelligen Anforderungen versorgen, um damit Strukturbildung zu ermöglichen. Die bloße Rekursivität der Funktionssysteme versorgt sich durch die Reflexivität von Organisationssystemen mit Strukturvorgaben. Es impliziert diese Lösung zugleich mehr und weniger als Luhmanns Funktionsbestimmung von Organisationen als Interdependenzunterbrecher (vgl. Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen 2000: 394ff.): mehr in dem Sinne, dass Organisationen nicht nur prinzipiell mögliche Interdependenzen limitieren, sondern zugleich Interdependenzmöglichkeiten aufgrund von Programmierung und Adressierung (etwa von Firmen, Universitäten, Staaten oder Kirchen) ermöglichen, weniger in dem Sinne, als bereits die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen nichts anderes ist als die Unterbrechung von Interdependenzen und Anschlussmöglichkeiten. Exakt deshalb gibt es nicht nur Märkte, sondern auch Betriebe, nicht nur Staatsvölker, sondern auch Regierungen und Parlamente, nicht nur Rechtssubjekte, sondern auch Staatsanwaltschaften und Gerichte, nicht nur wissenschaftliche Kommunikation, sondern auch Universitäten und Forschungsinstitutionen, nicht nur die Kommunikationsfähigkeit der Bildsamkeit des Menschen, sondern auch Kindergärten, Schulen und Hochschulen, nicht nur Zumutungen des Glaubens, sondern auch Kirchen mit Entscheidungsgewalt über Katechismen.

Organisationen sind also einerseits in der Lage, die Anschlussformen von Funktionssystemen miteinander zu verbinden, zu prallen Formen zu verdichten, sie aufeinander abzustimmen und über Programmierungen zeitweise zu integrieren. So transformieren etwa Universitäten wissenschaftliche, pädagogische, rechtliche, ökonomische, politische und sogar mediale und künstlerische Formen zu kompakten Gebilden, in denen die semantischen Grenzen verschwimmen, im Hintergrund aber exakt die Anschluss- und Erfolgsbedingungen gelten, für die sich Funktionssysteme ausdifferenziert haben. Ähnliche kompakte Formen finden sich in Unternehmen, in Krankenhäusern in staatlichen Organisationen und sogar in Kirchen, Sie erzeugen Praktiken und Akteurskonstellationen. Sie erzeugen zugleich eine Semantik, die so etwas wie handhabbare Beschreibungen der Gesellschaft anbieten. Diese Beschreibungen nutzen das Medium Entscheidung, um Selbstbeschreibungen der Gesellschaft anzubieten, die die Illusion der Organisierbakeit der Gesellschaft befördern. Solche Beschreibungen zehren von der Funktion von Organisationen, nähren die Illusion der Steuerbarkeit der Gesellschaft durch Entscheidungsalternativen und bieten so Narrative an, in denen sich komplexe Systeme geradezu kausalistisch selbst beschreiben können.

Was ich in diesem Beitrag zeigen möchte, ist nur dies: Es kommt soziologisch darauf an, sich von der Plausibilität dieser Beschreibungen wenigstens hilfsweise zu befreien, um die Eigendynamik der modernen Gesellschaft angemessen verstehen zu können – eine Eigendynamik, die ich in diesen Beiträgen in extrem einseitiger Weise auf ein differenzierungstheoretisches Design zuschneide.

Ein Gedanke zu „Einseitigkeit – die Vierte“

  1. Die glänzenden Erfolge der staatlichen Erziehung des deutschen Volkes

    Das deutsche Volk, so wie es heute dasteht, ist in der Staatskirche, Staatsschule, Staatsuniversität – lauter Vorschulen der Kaserne – dressiert worden. Alles, was wir heute an diesem deutschen Volk bewundern können, muss als ein Erzeugnis der staatlichen Erziehungskunst angesehen werden. Und zu bewundern finden wir gar Vieles. Die Unterwürfigkeit gegenüber den Vorgesetzten, das entsprechend barsche Benehmen gegenüber den Untergebenen, der Kadavergehorsam, die Disziplin, der Korpsgeist, der Parteigeist, die Standesehe, die erstaunliche Einseitigkeit und Phantasielosigkeit (Produkt der einheitlichen Schule), die Lasterhaftigkeit, die aus der Phantasielosigkeit erwächst, die erschreckende Bedürfnislosigkeit in wissenschaftlicher Beziehung, der hierzu gehörende Autoritätsglaube, der Mangel an Individualität, die Heuchelei, die ungeheure Feigheit des Individuums, über die schon Bismarck klagte…
    Unausrottbarer Autoritätsglaube. Noch heute erwartet das Volk alles Heil von der „Regierung“. Es lehnt es glatt ab, durch Studium der öffentlichen Angelegenheiten eine Kontrolle über die öffentlichen Angelegenheiten auszuüben.

    Silvio Gesell, 1926

    Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Dummheit des deutschen Volkes noch einmal auf ein bis dahin unvorstellbares Maß gesteigert. Und heute? Es hat sich nichts geändert!

    Staatliche Erziehung

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