Einseitigkeit – die Fünfte

In meinem letzten Blog-Beitrag möchte ich, wie angekündigt, auf eine der beiden anderen im ersten Blog-Beitrag referierten Dimensionen einer Theorie der modernen Gesellschaft, wie sie Uwe Schimank systematisiert hat: auf die Dimension sozialer Ungleichheit. Mein Beharren auf mehr Einseitigkeit müsste sich also dort bewähren, wo die anderen Dimensionen einer Theorie der Moderne integriert werden. Exakt das möchte ich nun im Folgenden andeuten:

Im Kontext der Differenzierungstheorie sieht es tatsächlich so aus, als spiele soziale Ungleichheit für die Theorie letztlich keine Rolle. Im Gegenteil: Die in der Sozialdimension gebaute Inklusionstheorie, die sich für das Relevanthalten von Personen und ihre Verortung in kommunikativen Prozessen interessiert, gehtim Falle der modernen Gesellschaft eher von Gleichheit als von Ungleichheit aus.

Erstaunlich normativ formuliert Luhmann: „Im Prinzip sollte jeder rechtsfähig sein und über ausreichendes Geldeinkommen verfügen, um an Wirtschaft teilnehmen zu können. Jeder sollte als Teilnehmer an politischen Wahlen auf seine Erfahrungen mit Politik reagieren können“ (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 625) usw. Und in der Tat liege es in der Logik funktionaler Differenzierung, jedem Teilnehmer am gesellschaftllichen Leben Zugang zu allen Funktionen zu erschließen. Man wird in Luhmanns Formulierungen den Eindruck nicht los, das bloße Faktum der Inklusion impliziere bereits so etwas wie gelungene, unproblematische Vergesellschaftung. Aber: Inklusion ist nicht die Lösung, sondern der Generator von sozialen Problemen.

Nehmen wir strukturell die Faktizität der Generalinklusion als gegeben an, ist nun zu fragen, wie sich soziale Ungleichheit, Krisen des Beschäftigungssystems, die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen von möglichen Lebenschancen gesellschaftstheoretisch fassen lassen, und das kann nach dem bisher Gesagten nur heißen: inklusionstheoretisch. Denkbar wäre es, einen graduellen Exklusionsbegriff zu wählen, also im dem Sinne, soziale Ungleichheit als mehr oder weniger starke Inklusion in die Funktionssysteme zu denken. Wie unplausibel ein gradueller Inklusionsbegriff ist, mag folgende Überlegung zeigen: Ein von Armut Betroffener ist keineswegs weniger in das Wirtschaftssystem inkludiert als jemand mit hohem Geldvermögen. Wenn Inklusion bedeutet, von sozialen Systemen, hier: Funktionssystemen bezeichnet zu werden, wird sich jemand mit Schulden oder ein Zahlungsunfähiger geradezu zwangsthematisiert vorfinden. Gerade die Inklusion ins Wirtschaftssystem zeigt, dass eine explizite Zahlungsunfähigkeit eine ganz und gar unhintergehbare Form der Inklusion in das Wirtschaftssystem ist, wenn man unter Inklusion keine soziale Heimstatt versteht, sondern nur die Thematisierbarkeit von Menschen als Personen und Akteure. Nicht zahlen kann man nur im Kontext von Zahlungen, also dort, wo Zahlungen als Knappheitsausgleich erwartet werden können. Zur Exklusion kommt es erst dann, wenn man nicht einmal nicht zahlen kann, wenn also Geld nicht einmal im Horizont von Möglichkeiten steht. Analog gilt: Unrecht kann nur bekommen, wer Ansprüche an Erwartungen eines Rechtssystems stellen kann, politisch unterrepräsentiert zu sein, ist eine hochgradig voraussetzungsreiche Form der politischen Inklusion, Bildungsnachteile bekommt man explizit nur als Operation des Bildungssystems bescheinigt, etwa in Form fehlender Abschlüsse oder schlechter Noten, und von den Leistungen des Funktionssystems sozialer Hilfe kann man nur ausgeschlossen werden, wenn man potentiell Klient sein könnte. Der Clou der Theorie funktionaler Differenzierung besteht ja gerade darin, dass die negativen Werte ihrer Codierungen keinesfalls minderer Natur sind. Nicht-Zahlungen können nur im Wirtschaftssystem vorkommen, wie auch Unrecht nur im Rechtssystem möglich ist, mangelnde Bildung nur im Bildungssystem zu erwarten ist und politische Einflusslosigkeit im politischen System erzeugt wird.

Man darf Inklusion nicht mit Gleichheit oder auch nur Gleichartigkeit verwechseln. Im Gegenteil: Es sind die Funktionssysteme selbst, die Ungleichheiten erzeugen, nicht nur als Nebenfolge übrigens, sondern bisweilen explizit. Und die Tatsache, dass sich in Individuen die Ansprüche und Erwartungen der untereinander nicht mehr vorsortierten und miteinander nicht koordinierten Funktionssysteme bündeln, macht es um so wahrscheinlicher, dass Benachteiligungen im Bestimmungsbereich des einen Funktionssystems Benachteiligungen in anderen Funktionssystemen nach sich ziehen. Wer ökonomisch benachteiligt ist, muss damit rechnen, auf weniger Rechtsmittel zugreifen zu können oder weniger Bildung in Anspruch nehmen zu können. Und wer weniger Bildung erfährt, wird womöglich im medizinischen System nicht auf der Höhe der Leistungsrollenträger kommunizieren und entsprechende Benachteiligung erfahren. Die Funktionssysteme produzieren also nicht nur Ungleichheit durch eigene Entscheidungen, sondern diese Ungleichheiten scheinen bei bestimmten Gruppen zu kumulieren – all das ist der empirischen Ungleichheitsforschung längst bekannt.

Vielleicht ist die Frage der sozialen Ungleichheit sowie das Problem individueller Lebenslagen – ich habe vorgeschlagen, von Inklusionslagen zu sprechen – von der Systemtheorie deshalb vernachlässigt worden, weil man sich kaum dafür interessiert hat, wie quer individuelle Inklusionslagen zu jener Differenzierung der Gesellschaft in funktionale Teilsysteme liegen – und der sehr unscharfe Exklusionsbegriff scheint mir kaum geeignet zu sein, hier Klärendes beizutragen. Dabei sehe ich gerade in der angedeuteten Querlage einen Punkt, an dem die Systemtheorie etwas zum Problem sozialer Ungleichheit zu sagen hätte, nämlich dies: Die Brisanz sozialer Ungleichheit und der Destabilisierung von Lebenslagen liegt darin, dass sowohl kulturelle und ästhetische Ungleichheiten auf horizontaler Ebene wie auch materielle Differenzen und Ungleichheiten auf vertikaler Ebene keine Systemdifferenzierungen des Gesellschaftssystems sind, sondern quer zur Differenzierungsform liegen.

Es lässt sich zeigen, dass soziale Ungleichheiten sozusagen als Parasiten der funktionalen Differenzierung fungieren und sich deshalb der Gesellschaftsstruktur selbst entziehen. Die empirische Brisanz sozialer Ungleichheit liegt ja gerade darin, dass sie im Geflecht wechselseitiger Beobachtungsleistungen funktionaler Teilsysteme kaum unmittelbar stört. Ihre Folgen kommen höchsten indirekt und zeitversetzt wieder auf dem Bildschirm der Funktionssysteme an: als Zahlungsunfähigkeit oder verblassende politische Loyalität, als Problem straf- oder zivilrechtlicher Regulierung oder als hypertrophes Wachstum Anspruchsberechtigter im Hilfesystem, als Bildungsarmut, medizinische Unterversorgung oder ästhetische Indifferenz. Folgen sozialer Ungleichheit verlieren dann zunehmend ihre Gestalt in der Sozialdimension. An diesem Problem laborieren Gewerkschaften und politische Parteien ebenso wie Klassentheorien oder sonstige Mobilisierungserwartungen. Schichtung verliert ihren Grup¬pencharakter, sie wandelt sich von analogen hin zu digitalen Formen, Benachteiligungen werden zunehmend individuelle Faktoren, selbst wenn sich ihre „Objektivität“ in der empirischen Sozialforschung erweist. Gruppen von gleichen Ungleichen nehmen sich nicht mehr als soziale Gruppen war, selbst wenn wir statistische Gruppen entdecken.

Man ist geneigt, die immer brisanter werdenden Folgen sozialer Ungleichheit auf ein Versagen der Funktionssysteme zurückzuführen, zumindest auf ein Versagen ihrer Koordination. Ich möchte dagegen behaupten, dass es umgekehrt gerade die Erfolge der Funktionssysteme sind, die dazu geführt haben, dass sich die Inklusionslage von Personen eigentümlich indifferent zur Stabilität gesellschaftlicher Reproduktionsbedingungen verhält. Spiegelt man dies zurück auf das, was ich in meinem dritten Blog-Beitrag als Optionssteigerung bezeichnet habe, dann wird deutlich, dass soziale Ungleichheit gerade deshalb so brisant ist, weil sie letztlich eine Nebenfolge der hypertrophen Optionssteigerung von Funktionssystemen ist – mit zum Teil paradoxen Folgen. Erfolg im Wirtschaftssystem erzeugt womöglich mehr soziale Ungleichheit als weniger Erfolg; Bildung ist zwar, wie wir empirisch wissen, der beste Garant für die Vermeidung sozial prekärer Lebenslagen, aber zugleich erzeugt das Bildungssystem sogar legitime Formen sozialer Ungleichheit; im politischen System gilt das Prinzip des one-man-one-vote als Gleichheitsgenerator, aber bestimmte Formen politischen Loyalitätsmanagements nutzt Ungleichheit zur Herstellung von Gefolgschaft. In den Codierungen der Funktionssysteme kommt Ungleichheit letztlich nicht vor – und gerade deshalb wird man sie so schwer los. Das gilt übrigens für ganz unterschiedliche Ungleichheitsdimensionen – nicht nur für die Einkommensdimension, sondern auch für Geschlechterungleichheit, ethnische Ungleichheitsfolgen und Rassismus, nicht zuletzt für kulturelle Ungleichheiten. Vielleicht bietet eine differenzierungstheoretische Perspektive eine besonders radikale Theorie sozialer Ungleichheit an, weil sie mit dem Aufweis als indirekter Differenzierungsfolge auch impliziert, dass ihre strategische Bekämpfung nur durch indirekte Steuerung möglich ist. Die Paradoxien und merkwürdigen Nebenfolgen wirtschaftspolitischer, beschäftigungspolitischer und kompensationspolitischer sind ja Legion – vielleicht brauchen wir dafür andere Theorien.