Was ist Soziale Marktwirtschaft? Über die vergessenen Wurzeln des deutschen Neoliberalismus

Fast sämtliche politische Reformen seit Ende der 1990er wurden im Zeichen des Neoliberalismus durchgeführt. Auch wenn es im Zuge der Finanzkrise in letzter Zeit leise Zweifel gibt, so ist das neoliberale Denken im politischen Diskurs so dominant (Butterwegge 1998) und selbst in der Sozialdemokratie so fest verankert (Lahusen 2006), dass nicht anzunehmen, dass sie so leicht aus den Köpfen zu entfernen ist. Zumindest die FDP hat sich auf ihrem Bundesparteitag am 04.03. (wieder) als „Verfechter der sozialen Marktwirtschaft“ positioniert, und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) wirbt seit einigen Jahren für die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft. Kernideen der jüngeren Reformen sind Deregulierung und ein möglichst geringes Eingreifens des Staates in die Wirtschaft, welche gemäß dem Postulat den gesamtgesellschaftlichen (gesamteuropäischen) Wohlstand fördern. Entsprechend passt es auch gut, dass die FDP den Armutsbericht schönen wollte, weil er so gar nicht zu diesem Postulat passt. Ungeachtet dessen geben diese „Erneuerer“ das Gedankengut der Klassiker der sozialen Marktwirtschaft nur bruchstückhaft und unvollständig wieder. Die genaue Lektüre dieser Texte fördert zum Teil Erstaunliches zutage, das zum Teil in konträrem Widerspruch zu den politischen Reformen des letzten Jahrzehnts steht. Was also ist soziale Marktwirtschaft? [1]

Ziele sozialer Marktwirtschaft: Freiheit und soziale Gerechtigkeit

Der Ordoliberalismus ist eine Variante des Neoliberalismus, die in der Nachkriegszeit von einer Reihe von deutschsprachigen Ökonomen entwickelt wurde. Zu nennen ist u. a. die Angehörigen der Freiburger Schule – Walter Eucken, Leonard Miksch, Franz Böhm, Hans Großmann-Dörth – sowie Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, August von Hayek, Ludwig Erhardt und Alfred Müller-Armack, die damals für die Wirtschaftsform der „sozialen Marktwirtschaft“ kämpften.

Die Befürchtungen der Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft vor einem leistungshemmenden totalen Versorgungsstaat und dem Überwuchern des Wohlfahrtsstaates sind wohl belegt. Dies bedeutet aber nicht, dass sie Sozial- und Verteilungspolitik für überflüssig hielten – im Gegenteil. Die Schriften ordoliberaler Theoretiker und Wirtschaftspolitiker sind nur vor dem damaligen historischen Hintergrund richtig zu verstehen.

Eine erste zentrale Frage, die ordoliberale Wirtschaftstheoretiker beschäftigte, war, wie die Wirtschaftsordnung des Nachkriegsdeutschland gestaltet werden sollte: 1945 war nicht nur der deutsche Staat, sondern mit ihm auch die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme zusammengebrochen. Bevor der Wiederaufbau und die Neugestaltung des Sozialstaats in Angriff genommen werden konnten, musste deshalb zunächst die Wirtschaft stabilisiert werden. Haupthemmnisse für die wirtschaftliche Belebung waren die Unzulänglichkeiten des aus der Kriegszeit übernommenen verwaltungswirtschaftlichen Bewirtschaftungs- und Verteilungssystems, die schwer geschädigte Infrastruktur, fehlende Rohstoffe, reparationsbedingte Entnahmen aus der deutschen Produktion, Demontagen sowie die Zersplitterung des deutschen Wirtschaftsraumes in vier Besatzungszonen (Zinn 1992: 59-64).

Ein zweites wichtiges Thema war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die Frage, wie man aus Deutschland eine stabile Demokratie machen könne. Der Grundgedanke der Ordoliberalen war, dass (marktwirtschaftliche) Freiheit der Demokratie förderlich sei (Erhard 1962; 1973; Behlke 1961: 84). [2]

Andererseits knüpften die Ordoliberalen an die lange sozialstaatliche Tradition Deutschlands und die Debatten an, ob Eigenverantwortung oder staatliche Interventionen besser für die Gesellschaft seien. Im Gegensatz zu heute herrschte in der Nachkriegsära keineswegs ein Konsens darüber, ob Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, Kapitalismus oder Sozialismus die besseren Wirtschafts- und Gesellschaftsformen seien – im Gegenteil: Durch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und die (von vielen Deutschen als positiv wahrgenommenen) planwirtschaftlichen Gegenmaßnahmen unter den Nationalsozialisten zweifelten die meisten Wirtschaftswissenschaftler und Politiker an dem Sinn der Marktwirtschaft. Direkt nach dem Krieg waren alle Parteien mit Ausnahme der FDP für eine zentral geplante und gelenkte Wirtschaft sowie für die Verstaatlichung der Produktionsmittel (Zinn 1992: 31; Müller-Armack 1988: 4-5). Gleichzeitig wollten die Alliierten das deutsche Sozialversicherungssystem nach dem Modell von Beveridge neu gestalten (Briggs 1961: 225; Ginsburg 1992: 139-142; Ritter 1989: 145-147; Chamberlayne 1992: 301;303;305).

Viele der Schriften ordoliberaler Theoretiker sind deshalb direkte Polemiken gegen Sozialismus, Kommunismus und Planwirtschaft. Sie betonten insbesondere, dass eine zentrale Lenkungswirtschaft, wie sie im Nationalsozialismus und in der Sowjetunion existierte, ineffizient sei und für einen geringeren gesamtwirtschaftlichen Wohlstand sorge (Erhard 1957: 102-134; Eucken 1960: 106-139). Stattdessen plädierten sie für die Erneuerung des Wettbewerbsgedankens und schlossen, dass es keine bessere Wirtschaftsordnung als die Marktwirtschaft gebe: Die freie, selbstverantwortliche Tätigkeit des Menschen galt den Ordoliberalen als Voraussetzung für eine funktionsfähige, bewegliche, sich dynamisch entwickelnde Marktwirtschaft und musste für sie Basis jeder Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sein (Müller-Armack 1981: 167-77; 183-184; Müller-Armack 1988: 6-7; Starbatty 1982: 9; Zinn 1992: 31), da der Mensch, um (soziale und politische) Verantwortung tragen zu können, individuelle Freiheit und möglichst freiheitliche Lebensumstände brauche. Sie sprachen von „individueller“ und der „gemeinsamen Verantwortung“ (Erhard 1962: 345) für den Aufbau und Erhalt einer demokratischen Gesellschaft. Die Marktwirtschaft hat damit aus dieser Perspektive auch eine endogene soziale Komponente, weil sie dem Einzelnen ein besonders hohes Maß an Berufsvielfalt, Wahlmöglichkeiten, Aufstiegschancen, an Selbständigkeit und an Wohlstand bietet (Müller-Armack 1981: 150-151; Müller-Armack 1988: 11-13; Starbatty 1982: 9-10.

Da sich die Hauptargumente der Ordoliberalen gegen die zentrale Lenkungswirtschaft richteten, geht in der Rezeption ihres Gedankenguts häufig unter, dass (wirtschaftliche) Freiheit nur eines der beiden Ziele der sozialen Marktwirtschaft ist. Das andere Ziel ist (soziale) Sicherheit bzw. soziale Gerechtigkeit. So sieht etwa Eucken Sicherheit als ein menschliches Grundbedürfnis und betont, dass „[d]as Anliegen der sozialen Gerechtigkeit (…) nicht ernst genug genommen werden“ kann (Eucken 1960: 315), da es sich in modernen Gesellschaften in besonders dringlicher Weise stellt. So schreibt Eucken (1960: 1) sehr deutlich:

Soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit sind die großen Anliegen der Zeit. Die soziale Frage ist seit Beginn der Industrialisierung mehr und mehr zur Zentralfrage menschlichen Daseins geworden. Sie hat eine eminente geschichtliche Kraft. Auf ihre Lösung müssen Denken und Handeln vor allem gerichtet sein.

Der Grund dafür, dass sich die Frage nach sozialer Sicherheit in modernen (marktwirtschaftlichen) Wirtschaftssystemen besonders dringlich stellt, liegt darin, dass die Arbeitsteilung sehr groß ist (Münch 2012) und sehr lange Interdependenzketten zwischen sehr vielen Menschen existieren. Diese Abhängigkeit von anderen Menschen schafft neue Unsicherheit und Angst. Die zwei größten Bedrohungen moderner Gesellschaften sind dabei erstens die Bedrohung der (wirtschaftlichen und politischen) Freiheit durch Totalitarismus und zweitens, dass Menschen aus dem Wirtschaftssystem ausgeschlossen und damit in ihrer Existenz bedroht werden. Letzteres geschieht v. a. durch Arbeitslosigkeit (Eucken 1960: 317-320). Individuelle Freiheit und soziale Sicherheit sind folglich für die Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft keine Gegensätze, sondern ergänzen einander (Eucken 1960: 106-139; Erhard 1962: 568-569).

Die Zentralität des Arbeitsmarktes und des Kampfes gegen Arbeitslosigkeit für moderne Gesellschaften

Gleichzeitig wird deutlich, dass für sie der Kampf gegen (Massen-)Arbeitslosigkeit und der Schutz vor Arbeitslosigkeit und Erwerbsunfähigkeit eines der Hauptziele moderner Wirtschaftspolitik ist (Eucken 1960: 319-320). Euckens (1960: 140) Ausführungen hierzu klingen wie eine Mahnung an die europäische Wirtschaftspolitik:

Regierungen und sogar Staatsformen, unter denen Massenarbeitslosigkeit entsteht und andauert, haben keinen Bestand.

Der Arbeitsmarkt ist in modernen kapitalistischen Gesellschaften auch das wesentlichste Moment sozialer Sicherung, da er für die Verteilung des wirtschaftlichen Wohlstandes an die Arbeitnehmer sorgt (Eucken 1960: 43-48; 321-324) – dies verweist auch darauf, warum sich etwa Soziologen bis heute an der Frage abarbeiten, wie Arbeitsmarkt und Sozialstaat aufeinander bezogen sind und sich auf soziale Ungleichheit auswirken

Das heißt aber nicht, dass Vollbeschäftigung um jeden Preis verfolgt werden soll oder dass damit alle Probleme gelöst sind, vielmehr ist Erwerbsarbeit nur sinnvoll, wenn sie der Existenzsicherung dient, d. h. wenn die aus ihr erwachsenen Einkommen hoch genug sind. Eucken (1960: 141) führt ein Beispiel aus Deutschland 1946 an:

Wenn auch alle Menschen von früh bis spät beschäftigt waren, gelang es infolge schlecht geordneter und unzureichend entfalteter Arbeitsteilung nicht, sie zureichend zu versorgen. (…) Dieses Beispiel zeigt, daß Vollbeschäftigung mit wirtschaftlicher Not verbunden sein kann und daß Vollbeschäftigung infolgedessen keineswegs allein das Ziel der Wirtschaftspolitik sein darf. Auch die Vollbeschäftigungspolitiker denken punktuell. Sie heben eine Teilfrage einseitig heraus. Und so wird die Wirtschaftspolitik von ihrem sachlich-notwendigen Ziel – der zureichenden Versorgung mit Konsumgütern – abgelenkt.

Ziel der Erwerbsarbeit ist folglich nicht die Arbeit selbst, sondern der durch sie ermöglichte wirtschaftliche Wohlstand. Ohne das aus ihnen erwachsende, existenzsichernde Einkommen sind Arbeitsplätze sinnlos, und aus demselben Grund sollten Arbeitsplätze immer sichere Arbeitsplätze sein, wie Erhard (1957: 41; Betonung wie um Original) fordert:

Immer wieder betone ich, daß mit bloßer Beschäftigung dem deutschen Arbeiter und dem deutschen Volke in seiner Gesamtheit nicht gedient wäre, sondern daß es um seiner Existenzsicherung darauf ankäme, sichere, d. h. rationelle Arbeitsplätze zu schaffen.

Dies sind klare Aufforderungen für die staatliche Sicherstellung von einem Minimallohn (sei es durch Mindestlöhne, sei es durch Lohnzuschüsse) und für die Schutz des Arbeitnehmers vor Ausbeutung und stehen damit im klaren Widerspruch zu heutigen Forderungen neoliberaler Politik.

Der Markt dient der Gesellschaft

Während heutige Wirtschaftsreformen bisweilen den Eindruck erwecken, als versuche die Politik, einzelne Menschen bzw. die Gesellschaft als Ganzes zur „fordern“, um sie auf maximale wirtschaftliche Effizienz hin zu trimmen bzw. „fit für den Markt“ zu machen, stand für die Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft außer Frage, dass der Markt der Gesellschaft dienen soll – und nicht die Gesellschaft dem Markt (Erhard 1962; 1973). Röpke (1958: 149) plädiert etwa für ein gesundes Mittelmaß:

Romantisch-moralistische Wirtschaftsverachtung (…) muß uns ebenso fern liegen wie Ökonomismus, Materialismus und Utilitarismus.

Ein einseitiger Fokus auf materiellem Wohlstand, eine Philosophie des Nützlichkeitsdenkens, ein Kult der Produktivität, der materiellen Expansion und des Lebensstandards seien maßlos (Röpke 1958: 151) und würden die Wirtschaft vor die Gesellschaft zu setzen, also das Mittel zum Zweck und damit das Leben freudlos machen. So führt Röpke (1958: 174) weiter aus:

Es ist der wahre Fluch der Kommerzialisierung, daß hier das Überquellen des Marktes und seiner Maßstäbe auf Bereiche, die jenseits von Angebot und Nachfrage liegen sollten, die eigentlichen Ziele, Würden und Würze des Lebens in einer Weise opfert, die (…) das Leben unerträglich hässlich, würdelos und langweilig machen muß.

Stattdessen muss eine funktionierende Wirtschaft moralisch und gesellschaftlich eingebettet sein, und die Gesellschaft muss der Wirtschaft Grenzen setzen, da sie es laut Röpke (1958: 131) selbst nicht kann:

die Marktwirtschaft ist nicht alles. Sie muß in einen höheren Gesamtzusammenhang eingebettet sein, der nicht auf Angebot und Nachfrage, freien Preisen und Wettbewerb beruhen kann. Sie muß vom festen Rahmen der Gesamtordnung gehalten sein, die nicht nur die Unvollkommenheiten und Härten der Wirtschaftsfreiheit durch Gesetze korrigiert, sondern auch dem Menschen die seiner Natur gemäße Existenz nicht verweigert. Der Mensch aber kann nur dann volle Erfüllung seiner Natur finden, wenn er sich willig einer Gesellschaft einfügen und sich ihr solidarisch verbunden fühlen kann.

„Wohlstand für alle“ als Ziel der Marktwirtschaft

Wenn der Markt der Gesellschaft dient, was sind dann aber die Ziele der Marktwirtschaft? In den Schriften der Ordoliberalen findet sich nichts dazu, dass sich die Gesellschaft aus Gründen der nationalen Wettbewerbsfähigkeit den Banken (Prisching 2012, Reichertz 2013) oder multinationalen Unternehmen unterzuordnen habe. Vielmehr sind auch diesbezüglich die Aussagen der Ordoliberalen deutlich: Marktwirtschaft hat ihre Berechtigung darin, dass sie Armut überwindet (nicht erzeugt!) und „Wohlstand für alle“ (Erhard 1962: 337) schafft. Erhard (1962: 339) argumentiert.

Wollten wir nicht in geschichtsloser Primitivität verharren und versinken, dann durften wir uns nicht in dem sozialistischen Versuch einer vermeintlich gerechten Verteilung der Armut erschöpfen, sondern wir mußten die Armut selbst überwinden. Das aber heißt, daß wir Massenkaufkraft, „Wohlstand für Alle“ schaffen mussten.

An anderer Stelle wendet sich Erhard (1957: 7; Betonung wie um Original) gegen eine zu große Einkommensungleichheit, insbesondere in der heutigen Sprache „die Superreichen“:

So wollte ich jeden Zweifel beseitigt wissen, daß ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsordnung anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand führen vermag. Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden. Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet.

Erhard (1957: 9 und 1957: 220; Betonung wie um Original) betont außerdem, dass die Marktwirtschaft dabei immer nur das Mittel zum Zweck ist:

„Wohlstand für alle“ und „Wohlstand durch Wettbewerb“ gehören untrennbar zusammen; das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt.

Solche Andeutungen mögen genügen, die enge Verquickung zwischen dem Streben nach Aufrechterhaltung des Wettbewerbs und dem Wunsch nach Steigerung des Lebensstandards deutlich zu machen. Es ist ökonomisch auf die Dauer sogar unmöglich, das eine zu wollen und gleichzeitig auf das andere zu verzichten.

Die Marktwirtschaft erzielt also ihre Legitimität nur dadurch, dass sie für alle (oder zumindest den größten Teil der) Mitglieder einer Gesellschaft höheren Wohlstand bringt als die Planwirtschaft und dadurch demokratiefördernd wirkt. Hierzu Erhard (1957: 219; Betonung wie um Original):

Der Tatbestand der sozialen Marktwirtschaft ist vielmehr nur dann als voll erfüllt anzusehen, wenn entsprechende der wachsenden Produktivität zugleich Preissenkungen wirksam und damit echte Reallohnsteigerungen möglich werden.

Der Staat muss dem Markt Grenzen setzen

Wirtschaftliche Systeme, die nur einer kleinen Elite zugutekommen, sind aus demselben Grund abzulehnen. [3] Aus diesem Grund sprachen sich die Ordoliberalen nicht nur gegen die zentrale Lenkungswirtschaft, sondern mindestens ebenso vehement gegen den Wirtschaftsliberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts aus, der die Ordnung der Wirtschaft der Selbstregulierung des Marktes überlassen wollte und deshalb einen Nachtwächterstaat forderte (Erhard 1957: 9; Müller-Armack 1981: 167-77; 183-184; Müller-Armack 1988: 6-7; Starbatty 1982: 9; Zinn 1992: 31). Vielmehr müsse eine funktionierende Wirtschaft moralisch und gesellschaftlich eingebettet sein, und die Gesellschaft bzw. der Staat müsse dem Markt Grenzen setzen, wo der Markt versagt. So etwa Röpke (1958: 193 und 1958: 168):

Wir wissen zur Genüge, daß es töricht wäre, Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage für Einrichtungen zu halten, von denen wir auf allen Gebieten und unter allen Umständen das Beste erwarten können.

Mit anderen Worten: das Wirtschaftsleben spielt sich selbstverständlich nicht im moralischen Vakuum ab. Es ist vielmehr dauernd in Gefahr, die ethische Mittellage zu verlieren, wenn es nicht von starken moralischen Stützen getragen wird.

Soziale Probleme werden also nicht nur durch willkürliche Eingriffe, sondern auch durch systemwidrige Unterlassungen (Laissez-faire) und wirtschaftspolitische Experimente von Seiten der Politik verursacht (Habermann 1994: 320-321; Zinn 1992: 32-33). Um einen „Dritten Weg“ zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und autoritärer staatlicher Verwaltungswirtschaft zu finden, muss das optimale Mischungsverhältnis aus Markt und Staat gefunden werden. Das Credo lautet also nicht „kein Staat“, sondern „soviel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“ (Müller-Armack 1988: 17; Starbatty 1982: 9-10). Diese staatlichen Eingriffe betreffen v. a. folgende Bereiche: [4]

  1. Der Staat setzt den Rahmen für marktwirtschaftlichen Wettbewerb, z. B. über Eigentums-, Vertrags-, Gesellschafts-, Patentrecht usw. (Eucken 1960: 26).
  2. Sich selbst überlassene Märkte haben eine Tendenz zur Selbstzerstörung und können sehr unterschiedliche, auch ineffiziente Marktformen hervorbringen. Die großen Gefahren und Sünden eines entfesselten Marktes sind Instabilität der Wirtschaft allgemein (!) bzw. der Finanzmärkte (!) (Eucken 1960: 54), Monopole, Oligopole, Kartelle (einschließlich wirtschaftlicher Großunternehmen) (!), die Durchsetzung partikularistischer Eigeninteressen einzelner Gruppen wie etwa der Gewerkschaften oder der Arbeitgeber [5] (Erhard 1957: 9; 141-146; 164-197; Eucken 1960: 30-43; Erhard 1962: 112-117; 201-208; Böhm 1980: 213-324).

Bestimmte gesellschaftlich relevante Bereiche sind dem Marktprinzip nicht zugänglich, z. B. der Umweltschutz. Hier sind staatliche z. B. Normensetzung, Festlegung von Höchstgrenzen und Abgaben erforderlich. Ebenso wie etwa Durkheim (1992) und andere frühe Soziologen betonen die Ordoliberalen außerdem die nichtkontraktuellen Grundlagen des Vertrags (Baur 2008a), d. h. dass Marktwirtschaft auf Vorleistungen der Gesellschaft zurückgreifen muss, um funktionieren zu können, so etwa Röpke (1958: 169-170):

Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen – das alles sind die Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen. Sie sind die unentbehrlichen Stützen, die beide vor Entartung bewahren. Familie, Kirche, echte Gemeinschaften und Überlieferung müssen sie damit ausstatten.

Manche Lebensbereiche liegen jenseits von Angebot und Nachfrage, wie etwa Ausbildung, Bildung, Freizeit, Familie (Eucken 1960: 319-320). Der Markt allein wäre mit ihnen überfordert und bringt ineffiziente Ergebnisse, weshalb der Staat aus ethischen Gesichtspunkten eingreifen muss, z. B. durch Familienpolitik, Arbeitsmarktpolitik und Berufsbildung. So betont Röpke (1958: 183-184):

Diese allgemeine Erkenntnis (…) führt uns zu der besonderen, daß der Markt sehr oft in lebenswichtigen Fragen die Gewichte verschiebt, weil er einseitig diejenige Aktivität begünstigt, die Quelle des Gewinnes ist, während die gegen diese Aktivität vorzubringenden Gründe auf dem Markte nicht zur Geltung kommen und doch im Allgemeininteresse das größere Gewicht haben sollten.

Der Markt kann unsoziale Ergebnisse hervorbringen (z. B. eine zu hohe Einkommensungleichheit), die gesellschaftlich ausgeglichen werden müssen, wobei diese Eingriffe marktkonform sein sollen (Lange 1988: 139; Starbatty 1982: 18-19). Hierzu gehören neben der Sozialpolitik auch Mittelstands‑, Wettbewerbs‑, aktive Konjunktur‑, Kredit‑, Geld- und Preis‑, Struktur‑, Bau- und Wohnungs‑, Außenhandels- sowie regionale Entwicklungspolitik (Müller-Armack 1988: 15-16; Zinn 1992: 32-33; 45-47). Das Volumen der Einkommensumverteilung hat dabei zwei Grenzen: Die Obergrenze ist ein Umverteilungsvolumen, das so groß ist, dass es leistungshemmend wirkt, weil sowohl für die Beitragszahler, als auch die sie Leistungsempfänger die Leistungsanreize schwinden. Gleichzeitig gibt es aber auch eine Untergrenze für das Umverteilungsvolumen: Sind die Sozialleistungen gering, wächst die Opposition gegen die Marktwirtschaft und destabilisiert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das politische System (Erhard 1957: 11-12; Erhard 1962: 302-309; Lange 1988: 139). Lange (1988: 143) arbeitet heraus, welche Formen der staatlichen Angriffe konkret als marktkonform gelten und welche nicht.

Der ‚Ordo‛ – Ganzheitliches Denken in Wirtschaftsstilen

Die Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft betonten, dass verschiedene Wirtschaftsprozesse, also z. B. gesamtwirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsmarkt, eng miteinander verwoben sind. Eucken (1960: 7) argumentiert etwa:

Es besteht die vollständige Interdependenz aller wirtschaftlichen Erscheinungen, aller Bewertungen, aller Handlungen.

Je komplexer eine Gesellschaft, desto komplexer das Ganze (Eucken 1960: 1-9), d. h. die Ordoliberalen argumentieren – ähnlich wie etwa Simmel (1901) oder Elias (1970) –, dass sich im Laufe der Modernisierung die Interdependenzketten immer mehr verlängern und damit die Verflochtenheit verschiedener wirtschaftlicher (und sozialer) Phänomene zunimmt. Ähnlich wie die Vertreter der „Varieties of Capitalism“-Debatte (Kocka 2006) sahen die Ordoliberalen Volkswirtschaften folglich als komplexe, aufeinander abgestimmte Systeme, die in eine Gesamtordnung eingebettet und eng mit dieser verwoben sind. Diese setzt sich wiederum aus verschiedenen staatlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, technischen und rechtlichen Gebieten zusammen. So meint Erhard (1962: 354):

In einem geordneten staatlichen Leben stehen aber die Lebens- und Kulturbereiche, wie Wirtschaft, Bildung, Verwaltung, Elternhaus und Kirche, nicht beziehungslos nebeneinander, sondern ihre Verflochtenheit untereinander und die gegenseitige Befruchtung zu höherer Leistung, die dem einzelnen und der Gesamtheit zugute kommen, werden überall sichtbar.

Da sich verschiedene Gesellschaften und historischen Epochen voneinander entscheiden, gibt es nicht „die ideale Marktwirtschaft“, die für alle Gesellschaften gleich sind. Vielmehr ist die Gestaltung der Gesamtordnung durch einen bestimmten Stilgedanken – des „Ordo“ – geprägt, der eine Gesellschaft und eine Epoche unverwechselbar macht und (innerhalb derselben Gesellschaft) von vorhergegangen Epochen mitbestimmt ist (Eucken 1960; Behlke 1961: 52; Starbatty 1982: 12-15; Müller-Armack 1981: 180-189; Müller-Armack 1988: 7). Daraus folgt zweierlei:

Erstens taucht bereits der Gedanke der Pfadabhängigkeit auf (Borchert 1998; Mósesdóttir 2000; Pfau-Effinger 1999, 2001, 2004; Crouch/Farrell 2002, Thelen 2002), insofern dass Wirtschaftsordnungen nicht beliebig gestalten werden können, sondern frühere Entwicklungen mit berücksichtigt werden müssen: Der Mensch kann sich zwar die reale geschichtliche Situation, in die er hineingeboren wird, nicht aussuchen, aber er kann diese Situation mehr oder minder verändern und gestalten. Die Zukunft ist also immer offen. Alles, was der Mensch bewirkt, hat dabei nur vorläufigen Charakter. Deshalb kann es auch keine Standardrezepte zur Lösung sozialer Probleme geben, sondern zu jeder Zeit muss eine neue, dieser Zeit angemessene Lösung gefunden werden, die auch nie perfekt sein kann (Müller-Armack 1981: 168-170; 182-183; Müller-Armack 1988: 8). Die soziale Marktwirtschaft ist deshalb ein offenes Konzept, dass an sich verändernde gesellschaftliche Umstände angepasst und weiterentwickelt werden muss (Müller-Armack 1988: 17). Die Wirtschaftspolitik darf außerdem auch nicht zu häufig, zu stark oder zu rasch verändert werden, weil dies die Unsicherheit der Unternehmen erhöht und dadurch die Investitionsbereitschaft hemmt (Habermann 1994: 320; Zinn 1992: 38-40).

Zweitens genügt es nicht, jeden wirtschaftlichen und sozialen Bereiche getrennt zu gestalten, reformieren und zu optimieren. Um etwa Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, genügt es nicht, die Arbeitslosenversicherung zu reformieren. Vielmehr müssen die Gesamtordnung und die Auswirkungen eines Teilbereichs auf die anderen berücksichtigt werden. Beispielsweise greifen Rechtsprechung (insbesondere das Eigentumsrecht), industrielle Beziehungen, soziale Sicherungssysteme, Ausbildungswesen usw. ineinander. Veränderungen in einem dieser Bereiche beeinflussen alle anderen. Wer den Blick für das Ganze verliert, beeinträchtig möglicherweise durch scheinbar harmlose Änderungen die gesamte Wirtschaft (Habermann1994: 319; Zinn 1992: 42-43). Eucken (1960: 9) schlägt in dieselbe Kerbe:

Damit diese Wirtschaftsordnung zureicht, und den gesamten Wirtschaftsprozeß vernünftig lenkt, ist es nötig, daß alle einzelnen Ordnungsformen – mag es sich um staatlich gesetzte, etwa handelspolitische, preispolitische, kreditpolitische oder um gewohnheitsmäßig gewordene Formen handeln – einander ergänzen.

Diese Vernetztheit bedeutet, dass Sozial- und Wirtschaftspolitik unweigerlich miteinander verwoben sind, und die beste Sozialpolitik ist für die Ordoliberalen eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, da sie den Wohlstand und die Basis der Verteilung schafft (Eucken 1960: 313-315, hier 313):

Es ist eine der Hauptansichten dieses Buches gewesen, immer wieder deutlich zu machen, daß die Sozialpolitik nicht als Anhängsel der übrigen Wirtschaftspolitik beachtet werden sollte, sondern in erster Linie Wirtschaftsordnungspolitik zu sein hat. Ob es sich um Geld‑, Kredit‑, Devisen- oder Kartellpolitik handelt, oder ob von der Stellung des Arbeiters auf dem Arbeitsmarkt, im Betrieb oder von seinem häuslichen Geschickt die Rede ist, stets werden die Arbeiter mitbetroffen. Es gibt nichts, was nicht sozial wichtig wäre. Es gibt keine wirtschaftspolitische Maßnahme, die nicht zugleich auch, sei es direkt oder indirekt, soziale Auswirkungen und soziale Bedeutung hätte. Wer soziale Interessen vertreten will, sollte daher sein Augenmerk vor allem auf die Gestaltung der Gesamtordnung richten. Durch die allgemeine Ordnungspolitik muß versucht werden, die Entstehung sozialer Fragen zu verhindern. Entstehen sie doch, so ist zuerst zu prüfen, ob es sich nicht um Sekundärwirkungen irgendwelcher auf ganz anderem Gebiete liegender Maßnahmen handelt.

Erst die hohe Produktivität infolge der Marktwirtschaft schafft die Mittel zur staatlichen Sozialpolitik. Gleichzeitig sind jedoch soziale Gerechtigkeit und soziale Solidarität Teil menschlicher Verantwortung. Deshalb sollen das Markt- und das Sozialprinzip grundsätzlich gleichrangig sein und optimal aufeinander abgestimmt werden. Keines darf dem anderen übergeordnet sein (Müller-Armack 1981: 150-151; Müller-Armack 1988: 11-13; Starbatty 1982: 9-10). Entsprechend bedeutet das Plädoyer für Marktwirtschaft keineswegs, dass Sozialpolitik überflüssig ist. Erhard (1957: 257; Betonung wie um Original) folgert:

Damit soll nicht geleugnet werden, daß eine auch noch so gute Wirtschaftspolitik in modernen Industriestaaten einer Ergänzung durch sozialpolitische Maßnahmen bedarf.

Und Eucken (1960: 313) fügt hinzu:

Daß auch bei der besten Ordnungspolitik soziale Hilfsmaßnahmen nötig sein werden, wird niemanden verwundern, der in menschlichen Ordnungszusammenhängen zu denken gewohnt ist.

Erhard (1962: 303, eigene Betonung) wiederum ergänzt:

Einerseits sind um so weniger sozialpolitische Eingriffe und Hilfsmaßnahmen notwendig, je erfolgreicher die Wirtschaftspolitik ist. Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß auch eine noch so gute Wirtschaftspolitik in der modernen Industriewirtschaft durch sozialpolitische Maßnahmen ergänzt werden muß. Andererseits gilt aber auch, daß eine erfolgreiche soziale Hilfe nur auf der Grundlage eines genügend hohen und wachsenden Sozialprodukts und damit einer leistungsfähigen Wirtschaft möglich ist. (…) Da die ereichte Größenordnung der Einkommensübertragungen über die Sozialhaushalte (…) einen gewichtigen Faktor im Wirtschaftsprozeß darstellt, besteht heute eine teilweise recht enge Interdependenz zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik. Die volkswirtschaftlich neutrale und autonome Sozialpolitik gehört daher der Vergangenheit an und muß einer Sozialpolitik Platz machen, die mit der Wirtschaftspolitik abgestimmt ist, d. h. die volkswirtschaftliche Produktivität nicht beeinträchtigt und den Grundprinzipien der marktwirtschaftlichen Ordnung entspricht.

Verschiedene Teilbereiche staatlicher Politik – also Arbeitsmarkt‑, Sozial‑, Frauen‑, Familien‑, Gesundheits‑, Bildungs‑, Haushalts‑ und Finanzpolitik, Einkommenssicherung usw. – sind demnach eng aufeinander bezogen und müssen als Ganzes gedacht werden (Erhard 1962: 568; Amoroso 1996: 49). Änderungen in einem Bereich beeinflussen die anderen Bereiche, weshalb die Politik die Wirtschaftsordnung als Ganzes gestalten muss. In Euckens (1960: 312-313) Worten:

An sozialpolitischen Einzelmaßnahmen hat es nicht gefehlt (…). Im Laufe der Zeit hat es sich jedoch gezeigt, daß mit Regelungen, die aus punktuellem Denken hervorgegangen sind, soziale Fragen nicht zureichend gelöst werden können (…) Hier Löhne erhöhen, dort Unfälle in Betrieben verhindern, oder Wohlfahrtseinrichtungen schaffen usw., ist zwar wichtig, aber es genügt nicht. Diese punktuelle Behandlung des Problems muß zurücktreten. Aber nicht, weil das Anliegen der Sozialpolitik nebensächlich geworden wäre. Im Gegenteil. Weil es so vordringlich ist, muß es für das gesamte Denken über die Wirtschaftsordnung mitbestimmend sein.

Zusammenfassend ist für das Denken der deutschen Variante des Neoliberalismus ein ganzheitliches Denken (Baur 2008b) zentral, das insbesondere betont, dass Wirtschaft, Arbeitsmarkt(politik) und Sozialpolitik eng miteinander verwoben sein sollten. Alle (wirtschafts‑)politischen Reformen müssen die Auswirkungen auf Gesamtsystem beachten, leitgebend für alle Reformen sollten aber nicht die Erfordernisse der Wirtschaft, sondern die Bedürfnisse der Gesellschaft sein. Insbesondere dem Kampf für (existenzsichernde und sichere) Arbeitsplätze und gegen Arbeitslosigkeit kommt in modernen Gesellschaften eine zentrale Bedeutung zu. Soweit zum Thema, dass sich die (deutsche) Politik am Konzept der sozialen Marktwirtschaft orientiere. Immerhin hat die FDP in ihrem aktuellen Positionspapier zur sozialen Marktwirtschaft eingelenkt, dass die Finanzmärkte besser reguliert werden müssen …

 

 

Anmerkungen

[1] Ausschnitte dieses Textes sowie weiterführende Ausführungen dazu, wie es dazu kommen konnte, dass uns dieses ganzheitliche Denken verloren gegangen ist, sowie dazu, welche Konsequenzen dies hat, finden sich in Baur (2008b).

[2] Aus dem Gedanken, dass Marktwirtschaft Demokratien stabilisieren kann, folgt aber im Umkehrschluss nicht, dass Marktwirtschaft automatisch zu Demokratie führt. So betont Röpke (1958: 131):

Die Wahrheit ist eben, daß eine Gesellschaft Marktwirtschaft und zugleich gefährlich ungesunde gesellschaftliche Grundlagen und Verhältnisse haben kann.

[3] Auch hier wird erneut deutlich, wie sehr die Ordoliberalen individuelle Freiheit und die Abhängigkeit von bzw. Verantwortung für die Gesellschaft zusammendachten. So schreibt (Müller-Armack 1988: 9):

Jeder [Mensch] trägt Verantwortung für sein Leben (…) Gleichzeitig trägt der Mensch aber auch soziale, d. h. auf die Gesellschaft bezogene Mitverantwortung (…) die menschliche Verantwortung [zielt] auf ein Gleichgewicht aller wichtigen Lebensaspekte hin. Ziel muss ein Gesamtoptimum sein – wenn es sich auch in der Wirklichkeit kaum realisieren läßt.

Unterschiedliche Menschen sind unterschiedlich leistungsfähig, und gerade für die wirtschaftlich Erfolgreichen erwachsen gerade aus ihrem Erfolg die „Pflichten des Reichtums“ (Röpke 1958: 178), zu denen u. a. Führung, Verantwortung, Vorbildcharakter in der Lebensführung und Mäzenentum gehören (Röpke 1958: 175-179). Dass dieses Gedankengut bis heute fortwirkt, wird etwa an der öffentlichen Empörung über Steuerhinterziehungen und Korruption von Führungskräften in Politik und Wirtschaft deutlich.

[4] Die Ordoliberalen legten in ihrem Werk den Schwerpunkt auf den ersten beiden Aspekten, und die politischen Reformen der Nachkriegszeit zielten vornehmlich darauf ab, den Selbstzerstörungstendenzen Grenzen zu setzen, was u. a. die Währungsreform und der Gründung der Bundesbank (1948/1958), der Reform der Bankenaufsicht (Gesetz über das Kreditwesen 1961), dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (1957) und Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (1967) zur Folge hatte. Der Schwerpunkt in diesem Aufsatz liegt aber auf dem Verhältnis von Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Sozialstaat, also den drei letzten Aspekten. Ich werde im Folgenden diskutieren, wie sich die Ordoliberalen dieses Verhältnis vorstellten.

[5] So wettert etwa Erhard (1957: 222; Betonung wie um Original) gegen die Arbeitgeber:

Zu wiederholten Malen habe ich darum erklärt, daß der so oft geübte grundsätzliche Widerstand der Arbeitgeber gegenüber Lohnerhöhungen, die dank einer gesteigerten Ergiebigkeit unsrer Volkswirtschaft nicht nur möglich, sondern für die Stabilität unserer Währung sogar notwendig und sinnvoll sein können, nicht in das System der Marktwirtschaft paßt. Ein solcher Widerstand mißachtet die Zielsetzung der Marktwirtschaft (…) sogar gröblich. Es erscheint mir mißlich, wenn die Arbeitgeber niemals von sich aus eine Aktivität zugunsten einer an sich möglichen Lohnerhöhung ergreifen, sondern immer erst dann tätig werden, wenn die Gewerkschaften darauf drängen.

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Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie