Nerds, Nerdettes #2 Die Anormalität des Nerd

Was bedeutet es, wenn Menschen von sich sagen: „Ich bin ein Nerd.“ Was bedeutet es, wenn Menschen über andere sagen: „Er/sie ist ein Nerd?“ Was bedeutet es, von „den Nerds“ im Plural zu sprechen? Mit dieser Frage will ich mich heute genauer auseinandersetzen.

#Exkurs: Sozialfigur# Zunächst aber möchte ich einen kleinen Nachtrag zum ersten Beitrag leisten. Mir ist durch die Kommentare aufgefallen, dass es gut sein könnte, eine genauere Bestimmung des Begriffs „Sozialfigur“ anzubieten. Daher zunächst ein etwas längeres Zitat aus der Einleitung des im letzten Post angesprochenen Buch „Sozialfiguren der Gegenwart“:

„Wirft man einen genaueren Blick auf aktuelle Analysen zu Milieus, Lebensräumen, Subkulturen, Jugendszenen, Subjektivierungsformen oder schaltet man einfach nur den Fernseher ein, so fällt auf, dass wir stets mit einer Vielzahl von Sozialfiguren konfrontiert werden. Vom Flaneur bis zum Spekulanten, vom Fußballfan bis zum Flüchtling, vom Hacker bis zum Migranten – überall stoßen wir auf Typen bzw. ‚Typisierungen‘ (Alfred Schütz), mit denen Ordnung in die Vielfalt der empirischen Erscheinungen gebracht werden soll. Was aber sind Sozialfiguren? Sozialfiguren sind zeitgebundene historische Gestalten, anhand derer ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann. Sie sind nicht zu verwechseln mit bestimmten Rollen, die der Einzelne im Laufe seines Lebens sukzessive oder auch zu einem bestimmten Zeitpunkt gleichzeitig übernimmt.“ (Moebius/Schroer 2010: 7f.)

Eine Sozialfigur ist also keine Rolle, sondern eher eine in einem bestimmten historischen Zusammenhang virulent gewordene soziale Kategorisierung, die zur Selbst- und/oder Fremdbeschreibung genutzt wird.

Während Rollen wie Schülerin, Vater oder Doktorandin mit Niklas Luhmann auf die Inklusion einer Person in ein bestimmtes Funktionssystem hinweisen (Schülerinnen und Lehrerinnen gibt es im System der Erziehung, Väter im System der Familie, Doktorandinnen im System der Wissenschaft) (vgl. Luhmann 1984), ist die Sozialfigur freier. Sie kann „durch die ganze Gesellschaft vagabundieren“ (Moebius/Schroer 2010: 8) und als Stereotyp wirken. Vielleicht kennen viele Leser*innen Georg Simmels „Exkurs über den Fremden„. Der Text ist für mich das Beispiel für die Beschreibung einer deutungsmächtigen Sozialfigur.

Mehr noch als Rollen, die (zumindest lt. Luhmann) vom Geschlecht abstrahieren können sollen, sind viele Sozialfiguren binär geschlechtlich codiert: man denke nur an die Blondine, den Amokläufer oder eben den Nerd in seiner stereotypen Fassung als technikverliebter Eigenbrödler. An diesem Punkt wird auch deutlich, dass es bei einer Reflexion der Figur des Nerd/der Nerdette nicht darum geht, konkrete Menschen als nerdy zu beschreiben. Es geht vielmehr darum, wann und warum ein Mensch in einer Situation als Nerd/Nerdette beschrieben wird oder sich selbst so beschreibt. (In den Kommentaren zum vorherigen Post findet sich hierfür sehr schönes Anschauungsmaterial in Form von Videos).

Exkurs Ende. #Der Nerd als soziale Adresse Nach dieser sehr langen Vorrede also nun zurück zum Nerd als einer sozialen Adresse. Mich persönlich interessiert dabei besonders, inwiefern die Adressierung als Nerd als Hinweis auf politische Inklusions- und Exklusionsverhältnisse lesbar ist. Das liegt daran, dass mir die Figur des Nerd zum ersten Mal im Zuge der Gründung der deutschen Piratenpartei im Jahre 2009 als Ziel von Spott und Angriffen bewusst geworden ist. Im Kommentar 8 zum vorhergehenden Beitrag formuliert BlogLeserin:

„Vielleicht sind „Sozialkompetenz“ und „Authentizität“ die relevanten Gesellschaftsdimensionen, zwischen deren Extremen diese sozialen Figuren balancieren (Nerd = nicht „sozial kompetent“ / sehr authentisch; Hipster = genau anders herum).“

Ich finde diesen Gedanken sehr hilfreich, da er mir ermöglicht, die Anormalität des Nerd/der  Nerdette über die Abgrenzung in den Blick zu nehmen. Der Hipster wäre dann eine sozial sehr angepasste, konforme, normale, ungefährliche Figur. Der Nerd hingegen wäre sozial inkompetent, irgendwie seltsam und in diesem Seltsamsein eine Irritation für Kollektive und jene Agenturen, die über die Anpassung an Normalität(en) wachen; er besäße also ein subversives Potential. (Es liegt auf der Hand, dass man diese Zurechnung eines subversiven Potentials als Romantisierung des Nerd verstehen kann…)

#Der Nerd als das Andere der Politik? Für Kritiken der Netzkultur und der Netzpolitik ist die Diffamierung des Nerd als einem sozialen Autisten „der im Computer wohnt“ ein wichtiges Argument. Der Nerd wird als das Andere der Politik rekonstruiert. Es wird ihm abgesprochen, sich überhaupt für das Kollektiv und die Gesellschaft, die dagegen als Totalität rekonstruiert wird, zu interessieren.

Die Sorge, Jugendliche könnten ihre Zeit „vor dem Rechner“ statt in Gesellschaft realer Menschen verbringen, ist zudem immer wieder Thema gesundheitspolitischer Initiativen. Der überbordende therapeutische Diskurs um „Online-Sucht“ lässt sich in diesem Sinne als Versuch, den anormalen Nerd in die „Gesellschaft der Hipster“ zurückzuholen, interpretieren.

In Ruhe gelassen wird der Nerd/die Nerdette erst, wenn sich so viel ökonomischer Erfolg eingestellt hat, dass eine Kritik am Baller- oder Live-Rollenspiel, an der Computer-Abhängigkeit oder Twittersucht, sich erübrigt. (Ein Doktortitel hilft hierbei übrigens beträchtlich.)

Nachtrag: Da ich so viele interessante Kommentare bekommen habe, auf die ich gerne eingehen wollte, ist der oben stehende Beitrag länger, unsystematischer und weniger empirisch als meine Planung vorsah. Im nächsten Beitrag werde ich endlich die Interpretation empirischer Beispiele angehen. Für die Mühe der Kommentierung und die vielen guten Gedanken und Beispiele bedanke ich mich. Bei Twitter findet man mich übrigens als @grautoene.

 

Literatur:

Niklas Luhmann (1984). Soziale Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Stephan Moebius und Markus Schroer (2010) (Hg.). Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp.

31 Gedanken zu „Nerds, Nerdettes #2 Die Anormalität des Nerd“

  1. „Der Hipster wäre dann eine sozial sehr angepasste, konforme, normale, ungefährliche Figur. Der Nerd hingegen wäre sozial inkompetent, irgendwie seltsam und in diesem Seltsamsein eine Irritation für Kollektive und jene Agenturen, die über die Anpassung an Normalität(en) wachen; er besäße also ein subversives Potential.“

    Durch diese Passage konnte ich meine ersten Gedanken besser ordnen: Meine ungünstige Formulierung „Sozialkompetenz“ möchte ich durch „Konformität“ ersetzten.

    Hipster gelten als charakterlose Marionetten des Kapitalismus; Nerds/Nerdettes wohnt eine selbstbewusste Widerständigkeit inne. In gewisser Weise funktionieren diese Figuren auch antagonistisch. Und ebendiese Abgrenzung halte ich für wichtig, da sie auf den Kontrast von Mainstream-Kultur und Subkultur verweist. M. E. findet sich die Selbstbezeichnung „Nerd/Nerdette“ vor allem in kapitalismuskritischen (z.B. Piraten) und queer│feminischen Kontexten und dient hier der Sichtbarmachung von nicht-konformen Identitäten, die sich so eine hörbare Stimme aneignen.

    1. Und da diese widerständigen Stimme eine Gefährdung der bestehenden sozialen Ordnung (Kapitalismus, Geschlechterordnung, …) darstellt, soll die abwertend konnotierte Fremdbezeichnung „Nerd/Nerdette“ eine Relativierung des Gewichts dieser Identitäten und gleichsam eine Aufwertung der konformen Subjekte erwirken.

      1. Durch diese Passage konnte ich meine ersten Gedanken besser ordnen: Meine ungünstige Formulierung „Sozialkompetenz“ möchte ich durch „Konformität“ ersetzten.

        Ich mochte die „soziale Kompetenz“ ganz gerne, weil sie auch auf gewisse Formen des „Antrainierens“ dieser als ein aktives Tun hinweist. Konform sein kann ich auch ganz inaktiv. Was dem Nerd*der Nerdette vorgeworfen wird ist ja, dass sie/er sich sowas wie Freizeitbetätigungen „die alle tun“ entzieht.

        „Hipster gelten als charakterlose Marionetten des Kapitalismus; Nerds/Nerdettes wohnt eine selbstbewusste Widerständigkeit inne. In gewisser Weise funktionieren diese Figuren auch antagonistisch. Und ebendiese Abgrenzung halte ich für wichtig, da sie auf den Kontrast von Mainstream-Kultur und Subkultur verweist.“

        Das ist eine sehr spannende Frage, ob und inwiefern der Konformismus des Andersseins im Hipstertum schon den Begriff des Nerds so weichgespült hat, dass er sich weniger für Identitätspolitiken des Widerständigen eignet. Andererseits schreibt Butler irgendwo (sorry, ich will das jetzt nicht suchen, kann’s aber nachliefern), dass die Subversion sich immer auch für das, was Du oben Mainstream nennst, „lesbar“ halten muss. Dann wäre die tw. Aneignung des Begriffs oder von „Typenmerkmalen“ „noch“ kein Problem. Zumal da auch eine Rolle spielt, was Fritz Iversen in seinem Kommentar zum Schluss schreibt. Wenn der Hipster sich eine Brille mit dickem Rand kauft, ist das für das Doing Nerd – also das frickeln, basteln, obsessiv verkünsteln doch unerheblich… Oder?

        1. „Wenn der Hipster sich eine Brille mit dickem Rand kauft, ist das für das Doing Nerd – also das frickeln, basteln, obsessiv verkünsteln doch unerheblich… Oder?“

          Darüber muss ich erst einmal nachdenken. Mein erster Impuls: Wenn die gekaufte Brille als „Nerd-Brille“ (Sprechen als Handeln) gehandhabt wird, inszeniert der/die TrägerIn sich in gewisser Weise als ‚nerdy‘ und das wäre ebenfalls Doing-Nerd.

          Welcher Subversionsbegriff – Widerständigkeit oder das, im bulter’schen Sinne, verfehlte Zitieren von „Zitaten ohne Original“ – in diesem Zusammenhang zielführend ist, bleibt abzuwägen.
          Ganz aufschlussreich hierzu ist die M.A.-Arbeit von Chris Köver (2005) zum subversiven Potential von Buffy (the Vampire Slayer) im Kontext von Heteronormativität:
          http://chriskoever.glizz.net/docs/MA_FinalVersion.pdf

          1. Dass Du die Arbeit von C. Köver über Buffy zitierst ist wunderbar, von der habe ich vor Jahren mal durch eine Freundin was gelesen und ich werde auf jeden Fall wieder reinschauen. Danke!

            –„Wenn der Hipster sich eine Brille mit dickem Rand kauft, ist das für das Doing Nerd – also das frickeln, basteln, obsessiv verkünsteln doch unerheblich… Oder?“

            Darüber muss ich erst einmal nachdenken. Mein erster Impuls: Wenn die gekaufte Brille als „Nerd-Brille“ (Sprechen als Handeln) gehandhabt wird, inszeniert der/die TrägerIn sich in gewisser Weise als ‚nerdy‘ und das wäre ebenfalls Doing-Nerd.

            Das wäre doch aber Mimikri und Nachahmung aber würde das frickeln, die Liebe zu „irgendeinem“ Gegenstand und dem Wissen sowie die technische Komponente ganz ignorieren? Oder: Nerdsein geht ohne Nerdbrille, aber wer eine Nerdbrille trägt, ist noch lange kein Nerd? Das ist die Frage nach der Verwertung der Nerdiness durch die Hipsterlogik und vermutlich gibt es keine „richtige“ Antwort.

            „Welcher Subversionsbegriff – Widerständigkeit oder das, im bulter’schen Sinne, verfehlte Zitieren von „Zitaten ohne Original“ – in diesem Zusammenhang zielführend ist, bleibt abzuwägen.“

            Ja. Und vielleicht verschließt sich das auch der soziologischen Beobachtung, die Subversion zwar erahnen kann (oder sich erhoffen, wenn sie so normativ sein mag) aber die konkrete Praxis dahingehend nur schwer befragen kann.

  2. Seltsam starke Käuze | charles bukowski

    Du siehst sie nicht oft;
    sie sind nie dort
    wo die Menge ist.

    Diese Sonderlinge. Es
    sind nicht viele
    doch von ihnen
    kommen die
    paar guten
    Bilder, die
    paar guten
    Sinfonien
    die paar guten
    Bücher und
    anderen Werke.

    Und von den
    besten Sonderlingen:
    vielleicht
    gar nichts.

    Sie sind
    ihre eigenen
    Bilder
    ihre eigenen
    Bücher
    ihre eigene
    Musik
    ihr eigenes
    Werk

    Manchmal glaube ich
    einen zu sehen – etwa
    einen alten Mann
    der in einer
    bestimmten Haltung
    auf einer Bank
    sitzt.

    Oder ein flüchtig
    gesehenes Gesicht
    in einem vorbei-
    fahrenden Auto.

    Oder das gekonnte
    Hantieren einer
    Hilfskraft, die
    an der Supermarkt-
    kasse die Sachen
    eintütet.

    Manchmal
    ist es sogar jemand
    mit dem man
    schon länger
    zusammenlebt –
    man merkt es
    an einem blitz-
    schnellen Blick
    den man noch nie
    gesehen hat.

    Manchmal
    werden sie dir
    nur noch als
    plötzliche, lebhafte
    Erinnerung bewußt –
    Monate, Jahre
    danach.

    Ich erinnere mich
    an so einen:
    er war zwanzig
    und starrte morgens
    um zehn in New Orleans
    betrunken in eine
    gesprungenen
    Spiegel –

    Das Gesicht eines
    Träumers vor
    den Mauern
    der Welt.

    Wo
    bin ich
    geblieben?

    Wenn ich über das Phänomen Nerd nachdenke, frage ich mich sofort: wer war der Erste? Und warum gab es ihn überhaupt? Diese Frage ließe sich – aus meiner Sicht – auf mehreren Wegen beantworten:

    1.) Ich versuche eine besondere Konstellation zu beschreiben, in der die Entstehung des Nerds sinnfällig und notwendig wird (ein Beispiel könnte der Übergang in von einer $gesellschaft in die $gesellschaft sein, der mit seinem besonderen Auswirkungen die Entstehung von „Nerd“ als soziale Form wahrscheinlich macht/hervorbringt. In diesem Setting wird der Nerd als soziale Form dann das Resultat einer bestimmten Beschaffenheit des Sozialen. Man könnte dann weiterhin annehmen, dass es es ein ganz bestimmtes, konkretes Subjekt gab, das für Nerds das ist, was – meinetwegen – Sid Vicious für den Punk war, eine Ikone an der sich die Form ausdifferenzieren konnte und Nerd als „Sozialfigur der Gegenwart“, als konkrete soziale Form begründet.

    Mit diesem Vorgehen handele ich mir bestimmte Rucksäcke ein, die ich dann während der Untersuchung mitführen muss: ich unterstelle, dass bestimmte gesellschaftliche Konstellationen soziale Formen in ihr prägen können. Das Soziale ist da – die Formen in ihr folgen und sind durch sie determiniert. Das ist schwierig, weil als Einbahnstraße gedacht. Also in jedem Fall unterkomplex – schließlich wäre es schön, wenn wir in unserem Ansatz auch den Einfluss von sozialen Formen auf die jeweilige gesellschaftlich/soziale Konstellation mitführen könnten. Außerdem muss ich plötzlich Dinge wie gesellschaftliche/soziale Konstellation und soziale Form definieren. Kurz: man handelt sich da jede Menge erkenntnistheoretisch schwierig zu handhabenden Kram ein…

    2.) Man fängt viel einfacher an. Man nimmt nur an, dass Wörter in der Sprache jeweils dann entstehen, wenn es etwas zu bezeichnen gibt. Das heißt dann: Nerd als Wort gibt es, weil etwas bezeichnet werden muss. Und zwar zunächst etwas unbestimmtes, das aber durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet, also von anderen Sachen unterscheidbar ist und offenbar so häufig bezeichnet werden muss, dass sich ein eigenes Wort dafür lohnt und bildet.

    Weiter könnte man fabulieren, das in gesellschaftlichen/sozialen Gebilden nichts dauerhaft besteht, wenn es nicht durch eine zugrunde liegende – wie auch immer geartete – Funktion stabilisiert wird. Es besteht eine dauernde Notwendigkeit nach etwas, das in unserem speziellen Fall dann mit Nerd bezeichnet wird.

    Das heißt wir argumentieren: es gibt ein Wort > es gibt etwas zu benennen, das unterscheidbar und scheinbar dauerhaft da ist > das bezeichnete hat offenbar eine Funktion da es relativ stabil existiert (sonst würde es schneller wieder verschwinden, als das Wort dafür ausgedacht wäre)

    Das führt dann zur nächsten Frage: was kann mit Nerd gemeint sein? Ich würde zunächst sehr allgemein von einer Position im Sozialen sprechen, die durch bestimmte Faktoren gekennzeichnet ist.

    Im ersten Blogbeitrag wurden Faktoren genannt. Soziale Inklusion. Körperliche Präsenz/Macht/Attraktivität. Inkorporiertes Wissen. Das scheinen die Merkmale zu sein, mit denen sich die Koordinaten der Position „Nerd“ beschreiben lassen.

    Woraus sich die Frage ergibt, was heraus kommt, wenn man diese Koordinaten nicht nur auf unsere heutige Gesellschaft anwendet. Womit wir nahe an einer Antwort auf meine Frage: wer war der erste Nerd sind, aber eben auf einem völlig anderen Weg.

    Nerd ist jetzt eine Position die sich unabhängig von der gesellschaftlich gerade herrschenden Ordnung oder Form suchen lassen kann – weil sie nicht durch sie determiniert oder geschaffen wird, sondern durch die Verknüpfung von bestimmten Merkmalen innerhalb einer sozialen Adresse.

    Jetzt könnte man die Frage stellen, welche der drei – ich nenn sie mal Haupteigenschaften – die wichtigste ist… ich plädiere für die spezielle Form des Wissens, die der Nerd inkorporiert: das Nerdwissen.

    Nerdwissen ist – wenn man will – das Gegenteil von Allgemeinwissen. Es ist spezielles Wissen, das auf keinen Fall offensichtlich – meist jedoch in tiefen Verästelungen von Spezialdisziplinen geschaffen und gefunden wird.

    Wenn man zugleich unterstellt, dass Allgemeinwissen wenig relevant und virulent/gefährlich ist – ist, wenn man Nerdwissen als Gegenpol aufbaut, Nerdwissen: relevant, virulent und gefährlich. Warum? Nun: zu wissen, dass auf Donnerstag Freitag folgt, macht keinen heiß. Zu wissen, wie ich eine Atombombe baue, wie ich auf FBI Datenbanken zugreife, wie ich DNA in Mikroben einschleuse, das ist schon ziemlich heiß.

    Wenn wir also annehmen, dass die Form des Wissens „wichtigstes“ Merkmal des Nerds ist, ist die Frage, wie sich die anderen Merkmale dazu verhalten. Das ist nicht ganz einfach, weil hier massenmedial vermittelte Bilder einen ungetrübten Blick erschweren.

    Nicht umsonst kamen im ersten Blogartikel Serienhelden vor: „Nerd“ ist inzwischen hochambivalent besetzt und wird längst zum verkaufen und vermarkten von Kleidung/Brillen(die Nerdbrille als Berlin-Imperativ)/Lifestyle und Zuschreibungen benutzt.

    #Hier muss auch ich einen kleinen Exkurs einfügen#
    Wenn man annimmt, dass es eine soziale Position „Nerd“ gibt. Dann muss man ganz klar zwischen Label und Claim unterscheiden. Es wird Personen/soziale Adressen geben, auf die unsere „Koordinaten“ zutreffen. Das sind dann Nerds nach unserer Definition. Sie werden dann durch uns als Merkmalsträger und damit als Nerds sichtbar und entsprechend bezeichnet/gelabeled.

    Dann wird es Personen/soziale Adressen geben, die behaupten, dass sie Nerds sind. Sie claimen eine bestimmte soziale Position und damit verknüpfte Merkmale/Zuschreibungen. Das hat nichts damit zu tun, dass sie in unsere Beschreibung von „Nerd“ passen. Sondern sie sind erst einmal nur wannabes (ich wollte das Wort so gern benutzen).
    #Exkurs Ende#

    Kurz: wenn wir wirklich wissen wollen, was ein Nerd ist und ob es etwas wie Nerd gibt – müssten wir eigentlich Leute/Personen aufsuchen, auf die unsere gewählten Kernmerkmale zutreffen und mal nachschauen, wie das aussieht, was wir in den Blick bekommen. Es könnte sich herausstellen, dass einzelne unserer angenommenen Merkmale nicht zutreffen. Oder dass wir feststellen, dass es Nerd als reale Form nicht gibt, es reine strategische Kommunikation ist, die Nerd als gewollte Adresse konstruiert. Denn das narrative Potential ist riesengroß (Stichwort Spiderman/Harry Potter: vom Nerd zum Superheld/star).

    Warum habe ich mich gefragt, was der erste Nerd war?

    Weil ich vermute, dass es das, was wir heute mit Nerd bezeichnen, immer gab. Es gab immer Menschen, die hoch(system)relevantes Wissen besaßen und nicht in der Mitte der Gesellschaft standen (die Frage ist eh, ob sich das nicht ausschließt: wenn ich spezifisches Wissen haben will – muss ich viel Zeit mit bestimmten, sehr speziellen Dingen verbringen – um dies Wissen zu inkorporieren. Zeit ist die Währung, mit der ich für Wissen bezahle. Je extremer ich mein Wissen (spezifisch) erweitere – desto mehr Zeit werde ich eher mit Wissenszuwachs als mit dem pflegen von sozialen Kontakten zubringen (wenn man denn dem Klischee Zucker geben möchte)).

    Ich glaube das Nerds – also Inhaber von relevanten, virulenten und gefährlichem Wissen – für die Evolution von Gesellschaft wichtig sind. Sie besetzen Nischen und generieren dort Wissen. Anfangs unbeachtet/unbehelligt/unbemerkt. Bis dem Mainstream klar wird, dass das generierte Wissen Systemrelevanz besitzt. Womit es Begehrlichkeiten weckt und dann aggressiv integriert/annektiert/geclaimed wird, um den geltenden Regeln des von Macht durchzogenen Kampfes um Ressourcen/Wissen/Diskurs unterworfen zu werden. Womit wir wieder beim Potential der Nerd-Posistion sind: vom Outsider zum Superheld/star…

    Mir macht es Spaß an Theresias zu denken, den blinden, buckligen Seher in den antiken Dramen – oder an Kassandra die immer die Wahrheit sagte, ohne das man ihr glaubte… beides archetypische Figuren die (Spezial/Experten)Wissen haben und denen aber aufgrund ihrer besonderen (narrativ konstruierten) Position und Situation nicht zugehört wird. Deren Wissen zuerst immer außerhalb des Wahren des Diskurses existiert… und das dann Wirklichkeit wird. Deren Wissen anderen magisch vorkommt – weil es nicht begriffen werden kann…

    So ähnlich sehe ich den Nerd… zuerst unverstanden/unbemerkt in einem structural hole Wissen generierend – dann durch die Form des Wissens in die Mitte des Systems gerissen/schleudert um das Wissen aus ihm zu (nofalls mit Gewalt) extrahieren.

    Womit wir dann auch bei meiner Vermutung darüber sind, warum Nerd zu einer Postition werden konnte, die angesagt/hip/worth claiming geworden ist (die Brille ist ihr Zeichen!).

    Der Nerd ist die Postion des höchsten Potentials (wieder narrative Spannweite: sozial exkludierter Nobody mit relevantem Wissen – Bill Gates / Steve Jobs / Mark Zuckerberg). Und damit anstebenswert. Alle (potentiell) negativen sozialen Merkmale erhalten einen Sinn, wenn sie die Kehrseite einer diffusen Zuschreibung von Potential sind.

    So. Genug der Phantasterei. Ich setzt jetzt erstmal meine Nerdbrille auf und plazier mich wichtig in ein Café in Mitte. Still lächelnd. Ich wisst schon…

    Cheers.
    @h_in_b

    ps: bitte nicht schimpfen und so… ich bin senibel.

    1. Zunächst: Ich freue mich wirklich sehr, dass sich hier so viele die Zeit nehmen, meinen Beitrag zu kommentieren. Was Du am Anfang schreibst, will ich gerne nochmal unterstreichen: Es geht nicht um Merkmale konkreter Personen, sondern um eine soziale Adresse, die angesteuert werden kann, oder um eine Zuschreibung, die aus ganz unterschiedlichen Gründen erfolgen kann… Dass wir „trotzdem“ von dem Nerd/der Nerdette schreiben ist dann eine grammatikalische Hilfskonstruktion.

      Das Gedicht gefällt mir – das „Seltsame“ kommt da wieder in den Blick. Eindeutig ein „Lob der Nerdiness“ – passt auch sehr gut zu dem Video im Kommentar von eyhoff. Durch die Verschränkung des Nerd mit dem Wissen wird er ganz ohne Urkel-Maschine zum coolen Typen. Die Marginalisierungen sind hier nicht Thema.

      „Zu wissen, wie ich eine Atombombe baue, wie ich auf FBI Datenbanken zugreife, wie ich DNA in Mikroben einschleuse, das ist schon ziemlich heiß.“

      Wie sollte man dem wiedersprechen? Knowledge is sexy. Vielleicht ist das Lob des Nerdwissen auch ein Hinweis auf ein etwas diverseres Bild von Männlichkeit im Sinne dessen, dass muskelprotzige Bilder an Bedeutung verlieren und der Typus Zuckerberg an Attraktivität gewinnt. (Dass das „neue“ Bild nicht emanzipatorisch(er) sein muss, versteht sich von selbst…)

      Jedenfalls führt die Wahl der Kategorie „Wissen“ offenbar dazu, dass wir ein Lob des Nerd einstimmen können. Das ist die Erkenntnis, die ich aus Deinem Beitrag gezogen habe. Das Wissen ist übrigens auch der Punkt, an dem weibliche* Nerdinessbeschreibungen andocken, à la „Während andere Mädchen sich für Pferdebilder interessierten, schaute ich in meinen Computer…“ Ich finde auch die starke Darstellung von Technikaffinität bei femgeeks.de hat so eine Komponente. Dabei belasse ich es jetzt einmal…

      1. Vielleicht schaffe ich noch eine Darstellung von Nerdiness, die sich um Exklusion/Inklusion in einer durchnormierten Gesellschaft dreht… ich habe ein Zeitproblem! Es müsste so vieles gesagt werden. Schon allein jetzt würde ich meinen Text gern wieder ergänzen… *grmf*

    2. Den Aspekt mit dem Nerd-Wissen finde ich sehr spannend. Es wäre weiter zu überlegen, an welche Merkmale dieses Wissen gekoppelt ist. Menschen, die alles über Schmetterlinge wissen, werden vermutlich eher als ExpertInnen denn als NerdEttes bezeichnet.

      Unklar ist mir jedoch, wie der Wandel/das Spannungsverhältnis der Negativ-Zuschreibung und der Positiv-Aneignung (bspw. Piraten) von „NerdEtte“ in diese Ausführungen passt.
      Würden Sie das auf den Wandel der Relevanz von Allgemein-/Fachwissen zurückführen? Also das sozusagen die einstigen „Fachidioten“ heute als selbstbewusste „FachexpertInnen“ auftreten/wahrgenommen werden?

      „Der Nerd ist die Postion des höchsten Potentials (wieder narrative Spannweite: sozial exkludierter Nobody mit relevantem Wissen – Bill Gates / Steve Jobs / Mark Zuckerberg). Und damit anstebenswert.“

      => Das klingt irgendwie so, als entsprächen Nerds nun der gängigen Verwertungslogik (Nerd-Wissen = potentieller Geldgewinn = toll). Und das hätte wiederum überhaupt nichts Widerständiges oder Subversives.

      1. „Menschen, die alles über Schmetterlinge wissen, werden vermutlich eher als ExpertInnen denn als NerdEttes bezeichnet.“
        Laut der SB des Nerd im Video im Blog zuvor würde das Schmetterlingswissen durchaus Nerdwissen sein. Die Expertin*der Experte ist meines Erachtens eine Rolle, die ihre Berechtigung durch eine Organisation gewinnt. Zum Beispiel der Professor für Wirtschaft oder die Sachverständige für Bausubstanz. Fast immer sind doch Abschlüsse (Organisation: Universität) oder andere Organisationsmeriten im Spiel, oder?

        Nerdwissen wäre in der romantischen Sicht ein Wissen, dass nicht über seine Verwertbarkeit nachdenkt. Dass kann sich dann im Kapitalismus durchaus mal rentieren, rechnet damit aber nicht. Das ist für mich die Differenz zwischen Nerd und „unternehmerischem Selbst“ (Bröckling).

        Unklar ist mir jedoch, wie der Wandel/das Spannungsverhältnis der Negativ-Zuschreibung und der Positiv-Aneignung (bspw. Piraten) von „NerdEtte“ in diese Ausführungen passt.
        Würden Sie das auf den Wandel der Relevanz von Allgemein-/Fachwissen zurückführen? Also das sozusagen die einstigen „Fachidioten“ heute als selbstbewusste „FachexpertInnen“ auftreten/wahrgenommen werden?

        Darüber muss ich nun erstmal nachdenken. Mein erstes Gefühl ist aber, dass es schon was mit dem technischen Fortschritt zu tun hat, mit der stärkeren Sichtbarkeit der „Fachidioten“ – auch durch das Netz… Der Nerd der Gesellschaft ist ja erst sichtbar, wenn er außerhalb seines Hobbykellers wahrnehmbar wird. Das ist durch das Netz sicher geschehen.

        => Das klingt irgendwie so, als entsprächen Nerds nun der gängigen Verwertungslogik (Nerd-Wissen = potentieller Geldgewinn = toll). Und das hätte wiederum überhaupt nichts Widerständiges oder Subversives.

        Wenn wir davon ausgehen, dass im Kapitalismus wirklich alles Warenform annehmen kann, ist es kein Wunder, wenn auch Nerdiness (oder bspw. Kunst, dazu schreibt Adorno schön, kann man mal anschauen, inwiefern das passt…) käuflich sind. Und Nerds müssen ja auch Miete bezahlen und haben darum Jobs. Aber vermutlich ist die Verwertbarkeit des Nerdwissens eben auch der Grund, weshalb sich Hacker (als Avantgarde) nun abgrenzen. Aber darüber würde ich wirklich gern nochmal mehr nachdenken. Ich glaube auch, dass es gut ist, wenn ich bald mehr empirische Beispiele bringen, anhand derer sich diskutieren lässt… Ich werde wohl was über die Piratenpartei schreiben.

  3. Ich bin über die Unterscheidung von Rolle und Sozialfigur gestolpert. Dabei ist ja die Argumentation, dass eine Sozialfigur keine Rolle ist. Wenn man nun (wie es häufig geschieht) die Rolle durch die Erwartungen an eine gesellschaftliche Position (also gesellschaftstheoretisch argumentiert), dann ist der Gedankengang nachvollziehbar. Aber auf Interaktionsebene (man denke an Goffman) können sehr wohl Rollenerwartungen entstehen, die auf Typisierungen wie Nerd, Hipster etc. zurückgehen.

  4. Ein kleiner Hinweis: Es wäre ganz gut auch nochmal zu präzisieren, was mit „sozial inkompetent“ gemeint ist. Ich würde zunächst die Gegenthese aufstellen, dass Nerds durchaus soziale Kompetenz besitzen, denn immerhin sind sie in der Lage bestimmte sozial verfügbare symbolische Systeme – z. B. Mathematik und die ganzen Programmiersprachen, aber auch in den Naturwissenschaften können sich Nerds ausleben – bis zur Virtuosität beherrschen und sogar weiterentwickeln können. Worin sie allerdings nicht so gut sind, ist die Fähigkeit ihre eigenen Emotionen auszudrücken und die Stimmungen anderer Personen zu erkennen. Dafür ist Sheldon Cooper aus The Big Bang Theorie der Idealtypus und es wird besonders an der Beziehung zu Amy Farrah Fowler deutlich. Gerade sie leidet unter dieser Unfähigkeit, dass Sheldon so gut wie nicht in der Lage ist, seine Gefühle auszudrücken und die der anderen zu erkennen. Die Serie weist damit auf ein weit verbreitetes Problem hin und zeigt zugleich auf, dass es Lösungen gibt. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass nur Nerds Probleme damit haben.

    Durch die fehlende emotionale Intelligenz ist die Inklusion der Nerds in das politische System besonders schwer, als Politiker noch mehr denn als Wähler. Über einige der spezifischen Probleme, mit denen die Piratenpartei konfrontiert ist, habe ich vor längerer Zeit geschrieben:

    http://beobachter-der-moderne.blogspot.de/2012/09/politik-meets-big-bang-theory-oder.html

    Dabei handelt es sich um meinen ersten unbeholfenen Gehversuch im Blog-Format. Er entspricht allerdings nicht mehr ganz meiner aktuellen Sichtweise auf das Thema.

    Mir geht es um die sozialen Bedingungen für fehlende emotionale Intelligenz. Dies scheint mir sehr stark mit den Selbstschutztechniken bzw. Imagepflegetechniken zusammenzuhängen. Diese wiederum können die interpersonelle Wahrnehmung beeinträchtigen. Der Nerd wäre dann eine bestimmte, die ganze Person betreffende Form der Imagepflege, um das eigene Selbst vor sozialen Verletzungen zu schützen. Dies beeinträchtigt dann aber das Inklusionspotential einer als Nerd beobachteten Person – egal ob es um funktional spezifizierte oder unspezifizierte Kommunikation geht. Weiterführend dazu auch mein hier schon mal diskutierter Text über das sogenannte Trollen und der über Amokläufer:

    http://beobachter-der-moderne.blogspot.de/2012/12/kontingenz-kritik-und-das-internet-2.html
    http://beobachter-der-moderne.blogspot.de/2013/01/voruberlegungen-zu-einer.html

    1. Perfekt! Das Problem der $Moderne: es besteht immer der Imperativ die eigenen inhaltlich (möglichst tollen) Positionen, dann auch optimal (selbst) zu vermitteln/verkaufen/darzustellen. Das ist eine Paradoxie.

      Und führt zu den Phänomen, dass jede_r kennt: best person for the job wird oft zu: best Selbstdarsteller for the job!

      Wobei hier strategisches Kalkül ins Spiel kommt, da die sachlich richtige/beste Position eben oft mit bestehenden Verhältnissen nichts zu tun hat siehe: Umweltschutz, Feminismus/Chancengleichheit, Freiheit im Netz, Nachhaltigkeit im allgemeinen, Konkurrenz als Grundmodus unserer Gesellschaft und Wirtschaft.

      Damit das für das bestehende System in seiner jetzigen Form nicht zur Bedrohung wird, wird aggressiv exkludiert und werden „unbequeme“ Diskursteile eben gezielt verdrängt/angegriffen/ins Falsche transformiert.

      Inklusion ist hier eben gerade nicht erwünscht. Sonst hätten wir morgen schon Gleichstellung aller Menschen, keinen Hunger mehr auf der Welt, Medikamente würden für alle da sein, Erbgut könnte nicht mit copyright geschützt werden, Kooperation würde zum Grundmodus menschlichen Handelns werden und so weiter…

      Was die Frage danach stellt, wem all das nützt…

      Womit wir bei so etwas wie Kapital wären, dass Disparitäten ausnutzt um Gewinn zu schaffen.

      Welche Rolle spielt hier die emotionale Inkompetenz des Nerds? Sie wird benutzt, um Anschlussfähigkeit zu (zer)stören. Kommunikation und Austausch unwahrscheinlicher zu machen.

      Meine These hier: alles hängt vom Gegenüber ab. Es gibt Formen der Kommunikation die selbst für Autisten geeignet sind. Dann muss Kommunikation mit Nerds auch möglich sein. Was im Umkehrschluss bedeutet: sie wird aus oben genannten Gründen eben genau verhindert.

      *duckundweg*

      @h_in_b

      1. „Welche Rolle spielt hier die emotionale Inkompetenz des Nerds? Sie wird benutzt, um Anschlussfähigkeit zu (zer)stören. Kommunikation und Austausch unwahrscheinlicher zu machen.“

        Genau das sind die Worte, die ich gestern nicht finden konnte! Meine Revision von der Dimension „Soziale Kompetenz“ rührte daher, dass diese Begrifflichkeit zu einer essentialistischen Argumentation verleitet, die NerdEttes als defizitäre Gesellschaftsmitglieder erschienen lässt. Dem widerspreche ich vehement.

        Meine Überlegung war, das „Non-Konformität“ eventuell eher auf ein „aktives Tun hinweist“ (da gehe ich mit Jasmin Siri völlig d’accord) und der Sozialfigur eine Handlungsfähigkeit zuspricht, die sonst möglicherweise abhandenkommt.
        So könnten die NerdEttes als authentische & non-konforme Identitäten beschrieben werden, die nun Sichtbarkeit und gesellschaftliche Anerkennung einfordern.

        1. @h_in_b

          „Welche Rolle spielt hier die emotionale Inkompetenz des Nerds? Sie wird benutzt, um Anschlussfähigkeit zu (zer)stören. Kommunikation und Austausch unwahrscheinlicher zu machen.

          Meine These hier: alles hängt vom Gegenüber ab. Es gibt Formen der Kommunikation die selbst für Autisten geeignet sind. Dann muss Kommunikation mit Nerds auch möglich sein. Was im Umkehrschluss bedeutet: sie wird aus oben genannten Gründen eben genau verhindert.“

          Von wem wird die emotionale Inkompetenz der Nerds benutzt um die Anschlussfähigkeit zu zerstören? Sicherlich bezeichnet der Begriff Nerd ein Klischee. Ich bin allerdings skeptisch, ob das als ein vorsätzliches Mittel benutzt wird, um bestimmte Personen auszugrenzen? Die positive Umdeutung – also die Übernahme einer Fremdbeschreibung als Selbstbeschreibung – wurde hier ja bereits angesprochen. Das würde gegen eine vorsätzlich angewendete Ausgrenzungsstrategie sprechen. Man könnte sogar fragen, ob es sich dabei um eine Strategie handelt die Deutungshoheit über das Selbst wiederzuerlangen. Es gibt noch andere Beispiele für solche semantischen Karrieren.

          Die These, dass alles vom gegenüber abhängt, müsste noch etwas präzisiert werden. Sofern man konstruktivistisch argumentiert, müsste man sagen, dass alles vom Bild abhängt, dass man sich von seinem Gegenüber macht. Und an dieser Stelle, kommen dann die sozial angelieferten Schemata ins Spiel, die eine Person in die Lage dazu versetzen. Das Nerd-Klischee gehört u. a. auch dazu. Bei der Rede von Sozialfiguren vermisse ich, nebenbei bemerkt, etwas die kritische Distanz zu dem, was damit bezeichnet wird, nämlich Klischees. Die sind nicht dazu da die Gegenwartsgesellschaft zu beobachten, sondern um Personen dieser Gesellschaft zu beobachten. Die Frage wäre dann, wie solche Klischees die Fähigkeit unterstützen oder hemmen sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen? Lässt man sich trotzdem noch von den konkreten Handlungen des Kommunikationspartners irritieren, um ihn als Einzelperson wahrzunehmen, oder lässt man sich so stark von dem Klischee leiten, dass man den Kommunikationspartner geradezu in diese Rolle drängt? Sofern eine Person tatsächlich nicht in der Lage ist seine Gefühle angemessen zu äußern oder die seiner Kommunikationspartner zu erkennen, liegt darin immer noch ein hohes Exklusionspotential. Das liegt aber eher an den geweckten Erwartungen als an Gewinnsteigerungsinteressen. Mit Goffman könnte man sagen, dass es entweder nicht gelungen ist ein Image aufzubauen (keine Erwartungen) oder aufgrund von widersprüchlichen Signalen ein falsches Image entstanden ist.

  5. Der Nerd als „soziale Adresse“ oder als Stereotyp, mit dem sich andere über Leute unterhalten, die sie als „nerdig-fremd“ empfinden, ist mE nicht loszulösen von der Geschichte des PC und des Internets. Da tauchten seinerzeit auf einmal Leute auf, die man nicht verstand. Sie waren jung, hingen den ganzen Tag am Computer und waren auch irgendwie schlauer als das Establishment. So sahen sie aus, in gewisser ein Urbild der Nerd-Ikonologie: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/thumb/5/5e/Microsoft-Staff-1978.jpg/335px-Microsoft-Staff-1978.jpg In den Medien wurde daraus in erster Linie eine komische Figur, wobei der klassische Nerd jung ist, vielleicht sogar minderjährig, und sich nicht so verhält, wie andere Jugendliche sich verhalten, also untypisch für die Lebensphase. Wenn man bei Google Bildersuche „Nerd“ eingibt, kommen erst einmal nichts als diese Komik-Bilder – wichtigstes Signum ist die altmodische Brille, oft wird dem Nerd auch eine Hässlichkeit im Stil von „Alfred Neumann“ (Mad) zugeschrieben (dann ist der Nerd derjenige, dem nichts übrig bleibt, als sich hinterm Computer zu verkriechen). Eigentlich ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Vorstellung von „Sozialfiguren“ bis ins Absurde verselbständigen können, bis sie mit den gemeinten Menschen so gut wie nichts mehr zu tun hat. Am Ende wird dann der-/diejenige als Nerd bezeichnet, der/die 4 äußere Merkmale erfüllt, „jung + unattraktiv + Schlaumeierbrille + macht viel am Computer“. Dabei schwingt nebenbei auch noch die gute alte Anti-Intellektualität des „normalen Menschen“ mit – da gibt es ja gerade in Deutschland eine gewisse Historie und so dürften sich die Deutschen ihre vom wahren Leben abgewandten, „ungesunden“ Asphaltliteraten vorgestellt haben: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/thumb/1/11/ErichMuehsam1906.jpg/220px-ErichMuehsam1906.jpg Benjamin und Döblin hatten auch diese Nerdbrille.

    1. Mich würde interessieren, mal darüber zu lesen, wie der Begriff des Nerd vor dem PC genutzt wurde – da es ihn ja seit den 1950ern gibt. Ich habe dazu aber noch nichts gefunden. Das Bild der Microsoft-Crew ist klasse: und ich denke auch, dass zumindest aktuell die Trennung des Nerd von den elektronischen Medien keinen Sinn ergibt, da sich der Erfolg der Figur und aktuelle Veränderungen dieser durch die Digitalisierung ergeben.

      „Dabei schwingt nebenbei auch noch die gute alte Anti-Intellektualität des “normalen Menschen” mit – da gibt es ja gerade in Deutschland eine gewisse Historie“ – Daran habe ich noch gar nicht gedacht, danke für den Hinweis. Gibt es deshalb in Deutschland keine „Geeks“ (siehe Kommentar v. Leonido zum 1. Blogpost)

  6. Wenn ich jetzt unentwegt das blog verfolge, komme ich nicht mehr zum Arbeiten :(. Schwierig, aber verlockend.

    Der Nerd als Sozialfigur? Über das andere Ding im Zwangskosmos der Zweigeschlechtlichkeit, dieses weibliche Mängelwesen Nerdette habe ich noch kaum etwas erfahren und hoffe, es folgt. Und es folgt mehr als – wahrscheinlich hatte es eher keinen Freund… – zu Beginn seiner sozialen Virulenz oder heute hat es den/die Freundin doch auch und ist selbstbewusster oder definiert sich besser gar nicht über ihre Attraktion auf dem Liebesmarkt der Peergroups. So geschehen in einem Jahrtausendwenderoman :-D von Ellen Ullmans „Close to the machine“. Da wird vermittelt über die neuen Berufserfahrungen in der Softwareproduktion, die hier in den Kommentaren zum Erstblog aufgegriffende recht sympathische Frage nach der Achse: Soziale Kompetenz versus „Authentizität“ bewegt und zugleich aus der Perspektive einer Software-Ingenieurin und Prozeßkoordinatorin erzählt. Beste schnell lesbare, literarisch anspruchlose U-Bahnliteratur, doch erhellend für’s „Suchen und Teilen“-Selbstverständnis einer neuen Generation von Geschlechtern. Zumindest eine literarische Figur ist der Nerd seither, was ja soziologisch durchaus erheblich ist.

    Nun grübele ich allerdings auch noch gleichzeitig, warum sich soziale Kompetenz, offenbar als Altruismus und Anpassungsmodus verstanden und Authentizität, die scheint’s als Autismus und Widerspruchsgeist, als die ware Störpraxis definiert wird, nun die weitentferntesten Punkte im soziologischen Universum sein sollen.

    Das scheint mir denn doch eine rätselhaft gewagte Konstruktion, deren klischeehaftes Unterkleid – wertkonservativer Altruismus versus eigensinnigem Aufbegehren – nochmal angpackt werden sollte, weil er möglicherweise in eine widerspruchsfreie Irre führt beim Herausarbeiten einer Sozialfigur, die ja vielleicht die Qualität des Marxschen Schatzbilders haben könnte.

    Da saß da so einer – dieser Schatzbildner – auf seinen Geldstückebergen – verewgigt bei Dagobert Duck – schwamm in dieser noch nicht wieder flüssigen Masse und lobte deren leuchtende Sinnlichkeit. Er zog mit protestantischer Askese, die Brocken aus der Zirkulation, war komisch und in bestimmter historischer Hinsicht genussfeindlich und doch irgendwann der Held der ursprünglichen Akkumulation und natürlich auch der Verteidiger kultureller Werte, die wir heute nich an jedem Küchentisch hören…

    Nun Nerd*etten – keine Angst – ich liefere jetzt keine Kurzbeschreibung – planschen auf den Wissensbergen herum, algorhitmieren, kartonieren, kommentieren und sorgen für die Verteilung ihrer eigenen Suchbewegungen, die vom Ende des literarischen ZEITalters künden und uns anhalten, die neue Bilderflut von Welt irgendwie zu verarbeiten. Objektive Bedeutung unbekannt, ähnlich wie bei Gott. Subjektiver Sinn offenbar hoch, da wir mit der Sinngebung immer irgendwie selbst zu tun haben. (Bei 4 % Netznutzung in anderen Regionen der Welt, die durchaus auch „Bilder liefern“, aber vor allem Kaffee und dreistreifige Bekleidung eine ganz komplizierte Debatte.)

    Ach, ich lass euch und mich jetzt – das Medium nutzend – im Regen stehen.

    1. @kasonze schrieb:
      „Der Nerd als Sozialfigur? Über das andere Ding im Zwangskosmos der Zweigeschlechtlichkeit, dieses weibliche Mängelwesen Nerdette habe ich noch kaum etwas erfahren und hoffe, es folgt. Und es folgt mehr als – wahrscheinlich hatte es eher keinen Freund…– zu Beginn seiner sozialen Virulenz oder heute hat es den/die Freundin doch auch und ist selbstbewusster oder definiert sich besser gar nicht über ihre Attraktion auf dem Liebesmarkt der Peergroups. So geschehen in einem Jahrtausendwenderoman :-D von Ellen Ullmans “Close to the machine”“

      Danke für den Romanhinweis, ich besorge ihn mir. Meine Idee zur Nerdette (ein Blogpost zu Gender und Nerdiness folgt aber schon mal sehr kurz als Spoiler) ist der, dass die Beschreibung der Nerdette eine Abgrenzung von stereotypen Geschlechtererwartungen ermöglicht. In den Beobachtungen der Piratenpartei kann man sehen, wie auf Beschreibung der männlichen Nerdiness „von außen“ auf eine Beschreibung weiblicher Nerdiness trifft, die sich mit der männl. Nerdiness solidarisiert. Aber das zeigt sich vielleicht besser am Material.

  7. @kasonze: Ich bin nicht sicher, ob ich Dein Anliegen verstehe:

    „Nun grübele ich allerdings auch noch gleichzeitig, warum sich soziale Kompetenz, offenbar als Altruismus und Anpassungsmodus verstanden und Authentizität, die scheint’s als Autismus und Widerspruchsgeist, als die ware Störpraxis definiert wird, nun die weitentferntesten Punkte im soziologischen Universum sein sollen.“

    Es steht die u.a. Frage im Raum: „Wer bezeichnet sich selbst als NerdEtte?“. Meine spontane Eingebung war: das Schreckensgespenst „Hipster“! Überlegung hierzu:

    Variante a ) Nerd = Hipster?:
    http://www.laut.de/bilder/upload/2011/10/13/nerd-hipster.jpg

    Variante b) Nerd ≠Hipster?:
    http://img01.lachschon.de/images/150486_UnterschiedNerdsHipsters_1.jpg
    http://dirtynerd.files.wordpress.com/2013/03/wpid-nerd-hipster-learn-the-difference.jpg

    Ich habe mich für Nerd ≠Hipster entschieden und überlegt, wofür (gesellschaftliche Phänomene, Mechanismen, …) diese Figuren als Projektionsfläche dienen. Also Brainstorming:

    Der Hipster gilt als „Anfang vom Ende aller Subkulturen“, als „Abziehbild seiner Selbst“, als „charakterloses Modeopfer“. Er gibt vor etwas zu sein (individuell, non-konform, nerdy) ohne zu merken, dass genau das Gegenteil der Fall ist. => non-authentischer Mitläufer
    Dem Nerd ist es gleich, was gerade ‚angesagt‘ ist. Er befasst sich mit tiefster Begeisterung für Dinge, die nicht mainstreamkompatibel sind. => authentisch/non-konform

    Das sollen nicht „die weitentferntesten Punkte im soziologischen Universum“ sein, sondern die relevanten Gesellschaftsdimensionen, auf die diese Figuren verweisen.
    ______________________________

    @ Jasmin Siri

    „Das wäre doch aber Mimikri und Nachahmung aber würde das frickeln, die Liebe zu “irgendeinem” Gegenstand und dem Wissen sowie die technische Komponente ganz ignorieren?“

    Hier kommt es darauf an, vor welcher theoretischen Grundlage aus das „Doing“ betrachtet wird. Aus handlungspragmatisch (siehe R. Rorty) Perspektive ist „Tun“ und „So-tun-als-ob“ nicht differenzierbar. Und wenn ich „NerdEtte“ als Sozialfigur denke, erscheint mir diese Herangehensweise sinnvoll.

    Nehmen wir an, ich sehe eine Steve-Urkel-artige Person auf der Straße, dann kategorisiere ich: Nerd. Um herauszustellen, ob es sich um einen „wirklichen Nerd“ handelt oder um einen, der nur vorgibt einer zu sein, müsste ich mich mit der konkrete Person auseinandersetzten. Im Alltagsgeschehen passiert dies jedoch nicht. Da ist „Nerd“ wen ich für „Nerd“ halte/ wer sich als Nerd inszeniert, da ich aufgrund bestimmter „Anzeichen“ unterstelle, dass diese Person zu Hause frickelt.

    1. Ich mag die luhmann’sche Differenzierung von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung/Adressierung ganz gerne. Doing Nerd als „so tun als ob“ wäre für mich aber dann doch ein anderer empirischer Fall als die Selbstbeschreibung als Nerd, die sozusagen umfassender und konsequenzenreicher ausfiele als das Tragen einer komischen Brille. Das könnte man dann empirisch ganz einfach differenzieren.

      „Nehmen wir an, ich sehe eine Steve-Urkel-artige Person auf der Straße, dann kategorisiere ich: Nerd. Um herauszustellen, ob es sich um einen „wirklichen Nerd“ handelt oder um einen, der nur vorgibt einer zu sein, müsste ich mich mit der konkrete Person auseinandersetzten. Im Alltagsgeschehen passiert dies jedoch nicht. Da ist „Nerd“ wen ich für „Nerd“ halte/ wer sich als Nerd inszeniert, da ich aufgrund bestimmter „Anzeichen“ unterstelle, dass diese Person zu Hause frickelt.“

      Für die Fremdbeschreibung (Situation Zurechnung auf der Straße, aber auch im politischen Feld) stimme ich Dir zu. Das passiert auch bspw. den PiratInnen…

  8. Auf Golem ist zu lesen, dass es auf der re:publica einen Vortrag gab, in dem „kritische Geek“ als notwendiger Akteur in sich immer stärker digitalisierenden Lebenswelten postuliert wurde. Ich finde das eine interessante Überlegung, die Deine Idee der Sozialfigur ja ergänzt (wenn man die begriffliche Trennung Geek/Nerd mal bei Seite lässt). Es wird nicht nur eine Abgrenzung zu dieser Figur stilisiert, gleichzeitig entstehen auf Rollenerwartungen, nach denen die Nerds/Geeks diesmal aber keine „unangenehmen“ sondern „für Laien zu komplexe“ Aufgaben übernehmen (sollen).
    http://www.golem.de/news/mensch-vs-maschine-wir-brauchen-den-kritischen-geek-1305-99139.html

  9. Gerne möchte ich kurz einen Blick auf die Sozialfigur als solche werfen. In beiden Beiträgen und über mehrere Kommentare verteilt wurde sie bereits genauer umschrieben, hat sie an Kontur gewonnen. Moebius/Schroer rücken den Zusammenhang von Gesellschaftsbeschreibung und Sozialfigur ins Zentrum ihrer Betrachtungen (S.9 oben).

    Mir ist aber aufgefallen, dass weder in den Diskussionen hier, noch bei Moebius/Schroer über die Entstehung und Verbreitung solcher Figuren ausführlicher nachgedacht wurde. Wie also lässt sich das Aufkommen einer Sozialfigur genauer fassen und beschreiben? Gerade in Bezug auf den ‚Nerd‘ könnte es lohnenswert sein, dieser Frage kurz nachzugehen.

    Der Ausschnitt aus Portlandia bringt es auf den Punkt: Es lässt sich neben dem eigentlichen Nerd auch ein Quasi-Nerd bestimmen, ein Jemand, der oder die sich dem Nerd bedient und ihn sozusagen imitiert, sich zumindest Teilweise an seinem Geschmack und Lebensstil orientiert und diesen reinterpretiert. Woher aber kommt das Wissen um den Nerd, wie kann ein Quasi-Nerd überhaupt von seiner Vorlage wissen? Denn gerade weil sich der Nerd nicht zeigt, kann er auch nicht direkt erlebt und also kopiert werden. Man hat es schwer, ihn anzutreffen. Sehr wohl aber kann man ihm in der Welt der Massenmedien begegnen. Entscheidend ist meiner Ansicht nach nun, dass wir vor dem Hintergrund einer Gesellschaft der Massenmedien die Entstehung einer Sozialfigur entsprechend denken sollten. Sie ist nicht nur eine soziale Adresse, sie ist zugleich auch eine massenmedial vermittelte soziale Adresse. Somit ‚vagabundiert‘ sie nicht nur durch Strassen und Inklusionszusammenhänge, sie ‚vagabundiert‘ auch durch die Medien.

    Eine wunderbare Arbeit, die den Zusammenhang von Sozialfigur und Verbreitung derselben aufgreift, findet sich hier. Seit mehreren Jahren dokumentieren die beiden Holländer Ari Versluis und Ellie Uyttenbroek verschiedene Gruppierungen. Dabei versuchen sie, über Kleider und ‚Look‘ konkrete Gruppen zu identifizieren und zu dokumentieren (vertreten sind übrigens die Geeks und die Hipsters). Was mir an dieser Arbeit so sehr gefällt, ist aber nicht unbedingt das typisierende Vorgehen – es mag sogar sein, dass hin und wieder etwas nachgeholfen wird. Interessant ist aber, dass genau durch Medieninhalte wie diese eine Sozialfigur an Kontur gewinnt, dass genau auf diesem Wege Wissen über sie vermittelt und verbreitet wird.

    1. (Nachtrag: Den Link konnte ich leider nicht schön setzen. Site: http://www.exactitudes.com/ @SozBlog: Vielleicht eine Vorschaufunktion einbauen? @Pascal: Danke für den anregenden Hinweis auf diese denkbare Entwicklung, lieber Namensvetter!)

      1. Danke für den spannenden Kommentar!

        „Entscheidend ist meiner Ansicht nach nun, dass wir vor dem Hintergrund einer Gesellschaft der Massenmedien die Entstehung einer Sozialfigur entsprechend denken sollten. Sie ist nicht nur eine soziale Adresse, sie ist zugleich auch eine massenmedial vermittelte soziale Adresse. Somit ‚vagabundiert‘ sie nicht nur durch Strassen und Inklusionszusammenhänge, sie ‚vagabundiert‘ auch durch die Medien.“

        Ich finde das Verhältnis unterschiedlicher Medien zu den Sozialfiguren auch sehr faszinierend. Interessant auch, wie die Medien selbst sich beim Beobachten beobachten, bspw. indem Memes die Differenz Hipster/Nerd thematisieren. Dazu passen sehr gut die folgenden Beispiele, die BlogLeserin weiter oben gepostet hatte:

        Variante a ) Nerd = Hipster?:
        http://www.laut.de/bilder/upload/2011/10/13/nerd-hipster.jpg

        Variante b) Nerd ≠Hipster?:
        http://img01.lachschon.de/images/150486_UnterschiedNerdsHipsters_1.jpg
        http://dirtynerd.files.wordpress.com/2013/03/wpid-nerd-hipster-learn-the-difference.jpg

        Ich denke, man könnte auch untersuchen, wie unterschiedliche mediale Oberflächen die Figuren unterschiedliche beanspruchen. Wie wird der Nerd auf Twitter, wie auf Facebook, wie in TV-Serien aktualisiert?

        1. Hallo,

          ein wirklich interessante Diskussion, wobei ich einige Beiträge lediglich überflogen habe. Ich frage mich seit geraumer Zeit, wie es sein kann, dass etwas, das lange Zeit als geschmacklos galt, plötzlich als modern und hip angesehen wird (die Variante B Nerd ungleich Hipster verdeutlicht dies sehr schön). Ich habe leider keine Antwort darauf. Das massenmedial Vermittelnde spielt hier sicherlich eine wichtige Rolle. Ich frage mich aber, welche gesellschaftlichen Parameter sich verändern müssen, dass es zu so einem Wandel kommt. Eine bloße Modeerscheinung bezogen auf den Hipster vermute ich hier nicht. Dazu ist das fanatische Streben nach Individualität zu offentsichtlich und wirft eben solche Fragen auf. Der bloße Spass bzw. Spass an Ironie und Nichternsthaftigkeit kann es auch nicht sein m.E., wobei bezeichnenderweise das Jugendwort des Jahres 2012 sich YOLO nennt (you only live once). Sehr interessant, wenn man sich überlegt, dass diese Jugend, oftmals schon sehr hip unterwegs, ein lebenlang diversen globalen Krisendiskursen ausgesetetzt ist.

          Vielleicht werden wir gerade einfach auch nur Zeuge, wie etwas vormals subversives (Nerd) ökonomisch umgedeutet wird, und zwar im Sinne der eben gegenwärtig vorherschenden Rationalität. Wäre nicht das erstmal.

          Liebe Grüße

          1. Auch ein Hallo zurück!

            „ein wirklich interessante Diskussion, wobei ich einige Beiträge lediglich überflogen habe“
            Allen Argumenten zu folgen, die in der Diskussion fallen, ist auch für mich eine Herausforderung. Ich versuche, sie zu bündeln und tw. auch aufzunehmen und für alle nochmal zu wiederholen, das ist aber gar nicht so leicht…

            „ich frage mich seit geraumer Zeit, wie es sein kann, dass etwas, das lange Zeit als geschmacklos galt, plötzlich als modern und hip angesehen wird (die Variante B Nerd ungleich Hipster verdeutlicht dies sehr schön).“

            Ich kenne diese Figur aus den Gender Studies, die sich zum Beispiel anschauen, wie sich marginalisierte Gruppen Schimpfwörter aneignen und mit der Zeit deren Bedeutung verschieben… Das ist vielleicht ein guter Vergleich.

            „Ich habe leider keine Antwort darauf. Das massenmedial Vermittelnde spielt hier sicherlich eine wichtige Rolle.“

            Das denke ich auch. Und so was wie Funktionseliten in Medien aber auch anderen Feldern. Ihre weitere Analyse finde ich sehr gut, da sie nicht vereinfacht. Von „Modeerscheinungen“ zu sprechen, hilft ja soziologisch so gar nicht weiter… Der Zusammenhang mit Krisenphänomenen ist sehr spannend. Darüber müsste ich aber erstmal gut nachdenken, bevor ich etwas schreiben kann…

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