Nützliche Armut

Am 23. November fand die Tagung „Nützliche Armut“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Wuppertal statt. Die Stiftung hatte auch das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“ gefördert, daher sagte ich gerne für einen Vortrag zu. Vor dem Hintergrund meines Buches „Schamland“ legte ich auf der Tagung meine Kritik an der bundesdeutschen Tafelbewegung dar und erläuterte, warum freiwilliges Engagement Armutsbekämpfung nicht ersetzen kann. Der Titel der Tagung lehnte sich bewusst (und mit Erlaubnis des Autors) an ein Buch aus den 1980er an (Wolf Wagner: Die nützliche Armut. Eine Einführung in Sozialpolitik). Er traf den Kern des zu verhandelnden Problems perfekt.

Politische Entsorgung eines Problems

Rudolf Martens (die „personifizierte“ Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes) erläuterte am Beispiel des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung pointiert, wie das politische System funktioniert: „Wenn etwas passt, wird es übernommen. Wenn nicht, dann nicht. Logik und Politik sind zweierlei Dinge.“ Durch Armutsberichte wird das Problem Armut „politisch entsorgt“, so seine These.

Martens war bei seinen Vortrag übrigens enorm kreativ: Da ihm ein Laser-Pointer fehlte, zweckentfremdete er einen Besen. Der Besen wurde dann auch von weiteren Referenten genutzt. Sehr zur Erheiterung der Anwesenden, die ansonsten beim Thema Armut wenig zu lachen hatten.

Der Besen als "Pointer"
Der Besen als „Pointer“

In eine ähnliche Richtung zielt meine Kritik am „Bundesverband Deutsche Tafel e.V.“, der seit Jahren einen „Armutsbeauftragten“ fordert (vgl. den Beitrag des damaligen Vorsitzenden des Tafelverbandes Gerd Häuser in Stefan Selke/Katja Maar: Transformation der Tafeln in Deutschland, Wiesbaden, S. 111-117). Ein Armutsbeauftragter ist eine schöne Idee – aus Sicht der Tafeln. Die könnten dann ihre Arbeit unbehelligt durch kritische Beobachter weiterführen und die Beschäftigung mit dem Problem Armut an den „Armutsbeauftragten“ delegieren.

„Armut ist kein Betriebsunfall“, so stand es in der Einladung zur Tagung. Vielmehr sei sie „systemnotwendig“. Heinz Sünker machte zu Beginn der Tagung deutlich, dass es „um Strukturen“ gehe. Seine allgemeine Kritik an der „Symptombehandlung“ war der perfekte Rahmen für meine Gesellschaftskritik am Beispiel der Tafeln.

In meinem Vortrag zeigte ich zunächst ein Bild aus dem Foyer des BMAS. Es zeigt die zeitgemäße Form der Ehrenamtshuldigung. Auf einer riesigen Schautafel werden 11 Personen portraitiert, die sich freiwillig in verschiedenen Bereichen engagieren. „DEUTSCHLAND SAGT DANKE!“ lautet die Überschrift auf dem zweistöckigen Display.

"Deutschland sagt Danke"
„Deutschland sagt Danke“

Freiwilliges Engagement wurde längst zu einem politisch erwünschten Standortfaktor. Dies habe ich an anderer Stelle anhand der Analyse von EU-Papieren gezeigt. Wir sind mitten in der Freiwilligengesellschaft, die eine Ehrenamts-Schattenökonomie auf Basis wertvollen aber unbezahlbaren „Humankapitals“ etabliert. Grund dafür, so redet man uns ein, sei fehlendes Geld. Die Krise, verursacht durch Wenige, wird daher immer mehr zum Motivationsproblem Vieler, die die Lücke schließen sollen. Die Privatisierung des Sozialen erweist sich als das Notlösungskonzept einer ratlosen Politik. Die schleichende Umwertung solidarischer Praktiken im Sinne einer De-Institutionalisierung wird dabei billigend in Kauf genommen.

Öffentliche Soziologie im ZDF-Chat

Nur kurze Zeit später hatte ich in der Sendung ZDF log in Gelegenheit, die CSU-Abgeordnete und Trägerin eines Bundesverdienstkreuzes Dagmar Wöhrl zu fragen, warum die BMAS-Ruhmestafel nicht ein einem öffentlichen Raum steht. Denn nur dann würden Bürgerinnen und Bürger auch mitbekommen, dass man sich bei ihnen bedankt. So aber drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein Handlungsmodell in die Köpfe der Politiker und Sachbearbeiter implantiert wird. Die suggestive Botschaft im Vorbeigehen lautet: Warum soll man für etwas Geld ausgeben, wenn es doch so viele gibt, die es umsonst machen? Frau Wöhrl pochte in der Sendung vehement darauf, dass es Aufgabe des Staates sei, Armut zu „lindern“. Damit lieferte sie unbeabsichtigt die Bestätigung einer meiner Kernthesen zum kulturellen Wandel. Ich gehe davon aus, dass es gegenwärtig einfacher ist, öffentliche Sympathie für Armutslinderungsspektakel zu erzielen, als politische Legitimation für nachhaltige Armutsbekämpfung. Dass der Staat für Armutsbekämpfung zuständig sein könnte, fand Frau Wöhrl eher sonderbar. Die Bürger sollten sich selbst um das „Zwischenmenschliche“ kümmern.

Die Sendung war, nebenbei bemerkt, eine ganz neue Erfahrung für mich als „Öffentlicher Soziologe“. Zuschauer konnten sich direkt per Chat, Twitter oder Facebook beteiligen – das taten erkennbar sogar einige meiner Studierenden aus Furtwangen. Nach der Sendung musste ich meine Thesen noch 20 Minuten im Chat verteidigen. Das war allerdings nicht schwer, denn meine These hatte in einer Online-Umfrage unter den Zuschauern eine Zustimmung von über 70 Prozent erhalten. Zu einem ähnlichen  Ergebnis kam übrigens auch eine Abstimmung der ARD (Fakt-Voting des MDR). Auf die Frage, ob Tafeln eine sinnvolle Einrichtung oder eher der „Pannendienst der Gesellschaft“ seien, antworteten zwei Drittel der Befragungsteilnehmer kritisch: „Nein, die Tafeln verfestigen die Armut nur und die Gesellschaft kann die Verantwortung abwälzen.“ Noch sind das nur „Trendaussagen“. Aber sie zeigen, wie sich langsam aber stetig die Form der Debatte ändert.

Gesellschaft des Spektakels

Die Tafeln, die seit 20 Jahren mitten unter uns existieren, sind ein Prototyp zeitgeistkonformer Linderungsspektakel. Sie können als Aktualisierung der Thesen von Guy Débord (Gesellschaft als Spektakel) verstanden werden. Und das sehen nicht nur „bösartige Kritiker“, „realitätsferne Zyniker“ oder „Salonsozialisten“ so (Auswahl aus der langen Liste von Verunglimpfungsformen, die mich zwischenzeitlich erreichten), sondern durchaus auch Kritiker aus den Reihen der Tafeln selbst. So schreibt etwa Philipp Büttner vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt München (2012): „Wir helfen einerseits, Armut zu lindern. Aber wir verändern nichts, wir bekämpfen Armut damit nicht nachhaltig. Die Aktivitäten haben etwas von Pflasterkleben: Das Pflaster ist nötig, aber die Wunde darunter wird niemals heilen. Das Ziel, die Wunde zu heilen, wird verfehlt. Wer sich in der Hartz-IV-Ökonomie engagiert, muss diese zwiespältigen Wirkungen sehen.“ Was Büttner Hartz-IV-Ökonomie nennt, bezeichne ich, etwas weiter gefasst, als Armutsökonomie.

Kommodifizierung von Armut – Armut als Ware

Mit der flächendeckenden Verteilung von Pflastern lässt sich (politisch) nicht nur gut leben. Damit lässt sich auch Profit machen. Spektakuläre Abspeisung als Ersatz für reale Armutspolitik macht Armut zu einer Ware innerhalb eines stetig wachsenden armutsökonomischen Marktes. Zu diesem Markt gehören existenzunterstützende Angebote wie Kleiderkammern, Suppenküchen oder Sozialkaufhäuser. Dazu gehören zudem die (profitablen) Beratungsangebote der Wohlfahrtsverbände und die (entlastenden) Verschiebebahnhöfe der Arbeitsagenturen und Jobcenter. Prototypisch eben auch die Tafeln.

Der armutsökonomische Markt zeichnet sich dadurch aus, dass Dritte von der Armut Anderer profitieren, dies als „Engagement“ ausweisen und so strukturelle Defizite verdecken. Es kommt zu einer Ökonomisierung zweiten Grades. Die „Ökonomisierung des Sozialen“ verursacht Armut. Die Behandlung von Armut erfolgt durch die Auslagerung in private Agenturen, die ein Surrogat echter Politik darstellen. Der zweite Grad der Ökonomisierung besteht dann darin, dass innerhalb dieses Surrogatsystems weiterhin nach genuin ökonomischen Rationalitätsformen operiert wird: Effizienz, Monopolisierung (Lobbyverbände), Branding, (Stichwort: Tafeln als „Marke“), Produktdifferenzierung (Kinder-, Tier-, Medikamenten-, Brillen-, Sporttafeln) etc..

Armutsökonomische Angebote zeichnen sich insgesamt aus durch eine Ökonomie des Nehmens (Sachleistungen werden als funktionale Äquivalente zu Rechtsgütern betrachtet), einer Ökonomie des Gebens (Orientierung an Rollenbildern aus der Wirtschaft, um den eigenen „Erfolg“ zu demonstrieren, vor allem Aufzeigen des eigenen „Wachstums“, „Tonnenideologie“ bei den Tafeln), einer Ökonomie der Scham (Beschämung als nutzenmaximierendes politisches Steuerungsinstrument), einer Ökonomie des Delegierens (Instrumentalisierung des freiwilligen Engagements in Bereichen, die durch das Grundgesetz geschützt sind) sowie einer Ökonomie des Moralisierens (Individualisierung von Schuldzuweisungen den Armen gegenüber, Trennung in würdige und unwürdige Arme).

Komplementär setzt sich gerade auch die „Ökonomisierung des Engagements“ durch flächendeckendes Freiwilligenmanagement durch. „Engagementpolitik“, der Leitbegriff des BMFSFJ wurde übrigens (so wurde mir nach viermaliger Anfrage mitgeteilt) von einer Werbeagentur erdacht. Politik, die sich in neuerfundenen Begriffen erschöpft oder an anachronistische Begriffe anknüpft („Bundesfreiwilligendienst“).

20 Jahre Tafeln in Deutschland und die damit zusammenhängenden Kampagnen, PR-Lyriken, Selbstbeschreibungsformen („Helden des Alltags“, „Ritter der Tafelrunde“) sowie Legitimationsfiguren („Lebensmittel retten“) zeigen, was passiert, wenn Armut in dieser Weise zur Ware wird. Der Impuls, darin einen gesellschaftlichen Skandal zu erkennen, geht beim Gedanken daran, welche schönen neuen „Projekte“ sich im armutsökonomischen Markt umsetzen ließen, restlos verloren.

Was kann sich ändern?

„Ändern kann sich eigentlich nur etwas“, schreibt Wolf Wagner in seinem Buch Die nützliche Armut, dem Namensgeber der Armutskonferenz, wenn die Sehnsucht nach Aufstieg und die Angst vor dem Abstieg an Wirkungskraft verlieren. Denn nur dann ist wirkliche Solidarität ohne die Geste der herablassenden Hilfe oder Abschieben in eine anonyme Institution möglich“. Es geht, in anderen Worten, nicht ohne strukturelle Lösungen. Lebensmittelwetten von Politikern oder Kampagnen können keine Politik ersetzen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches (1982) sah der Autor die Chancen für eine derartige Kultur als „winzig klein“ an.

Noch kleiner erscheint die Chance in der Gegenwart. 2008, als die Tafeln ihr 15-jähriges Bestehen „feierten“, konnte Gerd Häuser, der damalige Vorstandsvorsitzende, noch behaupten: „Die Tafel-Bewegung (…) ist heute Teil der nicht mehr wegzudenkenden sozialen Absicherung einer größer werdenden Zahl von Menschen. Die Tafeln füllen eine Lücke in der Daseinsfürsorge, die die Politik aufgerissen hat.“ (Feedback-Ausgabe 2008). Im September 2013, bei der „Feier“ zum 20-jährigen Bestehen, verkündeten die Unterstützer der Tafeln aus den Reihen der Politik nur noch: „Auf die nächsten 20 Jahre“. Nachhaltige Armutsbekämpfung ist nicht mehr vorgesehen. Armut wird nicht nur politisch entsorgt, sie ist nützlich.

12 Gedanken zu „Nützliche Armut“

  1. vielen dank für den link auf die interessante zdf Login Sendung und endlich auch die Gelegenheit Ihnen im größten öffentlichen Raum für „Schamland“ zu danken. Dieser Form von Soziologie sind wie Peter Zima in Was ist Theorie (2004) es charakterisiert hat, Engagement und Kritik eingeschrieben.

    1. Herzlichen Dank für diese öffentliche Anerkennung. Der „größte öffentliche Raum“ ist die Soziologie (bzw. dieser Blog) ja nun gerade nicht. Das mindert meine Freude aber rein gar nicht…

  2. Lieber Herr Selke,

    auch wenn dies hier womöglich ein riskantes Argument ist: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Soziologie einer Öffentlichkeit nicht mehr anbieten sollte, als den totalisierenden Gestus einer subalternen Kritik, die den Herrschenden (hier: der Politik) lediglich entgegenhält, sie könnte, wenn sie nur wollte, die Probleme lösen – hier: das Armutsproblem. Es ist immer wieder frappierend, mit welch merkwürdigen Allmachtsphantasien „Herrschende“ von ihren Kritikern ausgestattet werden, was womöglich einer Verniedlichung der strukturellen Probleme gleichkommt.
    Das mag politisch eine honorige Position sein – aber müsste die Soziologie einer öffentlichen Debatte nicht mehr beisteuern können, um kritisch in dem Sinne sein zu können, dass sie auf die merkwürdige Krisendynamik verweist, bei der paradoxerweise oft das Richtige falsch und das Falsche richtig ist? Ich stelle mir eine Soziologie für die Öffentlichkeit so vor, dass ihr Überraschungswert nicht einfach in der Umkehrung von Perspektiven liegt (Wenige machen die Krise, Viele müssen darunter leiden; Ersatzhandlungen bei der Bekämpfung von Armut sind falsch, weil sie Ersatzhandlungen sind und nicht die Strukturen ändern), denn die bloße Umkehrung bestätigt nur die Unterscheidung.
    Wären wir nicht, wenn wir uns den logischen Möglichkeiten aussetzten, das einzige akademische Fach, das aus solchen Dichotomien aussteigen könnte und nicht glaubt, die Strukturen würden sich ändern, wenn man das politisch nur wollte? Sind nicht wir es, die gerade auf die Latenz von Strukturen hinweisen könnten und dann intelligentere Formen des Ökonomischen erfinden könnten, statt mit dem Topos der Armutsökonomie nur semantische Sottisen zu assoziieren, bei denen man Zustimmung allzu billig erwirtschaften (sic!) kann.
    Vielleicht ist Ihre Kritik an den Tafeln gerechtfertigt – darüber wäre zu verhandeln – nur dass sich die Kritik daran mit einem metaphorischen Begriff des Ökonomischen formulieren lässt, ist für mich noch kein Argument. „Öffentlich“ freilich funktioniert solcherart Kritik aber deshalb gut, weil es eben die üblichen Chiffren sind, mit denen man derzeit kritisiert. Übrigens sehe ich darin geradezu eine Verniedlichung der gefährlichen Potenzen des Ökonomischen, die weit über die Frage der Einstellung von ökonomischen Akteuren hinausgeht – aber das ist ein anderes Thema. Dass wir uns so aufs Ökonomische einschießen, hat womöglich etwas damit zu tun, dass die Ökonomie mit ihrer rückkopplungsförmigen Zustandsdeterminiertheit die merkwürdige Dynamik der modernen Gesellschaft auch in ihren anderen Bereichen geradezu ästhetisch auf den Begriff bringt – und dann vielleicht ehe Formen der Kritik erfordert. Aber wie gesagt, ein anderes Thema.
    Da Sie ja Kritik und Auseinandersetzung wünschen, möchte ich dies sagen: Eine öffentliche Soziologie, die nur wiederholt, was ohnehin da ist, ist zu wenig Soziologie. Nur weils ein Soziologe gesagt hat, macht es keine Soziologie draus.
    Nehmen Sie es nicht als fundamentale Kritik – aber ich finde, unsere Strategien für eine öffentliche Soziologie müssten subtiler und indirekter sein, also auch in der Form soziologischer, statt zu genau zu wissen, wer welche Strukturen wie ändern könnte. Dass Strukturen strukturell wirken – das lehrt doch die Soziologie, oder? Und dass Strukturen sich in Prozessen ereignen auch, oder?
    Herzliche Grüße
    Armin Nassehi

    1. es macht einen Unterschied ob armut als lebens(!)problem von vielen menschen erforscht wird oder jemand systemtheoretisch über eine passende semantik philosophiert…

      1. Das sind genau die Dichotomien, die ich meine. Womöglich hat das eine mit dem anderen mehr zu tun, als es zunächst aussieht. Dann sieht das Erforschen womöglich etwas ganz anderes und ist viel näher an den Lebensproblemen.
        Zum Engagement gehört in der Soziologie übrigens auch Distanzierung – sonst sieht man nix.
        All the best
        AN

        1. ist nicht die systemtheorie genauso aufgebaut? funktioniert sie nicht nach dem binären code und entfaltet durch verdoppelungen ihre komplexität?

    2. Lieber Herr Nassehi,

      zunächst herzlichen Dank für Ihren Kommentar! Wenn ich Sie richtig verstehe – ich kann mich irren – dann halten Sie mir im Kern Vereinfachung vor. Sie behaupten, dass diese darin bestehe, die Handlungsmöglichkeiten der Politik bis hin zur Annahme „merkwürdiger Allmachtsphantasien“ zu überschätzen und damit zu einer „Verniedlichung“ tatsächlicher Probleme beizutragen. Dieses Argument verstehe ich gut. Jedoch meine ich, dass dies nun selbst wieder sehr Schwarz-Weiß gezeichnet ist. Zwischen der Verhaltensstarre einer (wie ich es genannt habe) „alternativlosen“ Politik und der Position eines Allmächtigen existiert eine recht breite Zone des Möglichen. Ich weise (öffentlich) nur immer wieder darauf hin, dass diese Bandbreite immer weniger ausgeschöpft wird. Und dabei gehe ich – das entsprechende Format vorausgesetzt – gerne auch ins Detail.

      Weiter kritisieren Sie sehr präzise, dass meine Aussagen tendenziell eher zu einer vereinfachenden Gegenüberstellung vermeintlich „richtiger“ und „falscher“ Reaktionen auf die „merkwürdige Krisendynamik“ beitragen und Sie sich mehr von der Soziologie erhoffen. Die Gefahr der holzschnittartigen Zuspitzung von Positionen habe ich klar vor Augen. Ich meine aber, dass man auch diejenigen vor Augen haben sollte, für die eine alternative Sichtweise auf die Erklärung der eigenen Gesellschaft überhaupt schon einen Neuigkeitswert hat. „So habe ich das noch nie gesehen“ – das ist eine nicht seltene Reaktion, die ich bei öffentlichen Veranstaltungen beobachte. Vielleicht bin ich an dieser Stelle einfach bescheidener. Mir reicht es zu zeigen, dass es „nicht nur richtig“ gibt. Immerhin ist das mehr, als nur zu wiederholen, was bereits ist.

      So sehr ich Ihre Kritik auch nachvollziehen kann, letztlich bleibt mir leider doch verschlossen, wie genau Sie aus den als falsch angenommenen Gegenüberstellungen von Positionen „aussteigen“ wollen, wie genau Sie „intelligentere Formen des Ökonomischen erfinden“ möchten und welche „subtileren“ und „indirekteren“ Formen öffentlicher Soziologie Sie genau im Sinn habe. Was kann damit gemeint sein? Subversive Überaffirmation wie bei Christoph Schlingensief? Soziale Plastiken wie bei Beuys? Was genau bedeutet „in der Form soziologischer“?

      Ich habe in den letzten Jahren mehr Formen öffentlicher Soziologie ausprobiert, als sich durch den Blogeintrag erschließen. Vor allem habe ich das getan, ohne dabei an öffentliche Soziologie zu denken, daran, eine bestimmte Form erfüllen zu müssen. Das Etikett kam erst später dazu. Vielleicht müssten wir uns näher über diese Formen austauschen, nur um am Ende zu sehen, dass wir uns von verschiedenen Seiten ein und demselben Ziel nähern? Und selbst wenn es nicht. Schlimm wäre auch das nicht. Denn soviel Vielfalt muss „die Soziologie“ – die je eigentlich „die Soziologien“ heißen sollte – einfach abkönnen.

      Herzlichen Dank und beste Grüße,

      Stefan Selke

      1. Lieber Herr Selke,

        unglückseligerweise bin ich in den letzten Wochen leider immer wieder ausgefallen, so dass ich mir mit einer Antwort auf Ihre freundliche Erwiderung allzu viel Zeit gelassen habe. Sorry dafür. Da mir die Sache aber durchaus nicht mit einem Federstrich kommentieren lässt, nun etwas ausführlicher.

        Also ad rem: Ich halte Ihnen keine Vereinfachung vor – die Lösung wäre dann ja eine Verkomplizierung, und das kann nicht ernsthaft gewollt sein. Und selbst wenn Argumente dann womöglich komplizierter Werden, ist das noch nicht die Lösung. Was ich anzumerken versucht habe, ist zweierlei: Ich habe in Ihrem Beitrag das Gefühl, dass Sie zum einen tatsächlich etwas tun, das womöglich das Grundproblem aller public sociology oder wenigstens öffentlichkeitsfähigen Soziologie liegt, nämlich als Adressaten v.a. eine politisierbare Öffentlichkeit imaginieren. Ich würde darin übrigens keinen „Fehler“ oder so etwas sehen, ich kenne das auch selbst aus vielfältigen Zusammenhängen nur zu gut. Und letztlich liegt das doch genau an dem operativen Zugzwang der öffentlichen Rede, sich eben darauf einzustellen, semantische Formen zu wählen, die auf kollektiv bindende Entscheidungen zu drängen, was Auswirkungen auf die Form und den Gehalt der Sätze hat. Das Selbe lässt sich auch beim Transfer anderer Wissenschaften beobachten. Ich war letztens auf einem Medizinerkongress, auf dem es u.a. um die Frage ging, wie sich öffentliche medizinische Kommunikation von medizinischen wissenschaftlichen Ergebnissen unterscheidet. Während letztere mit Unsicherheitsindizes, Uneindeutigkeiten usw. ausgestattet sind (wie Wissenschaft es eben stets ist), muss zweiteres Patienten imaginieren, die man dazu bringt, mehr Obst zu essen oder Sport zu treiben, oder eine Gesundheitsbürokratie oder –politik, dies oder jenes zu tun. Vom Transfer von Theologie zur öffentlichen religiösen Rede, von der Pädagogik zu öffentlichen Erziehungsstatements, von der Jurisprudenz zu rechtlichen Einschätzungen öffentlich relevanter Themenfelder, von Volkswirtschaftslehre auf die öffentliche Rede über „die“ Finanzkrise usw. können wir Soziologinnen und Soziologen viel lernen: Es geht dabei nicht um Vereinfachung, sondern darum, wie sehr sich Formen eben dadurch an den Adressaten anpassen, dass sie ein imaginäres Publikum erzeugen, dem entsprechende Problem-Lösung-Konstellationen angeboten werden. Und das ist – so würde ich soziologisch diagnostizierten – nunmal die auf kollektiv Entscheidungsfähiges ausgerichtete Rede. Gesellschaft ist (wir entdecken gerade Gabriel Tarde wieder) insbesondere auf Wiederholung ausgerichtet, um Variation zu ermöglichen. Und solche Wiederholung haben Sie mit ihrem Argument stark gemacht, indem Sie nolens volens mit Ihrer Analyse (über die man ja diskutieren kann, was wir hier gar nicht tun) kaum anders konnten, als eben dann nur noch politisch zu reden und letztlich die Frage der Armut und ihrer Bekämpfung ausschließlich für ein Problem angemessener politischer Motive zu halten. Ich denke, das ist tatsächlich eine soziologische Vereinfachung, die dann aber nicht sichtbar wird, weil gerade diese Vereinfachung den Zugzwängen der politischen Rede selbst geschuldet ist.

        Mein zweites Argument hat auch mit diesen Zugzwängen zu tun. Es ist wirklich sehr einfach, Komposita mit „Ökonomie“ zu bilden, um dann daraus schon eine kritische Perspektive zu machen. Auch hier wird einem Publikum nur angeboten, was es schon kennt und was es – je nach gusto – positiv oder negativ aufnimmt. Und selbst wenn man die Perspektiven nur umkehrt, vermehr sich der Erkenntniswert nicht, weil man in der Unterscheidung bleibt. Wenn Leute Ihnen sagen, das hätten sie noch nie so gesehen, dann spricht das für Ihre Kommunikationsfähigkeit und auch Ihr Engagement, und das finde ich für unsere Disziplin auch wirklich außerordentlich wichtig und unterstützenswert. Was ich daran kritisiere, ist aber nur, dass die Aha-Effekte in solchen Öffentlichkeiten oft gerade nicht durch die Verschiebung von Unterscheidungen zustandekommen, sondern nur durch ihre Umkehrung.

        Spannend wird es erst dort, wo wir solche Verschiebungen anstoßen können. Was ich etwa bezüglich des Ökonomischen im Sinn habe, geht etwa so: Eine Kritik an der Ökonomisierung ist das eine. Das andere ist die Frage, warum ausgerechnet ökonomische Redeweisen so plausibel wirken – und das scheinen sie ja derzeit, denn sonst würden sie sich nicht überall durchsetzen, auch dort, wo sie offenkundigen Schaden anrichten, und sonst würde es derzeit auch nicht so eine starke Ökonomismuskritik geben. Was macht es also plausibel? Ich schreibe gerade an der Beantwortung dieser Frage. Ausprobiert habe ich das Argument nun schon mehrfach bei Veranstaltungen. Das Argument geht etwa so, dass sich in gesellschaftlichen Phasen immer wieder dominante Beschreibungsformen durchsetzen. Die stark politisch dominierte seit dem Wiener Kongress ging vielleicht Ende des 20. Jahrhunderts zu Ende. Politisch dominiert hieß: Man stellte sich Gesellschaften letztlich doch als Räume vor, in denen es mehr oder weniger durch Macht geordnete Entscheidungshierarchien gibt, die sich an kollektiver Bindung von Verhalten üben – ob nun demokratisch-liberal wie im ehemaligen Westen oder sozialistisch-autoritär wie im ehemaligen Osten. Vielleicht ist das in China derzeit noch am besten zu beobachten, wo sich die politische Steuerbarkeit vor allem durch das Organisationsprinzip der Partei in Kombination mit nationalen und familiären Strukturen erhält. Womöglich ist all das v.a. in der Phase nach dem WKII die Zeit gewesen, in der man die politischen Folgen der radikalen Optionssteigerungen des Politischen bearbeiten musste. Der demokratische, national eingehengte Rechtsstaat hat die Dynamik von Gesellschaften gedämpft und sie mit ihrem Organisationsarrangement so gestaltet, wie sich soziologische Lehrbücher „Modernisierung“ vorstellen – interessanterweise mit den begrifflichen Mitteln einer Parsonsschen Theorie, die europäischer waren, als man denkt, denn in den USA hat diese Einhegung in dieser Form nie gegeben, was nicht nur mit der eher protestantisch Wirtschaftskultur zusammenhing, sondern auch ein Siegersyndrom war – warum sollten sich die USA in dieser Weise einschränken und dämpfen lassen? Großbritannien wurde erst unter den Thatcher-Torys und den Blair-Labours in diesem Sinne „angelsächsisch“ und europafremd.

        Erst vor dem Hintergrund dieser semantisch politisierten Form der dominanten öffentlichen Selbstbeschreibung, in der die Soziologie eine entscheidende Rolle als sehr kreative und kritische Umkehrererin von Unterscheidungen spielte (schon der unrealistische intentionalistische Handlungsbegriff ist eine solche Umkehrung, weil er eben auch Unterpriviligierte mit einer Handlungsmacht ausstatten konnte, die man sonst nur den Herrschenden nachgesagt hat), lässt sich mein Unbehagen an der derzeitigen öffentlichen Sprecherposition der Soziologie verstehen. Denn was wir derzeit beobachten, ist eine öffentliche Diskursverschiebung von eher politischen zu eher ökonomischen Plausibiliäten – gemeinhin als Ökonomisierung beschrieben, damit aber nur unzureichend erfasst. Wie man das Politische daran festmachen kann, dass es sich auf kollektiv Verbindliches im allgemeinsten Sinne bezieht, so sieht das Ökonomische davon völlig ab. Es ist vielmehr das Individuellste und das Alllgemeinste zugleich. Individuell, weil es individuelle Züge registriert – allgemein, weil es diese Züge in einer nachgerade unsichtbaren Eigendynamik zu Aggregaten vereint. Plausibel sind heute deshalb nicht kritische Charismatiker, sondern die Schwarmintelligenz in Social Media-Formaten, nicht mehr heroisch-direktive Steuerung, sondern indirekte Formen der Wirkungsentfaltung, nicht mehr bessere Argumente, sondern authentische Stellungnahmen, die sich dann wiederum entsprechend zu Strukturen hochrechnen. Plausibel ist heute – positiv wie negativ – die Kumulation von Big Data zu Informationen, die nie jemand gesucht hat – so ähnlich wie ein Markt die Bedürfnisse schaffen muss, die er dann bedienen kann, finden Datensammler heute Informationen beim Suchen, weil sie sie gar nicht mehr suchen können. Es ist hier zu wenig Platz, das wirklich nachvollziehbar zu explizieren. Aber ich glaube, die Soziologie muss sich vor sich selbst darauf einzustellen lernen, dass die Welt sich hier in ihrer Selbstbeschreibung radikal geändert hat und deshalb auch andere Formen ihrer öffentlichen Wirksamkeit bruacht als nach dem Modell von Burawoy, Anwältin der civil society zu sein, weil mit der Ökonomie ja schon eine Anwältin der Wirtschaft und mit der Politikwissenschaft schon eine Anwältin des Staates unterwegs sei.

        Ich rede übrigens mit all dem nicht einer „Ökonomisierung“ das Wort – ganz im Gegenteil. Mich interessiert vielmehr, dass sich in der sehr selbstreferentiellen und zustandsdetermnierten Weise von Märkten die Eigendynamik gegenwärtiger Gesellschaftlichkeit geradezu parabolisch und symbolisch, ja geradezu ästhetisch niederschlägt. Deshalb muss man gerade diese Art von Ästhetik berücksichtigen, um über ein imagonäres Publikum nachzudenken. Damit meine ich nichts wie Schlingensief oder Beuys, sondern die Ästhetik der Disurse selbst. Sehr beeindruckt hat mich etwa das „Manifesto for an Accelerationist Politics“ von Alex Williams und Nick Srnicek vom Mai 2013 (http://criticallegalthinking.com/2013/05/14/accelerate-manifesto-for-an-accelerationist-politics/). Das ist subversives Denken, weil es die Kritik des Kapitalismus nicht mehr politisch organisiert, sondern ökonomisch – und mir geht’s hier nicht um das Konzept. Es wird ebenso scheitern wie die alte marxistische Parusieverzögerung der Verelendungsfolgen des Kapitalismus, und aus den selben Gründen. Aber es ist die derzeit vielleicht klügste Stellungnahme zur Wirtschaftskrise, weil sie sich ihrer eigenen Mittel bedient. Sowas meine ich.

        Ich gebe zu, das ist ein wenig idiosynkratisch, aber vielleicht macht es ansatzweise deutlich, wo mein Unbehagen lag, das mich zu dem Kommentar veranlasst hat. Was öffentliche Soziologie angeht, so ist meine Erfahrung, dass man mit solchen Diskursverschiebungen eine Menge erreichen kann, wenn es gelingt, sich auf Kontexte einzulassen und dem Bedürfnis nach eindeutigen Stellungnahmen, die unsere Nachfrage stes nur wieder als politische Stellungnahmen haben wollen, nicht nachgibt. Konkreter könnte ich das nur an meiner eigenen Praxis machen, aber das möchte ich hier nun nicht zum besten geben. Aber ein Diskussionsanlass kann es ja sein.

        Und last but not least: Es hängt natürlich auch damit zusammen, mit welcher Denkungsart überhaupt Soziologie betrieben wird. Dass ich da Präferenzen habe, ist wohl bekannt – und dass das natürlich auch die Beschreibung der Lage dessen triggert, was ich von einer öffentlichen Soziologie erwarten möchte, ist auch klar.

        Und noch dies: Vielfalt: ja das kann die Soziologie ab. Gut so!

        Ich breche hier mal ab – vielleicht haben wir woanders mal Gelegenheit, darüber zu verhandeln. Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre engagierte Zeit als DGS-Blogger.

        Herzliche Grüße und alles Gute für 2014 wünscht
        Ihr
        Armin Nassehi

        1. Lieber Herr Nassehi,
          Ihnen und auch allen anderen Leserinnen und Lesern zunächst ein frohes neues Jahr! Ich freue mich, dass Sie Zeit gefunden haben, sich so intensiv mit meinen Blogbeiträ-gen zu beschäftigen.
          Mit Ihrer Kritik daran, dass öffentliche Soziologie quasi zum „Opfer“ des „operativen Zugzwang der öffentlichen Rede“ werden kann, liegen sie wohl richtig. Das musste ich selbst an einigen Stellen schmerzlich erfahren. Immerhin hat es dazu geführt, dass ich nun klare Differenzkriterien beachte, wenn es um die Frage geht, welche Veranstaltun-gen und Formate ich „bediene“ und welche nicht. Ich darf dazu ich ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern, weil das folgende Beispiel einerseits zeigt, wie richtig Sie liegen, andererseits aber auch die Schwierigkeit verdeutlicht, diese Erkenntnis in der Praxis zu leben.
          Bei einer Fernsehsendung wurde ich etwas überraschend auf eine sehr eigentümliche Weise gefragt – die eigentliche Frage spielt in unserem Diskussionskontext keine Rolle. Anders, als bei anderen Fragen zuvor, musste ich zunächst stutzen. Mein spontaner Kommentar lautete dann: „Das ist aber eine sehr wissenschaftliche Frage“. In dem Moment, als ich versuchte, die Frage in wissenschaftlicher Redlichkeit zu beantworten, wurde mir klar, dass dies den Rahmen (nicht nur zeitlich) sprengt, sondern dass die damit verbundene Differenzierung und Redlichkeit überhaupt nicht gefragt war. Ent-sprechend schnell brach die Schaltung dann auch ab. Kompliziert wurde es durch mei-nen Versuch, bei der Beantwortung dieser Frage eine doppelte Anschlussfähigkeit un-ter Beweis zu stellen. Nach „innen“ (wenn man das so sagen kann) zum System der Wissenschaft und nach „außen“ zum System der Medien bzw. der Öffentlichkeit hin. Die öffentliche Rede steht also m.E. nicht nur unter einem Zugzwang, sondern gleich unter einem doppelten Zugzwang. Öffentliche Soziologie kann ja gerade nicht bedeuten, die Anschlussfähigkeit zu den eigenen Theorien und Modellen zu kappen, schließlich steht am Beginn einer öffentlichen Rede die (zumindest unterstellte) „Absendekompe-tenz“ des Sprechers. Gleichzeitig kann sich öffentliche Soziologie aber niemals entfal-ten, wenn aufgrund des operativen Zugzwangs der Öffentlichkeit die Anschlussfähigkeit an „kollektiv Entscheidungsfähiges“, wie Sie es nennen, komplett gekappt wird.
          Ihr zweites Argument lautete, dass ich es mir mit dem „Ökonomie“-Komposita sehr leicht mache und der zielführende Aha-Effekt in den von mir angesprochenen Öffent-lichkeiten dadurch nicht auf „Verschiebung von Unterscheidungen“ zustandekomme, sondern durch ihre Umkehrung. Ich glaube, dass ist ein Missverständnis, dass sich pri-mär aus dem Zwang zu holzschnittartigen Beiträgen im Format eines Blogs und der dazugehörigen Portion Subjektivität speist. Die Arbeit eines öffentlichen Soziologen se-he ich primär gerade darin, Verschiebungen innerhalb unserer kulturellen Matrix aufzu-decken, zu kommunizieren und nach ihren Folgen zu hinterfragen. Ich selbst greife da-zu immer wieder gerne auf das Modell der „Shifting Baselines“ zurück. Innerhalb meiner Arbeit zu den Tafeln, aber auch bei meinem aktuellen Thema Lifelogging versuche ich gerade zahlreiche langfristigen und schleichenden Verschiebungen herauszuarbeiten. Gerade das erzeugt dann den Aha-Effekt. Damit ist die von Ihnen angesprochene Ver-schiebung von politischen zu ökonomischen Plausibilitäten als dominante Form der öf-fentlichen Selbstbeschreibung nur eine von vielen möglichen Kategorien, innerhalb de-rer sich „Shifts“ beobachten lassen. Viele andere wären auch noch zu benennen und – vielleicht – zu systematisieren.
          Freilich meinen Sie gerade auch eine Verschiebung in der Form der Debatte selbst – wenn ich es recht verstehe, ist das sogar Ihr Hauptargument. Ich erinnere nur an Bruno Latour und die Abbildung seiner Theorie innerhalb der „Diskurs-Design-Bewegung“, den Projekten zum „De-Conferencing“ und zur mediengestützten Abbildung von „Polykon-texturalität“. Das alles geht noch viel weiter, als die von Ihnen angesprochene Ver-schiebung von politischen zu ökonomischen Deutungsmustern, weil hier die Sprache als Form der Debatte überwunden werden soll.
          Ist die Soziologie auf eine solche Verschiebung vorbereitet? Die für mich noch offene Frage ist, ob wir SoziologInnen sehen (wollen), dass auch die Hochschulen selbst und die eigene Disziplin radikal von den neuen Formen der Debatten betroffen sind. Aus meiner Sicht (darauf habe ich im letzten Blogbeitrag hingewiesen), fehlt es an allen Ecken und Ende an Formen, mit der Dynamik dieser Verschiebung umgehen. Im Ge-genteil: Die Dynamik bewirkt (nicht sehr überraschend) ein Festhalten an den altbe-kannten innerdisziplinären Ritualen und Formen. Vielleicht braucht es noch Zeit (die ich habe) und Geduld (die ich nicht habe) um hier zu „Optionssteigerungen“ auch innerhalb der Soziologie zu kommen. Sie würden sich auf jeden Fall auch für eine Öffentlichkeit der Soziologie positiv auswirken.
          Sie weisen abschließend darauf hin, dass „kluge Stellungsnahmen“ sich der Mittel derer bedienen, die kritisiert werden. Dazu ließe sich zweierlei sagen. Erstens frage ich mich, ob der Bezug auf das Kriterium „Klugheit“ nicht auch ein „operativer Zugzwang“ ist. Wobei es mir sicher nicht um die Verbreitung von Dummheit geht (oder was auch im-mer das Gegenteil darstellt). Aber mir scheint, als ob sich die „Denkungsart“ der Sozio-logie zu sehr auf derartige Unterscheidungsmerkmale reduziert. Mir wäre es lieber, von Anschlussfähigkeit zu sprechen. Zweitens würde ich mich freuen, wenn wir mit unseren Stellungsnahmen genau das unter Beweis gestellt hätten.

  3. Beide Löwen.

    Ich kann beide Argumente nachvollziehen, wenn man einzelne Begriffe nicht überbe“wertet“ (sic!).

    Vielleicht hilft hier eine Ebenenunterscheidung beider Ansichten: Gesellschaft einerseits und die Beschränkung auf zwei Teilsysteme derselben andererseits. Dann sind sich vermutlich beide inhaltlich näher als man vielleicht sieht?

    Vielen Dank an Hrn. Selke und Hrn. Nassehi für die fruchtbare Diskussion. Sehr erhellend für einen Soziologen wie mich im 2. Semester. Müsste man fortsetzen…

  4. Super Artikel. Und überhaupt die ganzen Informationen die hier gesammlt wurden einfach toll. Ich wünsche Euch noch viel Erfolg bei allem. Liebe Grüsse

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