Referenz!

In einem Blog kann man über sich schreiben: was man so tut, was man so liest, was man so denkt. Das ist eine Möglichkeit. Ein Blogeintrag kann aber auch eine Anzeige sein, eine Erinnerung, eine Referenz. So möchte ich starten. Ich möchte an ein Datum erinnern. Vor zwanzig Jahren, im Juni 1994 starb Hans Paul Bahrdt. Er war ein Soziologe ganz eigener Art. Universal gebildet, empirisch innovativ, gesellschaftspolitisch engagiert. Ein Lehrer und Forscher gleichermaßen. Er gehörte zu jener Soziologengeneration, die in der jungen Bundesrepublik fest davon überzeugt war, dass Soziologie als Wissenschaft eine Geburtshelferin der Demokratie sein kann, ja sein muss. Ihm ging es nicht um die Frage, ob die Soziologie bessere Menschen macht. Mit Mission hatte er nichts am Hut. Soziologie ist im Sinne Bahrdts eine bestimmte Art und Weise, auf das soziale Leben zu blicken – aber sicher kein Sozialknigge, der den Leuten eine soziologisch für richtig befundene Lebensführung vermittelt.

Bahrdt ging es um die Frage, in welcher Weise die Gesellschaft, die Betriebe, die Dörfer, Städte und Gemeinden, die Institutionen im Allgemeinen gebaut sein müssen, damit Menschen darin würdig, ihren Interessen und Bedürfnissen angemessen leben können. Ja, noch mehr: damit Menschen sich in ihrer und aus ihrer Gesellschaft heraus entwickeln und entfalten können. Demokratie mit Leben füllen, dazu sollte Soziologie einen Beitrag leisten. Und diesen Beitrag kann sie nur leisten, indem sie eine offene, forschende Wissenschaft ist. Unter dieser Perspektive betrachtet, wirkt die Soziologie als Lehrfach und Forschungspraxis heute oft hermetisch, in methodischer und theoretischer Hinsicht. Alles das war Hans Paul Bahrdt nicht. Er war ein bedächtiger, begriffsgenauer und nachdenklicher, aber auch um öffentliche Aufmerksamkeit bemühter Soziologe. Er war Institutsgründer, Berater und engagierter Bürger seiner Stadt – ein öffentlicher Soziologe avant la lettre. Von ihm soll in den beiden kommenden Monaten in diesem Blog immer wieder die Rede sein. Denn Hans Paul Bahrdt ist für den Blogger dieser Zeilen ein intellektueller, aber auch ein wissenschaftsethischer Referenzpunkt.

5 Gedanken zu „Referenz!“

  1. Sehr geehrter Herr Vogel,

    ich möchte ausdrücklich begrüßen, dass Sie Ihren Blog mit der nachhaltigen Erinnerung an den bundesrepublikanischen Soziologen Hans Paul Bahrdt einsetzen und auch fortsetzen wollen. Aus eigener Erfahrung möchte ich Ihr Urtell bestätigen: Bahrdt war „ein Soziologe ganz eigener Art. Universal gebildet, empirisch innovativ, gesellschaftspolitisch engagiert.“ Bahrdt, so würde ich es zuspitzen, war einer der bedeutenden Verkörperungen der bundesrepublikanischen Soziologie, die selbst im Zeitraum 1949-1990 eine bedeutende Epoche der Soziologiegeschichte ist.
    Man könnte Bahrdt allerdings theoriegeschichtlich etwas schärfer profilieren. Als ausgebildeter Philosoph in Göttingen kam er alles in allem aus der Phänomenologie (in der Husserlschen Erbfolge – die phänomenologische Soziologie von Schütz war noch ganz unbekannt) und der Philosophischen Anthropologie (Plessner, Gehlen), die einen Drall zur empirischen Wirklichkeit hatte. Seine Disseration ging über Herders Anthropologie und Geschichtstheorie. Bahrdt hatte in Göttingen bei Nicolai Hartmann, dem Phänomenologen Stavenhagen und Helmuth Plessner studiert, dessen Lehrstuhlnachfolger er schließlich Anfang der 60er Jahre wurde (zu Plessners Wohlgefallen).
    Bahrdts größte Bedeutung für die bundesrepublikanische Soziologie liegt in den gemeinsam mit Heinrich Popitz organisierten und verfassten Studien zur Arbeitssituation und zum Arbeiterbewusstsein in der Hüttenindustrie Rheinhausen („Technik und Industriearbeit“, „Das Gesellschaftbild des Arbeiters“ (zus. m. Ernst August Jürges, Hanno Kesting, Tübingen 1957)). Die Philosophiestudenten Popitz und Bahrdt hatten sich in einem Seminar von Nicolai Hartmann kennengelernt, waren also bereits vertraut mit Phänomenologie und Philosophischer Anthropologie. Daraus hat sich eine abenteuerliche Situation der frühen bundesrepublikanischen Soziologie ergeben: zwei Philosophen aus bürgerlichem Hause gingen ins heart of darkness der deutschen Industriearbeitergesellschaft und kehrten als Soziologen mit reichen Funden zurück. Bis heute vorbildlich ist der Methodenmix, mit dem sie differenziert die konkrete Situation der Arbeiter mit und an der Maschine und zugleich die Facetten des Arbeiterbewusstseins erschlossen: phänomenologische Arbeitssituationbeschreibung, hermeneutisch kunstvolle Interviewführung und statistische Erhebung – eine raffinierte Mischung, die später lange als Entweder-Oder von qualitativer oder quantitativer Forschung umkämpft war.
    Bahrdt und Popitz wurden zwei prägnante Figuren einer philosophisch-anthropologisch orientierten Soziologie in der Bundesrepublik – jeder auf seine Weise. Beide blieben immer miteinander verbunden. Nichts am Hut hatten sie mit der Frankfurter Schule bzw. einer kapitalismuskritischen Theorie der Gesellschaft, aber auch die Forcierung einer bloß empirischen Sozialforschung in der sog. Kölner Schule unter der Ägide von René König blieb ihnen fremd. Bahrdt wurde in den 60er Jahren berühmt mit einer stadt- und architektursoziologischen Studie zur „modernen Großstadt“ (1961), in der er – aus dem schönen Dresden stammend – um die neue Balance von Privatheit und Öffentlichkeit in der Stadtgestalt der Moderne rang. Leider hat Bahrdt seinen eigentlichen, lange durchdachten Beitrag zur soziologischen Theorie – eine Theorie der „Situation“, die seine phänomenologisch-anthropologischen Ideen bündeln sollte – nicht mehr durcharbeiten und abschließen können (Grundformen sozialer Situationen 1996, aus dem Nachlass).
    Für alle, die sich im Göttingen der 70er und Anfang der 80er Jahre nicht den intellektuellen Zumutungen einer neomarxistisch grundierten Soziologie aussetzen wollten, war Bahrdt am „Soziologischen Seminar“ der Ankerpunkt. Er war ein durch und durch bürgerlicher Soziologe, nicht nur was den Habitus, sondern auch, was die Perspektive einer modernen Soziologie betraf. Aus dieser Bürgerlichkeit kam die analytische Kraft seiner arbeits-, auch seiner stadt-, auch seiner wissenschaftssoziologischen Urteilskraft. Man könnte rückblickend sagen: Perspektivisch ging es ihm in der soziologischen Aufklärung um die ‚Verbürgerlichung‘ der Industrie- und Massengesellschaft, um die massenhafte Implementierung bürgerlicher Muster und Motive unter veränderten Bedingungen (z.B. die die verschiedenen Kräfte der Person herausfordernde berufliche Arbeitssituation; das balancierte Spannungsverhältnis zwischen Privatheit und öffentlicher Teilhabe; „geselliges Betragen“ in der Demokratie; das Aufklärungsverhältnis zwischen Wissenschaft und common sense; die soziologische Stärkung der Urteilskraft etc.).
    Obwohl Bahrdt das SOFI in Göttingen gegründet hat, sind seine Impulse dort nur thematisch („Arbeis-, Industrie-, Bildungsoziologie“), nicht inhaltlich-analytisch wirklich fortgesetzt worden. Die bahrdtsche phänomenologisch-anthropologisch geschulte Urteilskraft in gesellschaftsanalytischen Fragen kam dort und auch am Soziologischen Seminar später nicht mehr tragend zum Zuge. Nur bei seinem frühen Schüler Konrad Thomas und bei seinem späten Schüler Wolfgang Sofsky kann man (mit anderen Thematiken) den typisch bahrdtschen Gestus soziologiscch-anthropologischer Wirklichkeitserschließung erkennen – einschließlich des von Ihnen, sehr geehrter Herr Vogel, richtig erwähnten Zuges von Bahrdt, als „öffentlicher Soziologe“ wirken zu wollen.
    In der Hoffnung, dass Sie Hans Paul Bahrdt in Ihrem weiteren Blog immer erneut ins Spiel setzen, ohne ihn nachträglich in eine irgendwie „gesellschaftskritische Soziologie“ des SOFI eingemeinden zu wollen,
    mit besten Grüßen

    Joachim Fischer

    1. Sehr geehrter Herr Fischer,
      vielen herzlichen Dank für Ihren Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe! Ich stimme Ihrer gesellschaftstheoretischen Einordnung Bahrdts in die Linie von Husserl und Plessner ausdrücklich zu. Aus Phänomenologie und Anthropologie bezog Bahrdt den Gutteil seiner soziologischen und sozialanalytischen Kraft. Insbesondere Plessner spielt hier fraglos eine zentrale Rolle. Ich weiß darum, dass Sie sich in der Rezeption Plessners große Verdienste erworben haben. Vielleicht führt dieser kleine Blogaustauch einmal zu einer gemeinsamen Aktivität. Das würde mich freuen.
      In jedem Fall haben wir hier eine gute „Göttinger Tradition“ vor Augen, die Aufmerksamkeit verdient. Ich komme in meinen Blogbeiträgen darauf zurück. Eine etwas andere Einschätzung habe ich allerdings zum Verhältnis Hans Paul Bahrdt und SOFI – das wird Sie nun nicht erstaunen. Es ist nicht meine Absicht, Bahrdt heute und nachträglich dem SOFI „einzugemeinden“, wie Sie schreiben. Aber es wäre aus meiner Sicht auch ganz und gar verkehrt, Hans-Paul Bahrdt gegen das SOFI zu stellen.
      Zum einen wirkt die Bahrdtsche Themensetzung noch heute im Institut fort („Arbeits-, Bildungs- und Industriesoziologie“ wie Sie, lieber Herr Fischer, richtig schreiben); zum anderen ist ein sozialanalytischer Gedanke Bahrdts immer noch in der SOFI-Forschung präsent – und das ist mir wichtig: die Soziologie als Wissenschaft, die öffentliche Beachtung verdient, kann sich nicht auf methodische Glasperlenspiele und gewagte Theorie(re)konstruktionen beschränken, sondern sie muss einen gewichtigen Beitrag zu einer den Menschen angemessenen Gesellschaftsgestaltung leisten. Ein zentraler, aber keineswegs der einzige Ort dieses Gestaltungsimpulses ist der Arbeitsplatz bzw. die Arbeitswelt. Hier hat die SOFI-Forschung niemals die Breite der Bahrdtschen Soziologie repräsentieren können, aber das ist in der Wirklichkeit einer drittmittelfinanzierten Forschungsinstitution auch nicht so einfach – und der arbeitssoziologiche Ertrag der SOFI-Forschung ist so gering nicht zu veranschlagen. Also, nicht „Eingemeindung“, nicht Opposition, sondern Besinnung auf eine starke intellektuelle Ressource – so möchte ich meine Rezeption verstanden wissen. Das kann nicht schaden, weder der Soziologie im Allgemeinen, noch dem Göttinger SOFI im Besonderen. Mit den besten Grüßen, Ihr
      Berthold Vogel

  2. Sehr geehrter Herr Dr. Vogel,

    1979 habe ich Hans Paul Bahrdt wohl übersehen, nachdem ich meinen Studienplatz von der FU Berlin, wo mich die Marxisten mit ihren Lektüre-Kursen und ihren ideologischen Übertreibungen maßlos enttäuschten, zu Luhmann nach Bielefeld verlegt habe.

    Die intersubjektivistisch-interpretative Soziologie, mit der ich mich sehr wohl eingehend beschäftigt habe, hat mich als systematische Basis einer möglichen wissenschaftlichen Soziologie mit eigenständiger Fragestellung und eigenständiger Methodologie nie überzeugt.

    Für mich als phänomenologisch orientierter Gestalttherapeut spielen die Ansätze von Husserl, Mead, Schütz etc. eine entscheidende Rolle, für mich als strukturorientierter Soziologe eine untergeordnete.

    Ich habe auch keinerlei philologisches Interesse an verstorbenen Soziologen. Aber mich interessiert systematisch das Thema „Institutionen“, das sie als Interessenschwerpunkt von Hans Paul Bahrdt erwähnt haben.

    Ich begreife es im Zusammenhang mit dem Gründungsthema „soziale Strukturen“ und versuche im angedeuteten „Methodologischen Strukturalismus“ und der „Soziologie des Unbewussten“ eine systematische Basis für eine mögliche wissenschaftliche Struktur-Soziologie zu entwickeln. (s. Kommentar zu Prof. Albrecht)

    Meine Perspektive entsteht als Reaktion auf den „methodologischen Individualismus“ und auf die Komplexitäts-Ideologie, die mittlerweile aufgrund der Popularisierung der Systemtheorie gesellschaftlich und wissenschaftlich die Verantwortung für Strukturen und deren Wirkungen konstruktivistisch aufgelöst hat.

    In diesem Zusammenhang hat mich Ihr Kollege, Prof. Albrecht, vorübergehend soziologisch sprachlos gemacht mit seiner Formulierung:

    „Es gibt keine sozialen Strukturen da draußen in der Welt, die wir entdecken könnten …. Strukturen sind begriffliche Erkenntnismittel, die an intersubjektiv geteilten Wahrnehmungen plausibilisiert werden.“

    Dagegen ist sogar die neueuropäische Autopoiesis Luhmanns konstruktivistische Hardcore-Soziologie.

    Nun meine Frage.

    Wie würde Hans Paul Bahrdt einen solchen Umgang mit dem Thema „soziale Strukturen“ möglicherweise kommentieren und wie begreifen Sie persönlich als Soziologe „soziale Strukturen“?

    HG
    Gerhard Schwartz

    1. Sehr geehrter Herr Schwartz,

      allerbesten Dank für Ihre Frage! Lassen Sie mich mit einem Schüttelreim von Hans Paul Bahrdt antworten – dieser Schüttelreim (ein besonders schöner!) findet sich als Überschrift zum Kapitel „Soziale Struktur und soziales System“ in dem Bahrdtschen Lehrbuch „Schlüsselbegriffe der Soziologie“:

      „Ein Kollege, einst ein Rebell, sagt: ‚Alles ist strukturell. Man lebt in Systemen. Was soll ich mich schämen?‘ Der Kerl arrivierte sehr schnell“

      Ist damit nicht schon das Wesentliche zum Thema Struktur und System gesagt? Gibt es tatsächlich keine Verhaltensregelmäßigkeiten in der Gesellschaft, keine Interessen, keine Machtbeziehungen, die soziologisch zu „entdecken“ wären? Auch wenn wir soziale Strukturen nicht sehen und kaum anfassen können, wir spüren sie doch und verstehen sie zu nutzen – der eine mehr, die andere weniger.
      „Der Kerl arrivierte sehr schnell“ – eben!

      Herzliche Grüße, Ihr
      Berthold Vogel

      1. Wunderbar, Herr Dr. Vogel, vielen Dank für den Hinweis.

        Es beruhigt mich, dass es noch Soziologen gibt, die sich für Soziologie interessieren.

        Ich werde mir die „Schlüsselbegriffe der Soziologie“ besorgen und bin neugierig auf Bahrdts „soziale Struktur und soziales System“, die ich anschließend in Relation zu meinem Blick auf soziale Strukturen methodologisch und theoretisch kommentieren werde.

        Dabei interessiert mich auch die Frage, welche Rolle das Unbewusste in seiner soziologischen Konzeption spielt.

        Bis dahin wünsche ich Ihnen eine gute Zeit!
        HG Gerhard Schwartz

Kommentare sind geschlossen.