Text und Kontext

Die Personen weisen Verhaltensmuster auf, die von einem flexiblen, situationsangemessenen Erleben und Verhalten in charakteristischer Weise abweichen. Die persönliche und soziale Funktions- und Leistungsfähigkeit ist dadurch meistens beeinträchtigt. Es werden Handlungen gesetzt, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen. Es gibt häufige, unvorhersehbare und launenhafte Stimmungsschwankungen. Beziehungen sind instabil, oft treten emotionale Krisen auf. Es werden Störungen und Unsicherheiten bezüglich des Selbstbildes sichtbar, auch Verunsicherung über Ziele und eigene Präferenzen. Die Selbstwahrnehmung ist deutlich verzerrt, bis hin zu Identitätsstörungen.

Ein anhaltendes Gefühl der Leere macht sich breit. Verschiedentlich gibt es impulsive Zornausbrüche, aber auch autoaggressive Verhaltensweisen, bis hin zur Selbstverletzung. Jedenfalls besteht eine mangelnde Impulskontrolle. Aufgrund der affektiven Instabilität erleben sich die Betroffenen als unzufrieden, misslaunig oder missgestimmt, gereizt oder verärgert, und so werden sie auch wahrgenommen. Diese Verstimmungen können manchmal Tage andauern.

Es treten Tendenzen zu streitsüchtigem Verhalten und Konflikten auf, insbesondere wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden. Gleichwohl bestehen Trennungsängste oder Verlustängste, auch wenn kein konkreter Grund gegeben ist, und es werden Bemühungen gesetzt, ein tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Dennoch schwankt die Beziehung oft zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung.

Vorübergehend treten paranoide Erscheinungen auf, also Wahnbildungen in Bezug auf die Wirklichkeit, insbesondere Gekränktheit, ungerechtfertigte Verdächtigungen. Sogar dissoziative Erscheinungen kommen vor, insbesondere eine gestörte Erinnerung an die jüngere Vergangenheit.

Soweit die Phänomenologie. Natürlich ist in dieser Beschreibung die Rede von der österreichischen Bundesregierung. (Allerdings können auch ein paar andere europäische Regierungen in Verdacht geraten.) Falls die Leserin oder der Leser nicht gleich die politische Szene vor Augen gehabt haben sollte, ist der Text nochmals zu lesen – Beispiele für die entsprechenden Verhaltensweisen finden sich in der Alltagspresse genug.

PS. Die Textbausteine stammen in Wahrheit aus Erläuterungen des Borderline-Syndroms.

PPS. Das ist natürlich ein (boshafter) Gag, nicht weiter belangvoll. Regierungen im Borderline-Status? Oder könnte die kleine Fingerübung doch irgendwie darüber hinaus interessant sein? Ein Text, der ein spezifisches psychisches Phänomen beschreibt, wird in einen ganz anderen Kontext gestellt. Er bekommt ein neues Referenzobjekt. Und es stellt sich heraus, dass derselbe Text in einem anderen Kontext zwar andere Objekte beschreibt, aber, aus dem neuen Blickwinkel gelesen, in durchaus zutreffender Weise angewendet werden kann. Die „psychophile“ Diktion hat beim ersten Lesen in die Irre geführt. Beim zweiten Lesen hat man ganz andere Phänomene vor Augen, eben politische Strukturen und Prozesse, und man stellt mit Amüsement fest, dass man für alle Aussagen treffende Ereignisse, Anekdoten, Sachverhalte und Kommentare findet, nunmehr halt aus dem politischen Leben gegriffen und nicht aus der alltäglichen zwischenmenschlichen Erfahrung.

PPPS. Man kann weiter überlegen: Ist das eine generelle Beschreibung von „Pathologien“ in sozialen Systemen? Wenn alles irgendwie aus dem Ruder gerät? Wenn die Interaktionsverhältnisse so gestört sind, dass jeder Anlass zu Konflikten, Ängsten und Intrigen bei den Akteuren führt? Gewissermaßen ein „systemisches Pathologiemodell“, welches sich auch auf Unternehmen, Universitäten und Sportklubs anwenden lässt? Ach ja, die Universität…- nein, lassen wir das lieber. Es kann unvermutete „Wiedererkennungseffekte“ aus ganz anderen Lebensbereichen geben.

Solche Interpretationsausweitungen sind vermutlich überzogen. Man kann also die semantische Fingerübung auf die Illustration des banalen Sachverhalts beschränken, dass das, was Texte sagen, eben in mancher Hinsicht von ihren Kontexten abhängig ist – und dann belassen wir es vielleicht doch beim amüsanten Gag.