Produzenten-Zulieferer-Netzwerke auf Lebensmittelmärkten (Differenzierung 3)

Die Bio-Eier wurden von niedersächsischen Landwirten falsch deklariert. Das Aflatoxin kam über verseuchtes Futtermittel aus Serbien in die Milch. Das Pferdefleisch aus Großbritannien, Rumänien, Polen, Italien und den USA fand – als Rindfleisch deklariert – seinen Weg ins Dosengulasch, Fleischklopse, Burger, Lasagne und Pasta. In den Halal-Produkten der Firma Kuraas AS landete Schweinefleisch. Das antibiotikabelastete Putenfleisch aus Rumänien wurde in Münster zu einem Tandoori-Fertiggericht weiterverarbeitet und an Kantinen verschiedener Länder weiterverkauft … man bekommt das Gefühl, dass keiner mehr den Überblick hat. Und wahrscheinlich ist das auch so – und das wäre, ehrlich gesagt, kein Wunder: Durch den Wettbewerb von Unternehmen haben sich nicht nur die Zahl der Arbeitsschritte pro Produktionsstufe vergrößert, so dass etwa Joghurt heute in Fabriken hergestellt wird, sondern auch die Produktionskette hat sich zunehmend differenziert, so dass heute in komplexen Produzenten-Zulieferer-Netzwerken (Windeler 2001) produziert wird.

Noch vor hundertfünfzig Jahren war das ganz anders. Damals besaßen die meisten deutschen Familien eine Ziege oder Kuh. Aus der Milch stellten sie selbst saure Milch her – die deutsche Vorform des Joghurts.

Durch Industrialisierung und Urbanisierung waren dann immer weniger Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt. Wegen der langen Arbeitszeiten hatten sie immer weniger Zeit für Nahrungsmittelanbau und fürs Kochen – und auch keinen eigenen Garten oder Feld mehr, weil ja immer mehr Menschen in Städten lebten. Auch städtische Hygienevorschriften schränkten die Nutztierhaltung immer mehr ein. Dies setzte einen Prozess der Spezialisierung und Differenzierung der Produktionskette in Gang, der sich – einmal begonnen – pfadabhängig entwickelte und bis heute anhält.

Verlängerung der Produktionskette für Milcherzeugnisse seit Mitte des 19. Jh. (Quelle: Nuhn 1999: 160)
Verlängerung der Produktionskette für Milcherzeugnisse seit Mitte des 19. Jh. (Quelle: Nuhn 1999: 160)

Es begann schleichend damit, dass in der ersten Hälfte des 19. Jh. immer mehr Bauern frische Milch an andere Bewohner ihrer Gemeinde lieferten. Als infolge der Wissenschaftsentwicklung naturwissenschaftlich-technische Kenntnisse über Milch zunahmen, erließen Regierungen immer mehr hygienische Vorschriften. Diese schränkten den freien Verkauf von Milch ein, die nicht durch Molkereien vorbehandelt war. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. gründeten deshalb einzelne Bauern Molkereien, an die andere Bauern ihre Milch abliefern konnten. Gleichzeitig spezialisierten sich einzelne Kaufleute darauf, naheliegende Städte mit Milch zu beliefern – der Milcheinzelhandel war geboren.

In der ersten Hälfte des 20. Jh. differenzierten sich die Molkereien in Trinkmilchmolkereien in Stadtnähe und weiter von Städten entfernte Werkmilchmolkereien, die die Milch zu anderen, haltbaren Produkten weiterverarbeiteten. Auch der Handel differenzierte sich weiter aus: Der Großhandel verhandelte direkt mit regional bzw. national verstreuten Produzenten, kaufte große Mengen ein und belieferte einzelne Städte. Der Einzelhandel kaufte beim Großhandel ein und verteilte die Milchprodukte über Läden in einer Stadt an den Konsumenten. Das Gastronomiegewerbe wurde ebenfalls vom Großhandel beliefert und bereitete nun auch Speisen für den Konsumenten zu.

Bis dahin wurde die saure Milch, der Vorgänger von Joghurt, immer noch von der Hausfrau selbst hergestellt. Dies änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.: Hygienevorschriften verboten den Verkauf von Rohmilch an den Endverbraucher. Die Herstellung von saurer Milch war damit nicht mehr möglich. Durch die Einführung der Selbstbedienungs-Supermärkte im Einzelhandel wurden der Ab Hof-Verkauf und der Tante-Emma-Laden bedeutungslos. Die großen Nahrungsmittelkonzerne führten gleichzeitig den Joghurt als neues, gesundheitsförderndes Produkt ein. Gleichzeitig spezialisierten sich die Produzenten weiter: Die Milchbauern gründeten Milchabsatzorganisationen, die die Molkereien belieferten. Die Molkereien differenzierten sich in Milchbearbeiter und Milchverarbeiter.

Kurz danach wurden neue Einzelhandelsformate erfunden (Discounter oder größere Verkaufsflächen). In den folgenden Jahren wurde die Produktion national. Die Milchverarbeiter spezialisierten sich auf bestimmte Milchprodukte (Joghurt oder Käse), zunehmend sogar auf bestimmte Spezialformen eines Milchproduktes (Fruchtjoghurt oder Naturjoghurt), und eine breite Zuliefererindustrie bildete sich heraus, wobei sich parallel Handelsunternehmen vertikal und horizontal zusammenschlossen.

Um 2000 herum war die industrielle Joghurtproduktion hocharbeitsteilig. Wie die Grafik zu Beginn dieses Textes illustriert, gehören u.a. folgende Spezialisten zum Produzenten-Zulieferer-Netzwerk: Samenbänke, Kälberzuchtbetriebe, Getreide produzierende Landwirte, Futtermittelbetriebe, Tierärzte (mitsamt eigener Zuliefererindustrie wie Pharmaindustrie für Medikamente für Stalltiere), Milchbauern, auf Milchabholung spezialisierte Betriebe, Starterkulturhersteller, Fruchtzubereitungshersteller, Süßstoffhersteller, Hersteller von Emulgatoren, Stabilisatoren, Verdickungsmitteln, Konservierungsstoffen und Reinigungsmittelhersteller, Verpackungsindustrie, Spezialanlagenbau (für Ställe, Melkmaschinen, Silos usw.), Joghurthersteller (Molkereien), auf Joghurttransport spezialisierte Logistikunternehmen, Großhandel und Einzelhandel.

Da Joghurt nach wie vor in verderbliches Produkt ist, muss der Ablauf zwischen diesen Betrieben reibungslos funktionieren. Es darf keine Verzögerungen geben, und die Kühlkette muss garantiert werden. Und vor allem: Man muss den Anderen vertrauen und den Überblick behalten– und genau da liegt das Problem der aktuellen Skandale. Vermutlich wurde die ganze Zeit zu viel vertraut und zu wenig kontrolliert. Jetzt, wo nachgeschaut wird, findet man auf einmal alles mögliche Unerwünschte in den Produkten …

 

Literatur

Nuhn, Helmut (1999): Veränderungen des Produktionssystems der deutschen Milchwirtschaft im Spannungsfeld von Markt und Regulierung. In: Berthold, Astrid/Neiberger, Cordula/Nuhn, Helmut/Stamm, Andreas (Hg.) (1999): Auflösung regionaler Produktionsketten und Ansätze zu einer Neuformierung. Fallstudien zur Nahrungsmittelindustrie in Deutschland. Münster: Lit. S. 113-167

Windeler, Arnold (2001): Unternehmungsnetzwerke. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie