Globale Unternehmen und lokale Lebensverhältnisse. Der Einfluss der räumlichen Organisation der Produktion auf die Gesellschaft

Wie ich gestern beschrieben habe, bestehen zwischen verschiedenen Unternehmen, die Teil eines Produzenten-Zulieferer-Netzwerkes sind, marktspezifische, aber strukturelle Machtungleichgewichte, und diese werden nicht nur strategisch genutzt, sondern beeinflussen auch das Wettbewerbsverhalten nachhaltig. Auch zwischen (globalen) Unternehmen und Regionen bzw. der Gesellschaft bestehen Machtbeziehung: Da Unternehmen immer an bestimmten Orten produzieren, sind sie auf lokale Ressourcen angewiesen, beeinflussen aber gleichzeitig die lokale Sozialstruktur, d.h. die Lebenschancen der dort lebenden Menschen. Dieses Wechselverhältnis versuchen Unternehmen gezielt zu ihren Gunsten zu beeinflussen – ein maßgeblicher Faktor ist hierbei die Art und Weise, wie die Produktionskette räumlich organisiert ist.

Zum Wechselverhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft im Raum existieren zahlreiche Studien. Man weiß, dass sie sich im Zeitverlauf wechselseitig beeinflussen und lose aneinander gekoppelt sind – wie genau diese Prozesse verlaufen, ist eine noch geklärte spannende Forschungsfrage.

Fragt man zunächst, wie sich Wirtschaft auf lokale Lebensverhältnisse auswirkt, finde ich persönlich nach wie vor den in den 1980er von britischen Sozialgeographen (insb. Meegan/Massey 1982; Cooke 1989a, 1989b, 1989c; Massey 1983, 1995) entwickelten „Locality“-Ansatz am besten. Auch wenn er für die nationale Produktion Großbritannien entwickelt wurde, lässt er sich leicht auf globale Produktion übertragen. Ich finde diesen Ansatz v.a. deshalb reizvoll, weil hier wirtschaftliche Globalisierung nicht aus abstrakten, frei schwebenden Wirtschaftsströmen besteht, sondern von konkrete Akteure handeln und so ein spezifisches Wechselverhältnis von Globalisierung und Lokalisierung bewirken. Konkret gehen Meegan und Massey (1982) davon aus, dass es drei Arten gibt, die Wertschöpfungskette räumlich zu organisieren (die natürlich kombiniert werden können). Die räumliche Arbeitsteilung hat wieder konkrete Auswirkungen auf die lokale Sozialstruktur sowie auf den Grad, mit dem ein Unternehmen abhängig von einer Firma ist (und der Firma damit die Möglichkeit gibt, Marktmacht auszuüben:

  • Die deutsche Automobilindustrie (Opel, VW, Daimler, Porsche) konzentriert typischerweise (fast) das komplette Produzenten-Zulieferer-Netzwerk in einer Region. Für die Firmen hat den Vorteil kurzer Transportwege sowie dass sie sog. regionale Innovationsnetzwerke und lokal verankertes Wissen gut nutzen kann. Für die Region hat das den Vorteil, dass sämtliche Berufe (hinsichtlich Berufsprestige und Einkommen und je nach Branche auch Art der Tätigkeit) in der Region vorhanden sind und damit die Lebenschancen der dort Geborenen relativ gut und stark von ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit abhängig sind, ohne dass sie mobil sein müssen. Gleichzeitig sind Firma und Region aber wechselseitig voneinander sehr stark abhängig: Das Unternehmen ist z.B. auf ein günstiges Lohnniveau, Ausbildungsstand, politische Regulierung usw. angewiesen und kann etwa von kämpferischen Gewerkschaften effektiv lahmgelegt werden. Die Region wiederum floriert, solange es dem Unternehmen gut geht. Ist die Wirtschaftslage in der spezifischen Branche schlecht oder geht die Firma gar in Konkurs, ist dagegen auch die ganze Region bedroht – das wahr z.B. ja genau das Problem bei Opel und hat die Bundesregierung so anfällig für Erpressungsversuche im Rahmen der Übernahmeverhandlungen gemacht.
  • Alternativ kann die räumliche Organisation der Produktionskette folgen, d.h. jede Produktionsstufe wird in einer anderen Region vollzogen. Ein gutes Beispiel ist die Kleidungsindustrie. Das erhöht zwar die Transportkosten, senkt aber i.d.R. die Produktionskosten, weil das Unternehmen für jede Produktionsstufe gesondert prüfen kann, ob ein lokalspezifisches Wissen erforderlich ist oder einfach nur niedrige Löhne erforderlich sind. Für die Regionen sind die Folgen unterschiedlich: Hat es z.B. eine Unternehmenszentrale ergattert, gibt es relativ viele gut bezahlte Stellen in der Verwaltung. Ist eine Fabrik angesiedelt, gibt es entsprechend viele Stellen in der Produktion – v.a. für Arbeiter. Auf jeden Fall wird die lokale Sozialstruktur sehr einseitig. Das bedeutet: Wenn man einen bestimmten Beruf ergreifen möchte, den es in der Region gerade nicht gibt, muss man umziehen. Man sieht die Spezialisierung mancher Städte auf bestimmte Produktionsstufen übrigens auch in Deutschland, z.B. Frankfurt = Finanzen, Hamburg = Medien, Berlin = Kulturschaffende. Im Vergleich zu anderen Ländern ist diese lokale Spezialisierung in Deutschland aber vergleichsweise harmlos. Die Machtverhältnisse zwischen Region und Unternehmen sind ebenfalls unterschiedlich: Wenn die lokale Produktionsstufe spezifisches Fachwissen erfordert, ist es für das Unternehmen wesentlich schwerer, die Produktion zu verlagern oder bestimmte Produktionsschritte outzusourcen, als bei Tätigkeiten, für die es an verschiedenen Standorten Experten gibt.
  • Schließlich kann sich ein Unternehmen hierarchisch nach dem Stabsmodell organisieren und die Produktionsstufen an verschiedenen Standorten klonen. Die Konzernzentrale gibt es natürlich nur einmal, aber durch die Gründung von Niederlassungen können verschiedene Regionen in den Standortwettbewerb gebracht werden. Die Effekte für die lokale Sozialstruktur sind ähnlich wie beim vorherigen Modell, aber das Machtverhältnis verschiebt sich zugunsten der Unternehmen – sie können jetzt verschiedene Standorte gegeneinander ausspielen (Bsp: GM mit Opel) und sowohl Politik als auch Gewerkschaften erpressen. Außerdem entwickelt sich eine räumliche Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie (Wallerstein 1986; Sassen 1994).

Philipp Cooke (1989a, 1989b, 1989c) unterstrich bereits in den 1980ern, dass Standortwahl und -verbleib wesentlich von den Bedingungen abhängen, die die jeweilige Stadt zu bieten hat. Unternehmen wählen für Produktionsstandorte meist Städte, bei denen sie erwarten, große Verhandlungsmacht gegenüber den lokalen Akteuren zu haben.

Städte – oder generell: das Lokale – sind aber globalen Tendenzen nicht hilflos ausgeliefert. Erstens gibt es ja in den meisten Regionen mehr als ein Unternehmen. Zweitens können Unternehmen nur erfolgreich sein, wenn die lokalen Produktionsbedingungen stimmen, und diese werden wesentlich von Faktoren wie lokale Infrastruktur, Wissen, politische Regelungen und soziokulturellem Umfeld geprägt – nicht umsonst haben viele Firmen, die in den 1990er ihre Produktion nach Osteuropa oder Asien verlagert, wieder nach Deutschland zurückverlagert. Und Städte haben eben auch eine Eigenlogik (Berking/Löw 2008; Frank 2012).

In zeitlicher Perspektive bedeutet das, dass lokale Entwicklung und Unternehmensentwicklung im Zeitverlauf lose aneinander gekoppelt sind. Aufgrund in der Vergangenheit liegender Entscheidungen und Handlungen entwickeln beide „Pfadabhängigkeiten“, so dass historische Entwicklungspfade und aktuelle Raumkontextbedingungen gleichermaßen ökonomisches Handeln prägen. Diese Pfadabhängigkeiten lassen sich – ohne dass sie bislang in der Forschung systematisch aufeinander bezogen wurden – sowohl in der Entwicklung einer Stadt (Harvey 1978, Krugman 1998, Kuder 2009) als auch in der Entwicklung einer Branche (z.B. Bonefield/Holloway 1990) finden.

 

 

Literatur

Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.). (2008). Die Eigenlogik der Städte. Frankfurt/New York: Campus.Derudder, Ben u. a. (2003): Beyond Friedmann’s World City Hypothesis: Twenty-Two Urban Areas Across the World. http://www.lboro.ac.uk/gawc/rb/rb97.html. [Stand: 19.09.2006]

Bonefield, Werner/Holloway, John (1991): Post-Fordism and Social Form. London: Macmillan

Cooke, Philip (1989b): Locality, Economic Restructuring and World Development. In: Cooke, Philip (Hg.): Localities. The Changing Face of Urban Britain. London: Unwin Hyman, S. 1-44.

Cooke, Philip (1989c): The Local Question – Revival or Survival. In: Cooke, Philip (Hg.): Localities. The Changing Face of Urban Britain. London: Unwin Hyman, S. 296-306.

Cooke, Philipp (1989a) (Hg.): Localities. The Changing Face of Urban Britain. London: Unwin Hyman.

Frank, Sybille (2012). Eigenlogik der Städte. In F. Eckhardt (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie (S. 289-310). Wiesbaden: VS Verlag.

Harvey, David (1978): The Urban Process under Capitalism: A Framework for Analysis. In: International Journal of Urban and Regional Research 2.

Krugman, Paul (1998): What’s New About the New Economic Geography? In: Oxford Reviw of Econmic Policy 14- 7-17

Kuder, Thomas (2009): Pfadanalysen – ein Konzept zur Erforschung der Regeneration schrumpfender Städte. In: Kühn, Manfred/Liebmann, Heike (Hg.): Regenerierung der Städte. Strategien der Politik und Planung im Schrumpfungskontext. Wiesbaden: VS Verlag

Massey, Doreen (1983): Industrial Restructuring and Class Restructuring. In: Regional Studies 17, S. 73-89.

Massey, Doreen (1995): Spatial Divisions of Labour. Social Structures and the Geography of Production. London u. a.: Macmillan.

Meegan, Richard/Massey, Doreen (1982): The Anatomy of Job Loss. The How, Why and Where of Employment Decline. London/New York: Methuen.

Sassen, Saskia (1994): Cities in a World Economy. Thousand Oaks/London/Neu-Delhi: Pine Forge

Wallerstein, Immanuel (1986): Das moderne Weltsystem. Frankfurta. M.: Syndikat

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie