Konsumgütermärkte als komplexe Interaktionsketten. Ein Zwischenfazit

Anfang März hatte ich mir das Ziel gesteckt, meine Zeit auf diesem Blog einerseits zu nutzen, um verschiedene Textformate auszuprobieren, andererseits in dieser Zeit (im Sinne der „Public Sociology“, die Soziologie als Krisenwissenschaft deutet, die Deutungsangebote bereitstellt) ein aktuelles Thema herauszugreifen und zu diskutieren. Da ich selbst mich sehr stark für Märkte interessiere, habe ich angesichts der Lebensmittelskandale der vergangenen Monate den Lebensmittelmarkt als konkretes Beispiel einen Konsumgütermarkt ausgewählt, mit der Absicht, einen Beitrag zu dem Versuch leisten, moderne (Lebensmittel-)Märkte und die Risikoproduktion auf diesen Märkten besser verstehen. Da ich jetzt ungefähr bei der Hälfte meiner Schreibzeit angekommen bin und am Montag (zumindest hier in Berlin) die Vorlesungszeit anfängt, ist dies ein guter Zeitpunkt, um ein Zwischenfazit zu ziehen: Was habe ich bisher gemacht? Wie ordnen sich die bisherigen Beiträge in das Gesamtgefüge ein? Und was plane ich noch, in den nächsten Wochen zu schreiben?

Marktdefinition

Ausgangspunkt meiner Analyse war die Beobachtung, dass realwirtschaftliche Prozesse anders funktionieren und dass moderne Massenmärkte viel komplexer sind, als das neoklassische Marktmodell nahelegt. Auch wenn es verschiedene Möglichkeiten gibt, Märkte soziologisch zu definieren, so vertrete ich selbst ein figurationssoziologisches Marktmodell: Moderne (Konsumgüter)Märkte sind für mich dynamische, sehr lange und komplexe Interaktionsketten aus individuellen und kollektiven Akteuren, die in soziale Strukturen eingebettet sind. Wie Grafik 1 illustriert, werden Märkte dabei durch eine Spannung aus Kooperation/Tausch und Konkurrenz gekennzeichnet: Entlang der Wertschöpfungskette („Supply Chain“) produzieren, vertreiben und tauschen Zulieferer, Produzenten, Handel und Konsumenten Güter und Dienstleistungen gegen Geld. Innerhalb jeder dieser Akteursgruppen herrscht Konkurrenz, wobei die Konkurrenzmechanismen jeweils andere sind. So geht es bei Konsumenten um klassische sozialstrukturelle Mechanismen wie Distinktion und Anerkennung, bei Produzenten um das Überleben auf dem Markt bzw. dem Gewinnen von Marktmacht.

Marktgrenzen

Es ist dabei sehr schwer, Märkte sachlich (hinsichtlich der Eigenschaften des vertrieben Produkts), räumlich und hinsichtlich der beteiligten Marktakteure abzugrenzen, weil die Marktgrenzen empirisch unscharf sind. Auf das Problem, wie diese sachliche Abgrenzung und die Abgrenzung der beteiligten Akteure auf Märkten stattfinden, werde ich noch zu sprechen kommen. Bislang habe ich mich in einer Reihe von Beiträgen v.a. mit der räumlichen Abgrenzung von Märkten befasst. Ich habe versucht zu zeigen, dass räumliche Einheiten und die Grenzen zwischen ihnen sozial konstruiert sind (Baur 2013a, 2013b, 2013c, 2013d, 2013e, 2013f, 2013g, 2013h). Dennoch ist – wenn man Wirtschaft betrachtet – Raum nicht nur sozial konstruiert, sondern auch ein wichtiger Produktionsfaktor, denn Wirtschaft findet immer im Raum statt. Es lassen sich einerseits verschiedene Wirtschaftsregionen unterscheiden, andererseits lässt sich eine Globalisierung der Produktion feststellen, die die Überbrückung von großen Distanzen und die Überwindung der (vorher sozial konstruierten) Grenzen zwischen Nationen und Wirtschaftsregionen erfordert. Darüber, wie Globalisierung und Regionalisierung (wirtschaftlich gesehen) zusammenwirken, werde ich noch schreiben, aber da hier Politik und Macht eine große Rolle spielen, möchte ich erst über dieses Verhältnis schreiben, bevor ich zurück zur räumlichen Organisation der Produktionskette komme.

Differenzierung

Die räumliche Organisation der Produktionskette verweist auf eine weitere Eigenheit von modernen Konsumgütermärkten: Sie sind differenziert, und zwar in dreifacher Hinsicht:

  1. hinsichtlich der Zahl der Arbeitsschritte pro Produktionsstufe,
  2. hinsichtlich der Länge der Produktionskette (der Zahl der Produktionsstufen) – produziert wird heute fast ausschließlich in komplexen Produzenten-Zulieferer-Netzwerken – und
  3. in räumlicher Hinsicht.

Eine Voraussetzung für die industrielle Massenproduktion ist dabei die Standardisierung der Rohstoffe, die für die Produktion benötigt werden – selbst, wenn es sich hierbei um Lebewesen handelt. Trotz aller Standardisierungsbemühungen spielen allerdings die Produkteigenschaften eine wichtige Rolle für das Funktionieren konkreter Märkte.

Die einzelnen Glieder der Produktionskette

Aufgrund der Differenzierung der Produktionskette ist die Zahl der potentiellen Akteure auf einem Markt sehr groß, aber nicht auf jedem Markt treten alle Akteure gleichermaßen in Erscheinung. Es treten ständig neue Marktakteure auf, und es werden immer wieder neue Produkte entwickelt, dafür verschwinden alte vom Markt, weshalb Märkte immer dynamisch sind.

Ist ein Markt erst einmal etabliert, entwickelt er eine bestimmte Eigenlogik. Die einzelnen Marktteilnehmer haben nur noch begrenzten Handlungsspielraum. Es existiert dabei sowohl eine Logik für den Markt als Ganzes, aber auch die verschiedenen Teilbereiche sind einer eigenen Logik unterworfen. Diese Teillogiken können sich widersprechen bzw. in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Es verlaufen also in jedem Bereich parallele Prozesse. Diese sind zwar jeweils in sich logisch und konsistent, berücksichtigen aber nicht die Logiken und Marktprozesse in anderen Bereichen.

Um das Ganze (einen Lebensmittelmarkt) zu verstehen, muss man folglich die einzelnen Glieder der Produktionskette verstehen. Über die Zulieferer, Produzenten, den Handel (Baur 2013i, Baur 2013j) sowie die Unternehmen des sog. Außer-Haus-Konsums habe ich bereits geschrieben – über die Verbraucher werde ich noch schreiben (Baur 2013t; Baur 2013u; Baur 2013v; Baur 2013w; Baur 2013x; Baur 2013y; Baur 2013z). Ebenso werden noch einige Eigenheiten der Hersteller zur Sprache kommen, die erst verständlich werden, wenn man die Rolle der Politik (Baur 2013k, Bair 2013l; Baur 2013m; Baur 2013n) und/oder der Verbraucher auf Märkten mit berücksichtigt.

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Zubringermärkte

Wie Grafik 2 illustriert, können Konsumgütermärkte nicht für sich funktionieren – sie sind mit anderen Märkten verflochten, beeinflussen diese, werden aber auch von deren Dynamiken beeinflusst. Über die drei wichtigsten „Zubringermärkte“ habe ich bereits geschrieben – sie alle sind deshalb so bedeutsam, weil sie wichtige Leistungen erbringen, um die Interdependenzketten auf Konsumgütermärkten aufrechtzuerhalten.

Arbeitsmarkt

Zu nennen ist zunächst der Markt, mit dem sich die Soziologie als Wissenschaft am ausführlichsten und längsten befasst hat: der Arbeitsmarkt, der Unternehmen mit Arbeitskräften versorgt, aber gleichzeitig über das Einkommen der Erwerbstätigen ein wichtiges Bindeglied zwischen Wirtschaft und Gesellschaft ist – eine Tatsache, die nicht nur die früheren Soziologen, sondern auch etwa die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft anerkannten. Dabei sind die Lebenschancen von Menschen sehr unterschiedlich, da – je nach Wirtschaftsregion, in der sie leben, die Arbeitsmarktlage sehr unterschiedlich ist. Auch auf diese Verknüpfung zwischen Sozialstruktur, Wirtschaft und Raum werde ich noch einmal zu sprechen kommen. Ebenso werde ich noch über eine seltener gemachte Verknüpfung schreiben: Über den Privathaushalt sind Menschen doppelt mit Märkten verknüpft: Der Arbeitnehmer tauscht über den Arbeitsmarkt seine Arbeitskraft gegen Geld (Einkommen) ein. Dieses Geld tauscht die Konsumentin wieder auf Konsumgütermärkten gegen Güter und Dienstleistungen ein. Damit sind Sozialstrukturanalyse, Soziologie des Arbeitsmarktes und Marktsoziologie miteinander verknüpft. Auch darüber, warum ich von der Konsumentin und dem Arbeitnehmer spreche, wird noch zu reden sein (Baur 2013y). Es sei an dieser Stelle sei nur so viel angemerkt, dass in Mitteleuropa mit dem Ernährer-Hausfrau-Modell nicht nur Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit, sondern auch Produktion und Konsum historisch geschlechtlich konnotiert wurden.

Finanzmarkt

Ein zweiter wichtiger „Zubringermarkt“, der uns seit Jahren in Atem hält, ist der Finanzmarkt. Diesbezüglich habe ich mich bislang mit der Frage auseinandergesetzt, was eigentlich Geld ist und warum die Finanzkrisen der letzten Jahren als „systemkritisch“ gelten, welche wirtschaftlichen und sozialen Prozesse die Entwicklung der Finanzmärkte vorantreiben sowie umgekehrt, welche Auswirkungen die Finanzmärkte auf Wirtschaft und Gesellschaft haben. Der Preis eines Gutes drückt dabei den „objektiven“, d.h. gesellschaftlichen Wert eines Gutes aus, wobei ich gezeigt habe, dass auf Lebensmittelmärkten die niedrigen oder sinkenden Lebensmittelpreise nicht durch die mangelnde Bereitschaft des Verbrauchers, für Essen zu bezahlen, sondern durch Konkurrenz des Lebensmittelhandels zustande kommt – und dass die zu niedrigen Lebensmittelpreise genau einer der Gründe für die Zunahme von Risiken auf diesen Märkten ist.

Medien

Ein dritter wichtiger, aber nur sehr selten diskutierter „Zubringermarkt“ sind die Medien. Diese sind zunächst selbst ein Markt, übernehmen aber auch wichtige Funktionen für die Gesellschaft und Wirtschaft. Im Bereich der Wirtschaft ermöglichen sie (u.a. über Werbung, Marktforschung und Marketing) die Kommunikation zwischen Konsumenten, Handel, Produzenten und Zulieferern, tragen aber auch wesentlich zur Risikoproduktion auf diesen Märkten bei.

Ausblick

In den nächsten drei Wochen werde ich über die fehlenden Glieder der Produktionskette schreiben:

  1. Nächste Woche werde ich mich zunächst mit einem weiteren wichtigen Marktakteur – der Politik – befassen (Baur 2013k, Bair 2013l; Baur 2013m; Baur 2013n) und in diesem Rahmen auch diskutieren, welche Rolle Macht auf Märkten spielen (Baur 2013m; Baur 2013n; Baur 2013o; Baur2013p) sowie, welche Rolle die Politik bei der wirtschaftlichen Globalisierung spielt (Baur2013p).
  2. Bislang habe ich mich außerdem mit den Ursachen der Differenzierung befasst – übernächste Woche werde ich mich mit einigen ihrer Folgen befassen. Das Kernproblem ist hierbei, wie etwa der Beobachter der Moderne bereits angemerkt hat, wie die hieraus resultierende Komplexität gehandhabt wird. Ein Argument wird sein, dass sie eben teilweise nicht gut gehandhabt wird und dadurch Risiken entstehen (Baur 2013q). Ich werde aber auch auf Versuche, diese Komplexität zu handhaben eingehen – und zwar einerseits über Wissen und Innovationen, andererseits über Konventionen (wobei dies nicht unbedingt Gegensätze sind) (Baur 2013r; Baur 2013s; Baur 2013t; Baur 2013u; Baur 2013v; Baur 2013w).
  3. In der letzten Aprilwoche werde ich mich schließlich mit der Rolle des Verbrauchers auf Konsumgütermärkten auseinandersetzen (Baur 2013t; Baur 2013u; Baur 2013v; Baur 2013w; Baur 2013x; Baur 2013y; Baur 2013z).

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

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