Praktiken des Haareschneidens. Verankerung von Wissen in ökonomischen Konventionen auf dem Friseurmarkt

Auf allen modernen Märkten ist Wissen ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, das Wissen weiterzugeben (denn nicht Alles, was es über ein Produkt zu wissen gibt, steht in Büchern), sondern auch darin, die hochdifferenzierte Produktionskette aufrechtzuerhalten. So ist etwa die Herstellung eines eigentlich so simplen Produkts wie des Joghurts mittlerweile so komplex wie die eines Autos, und es stellt sich die zusätzliche Frage, wie man die Produktion über viele verschiedene Firmen und noch dazu große Distanzen hinweg organisiert, ohne den Überblick zu verlieren.[1]

Die „Ökonomie der Konventionen“ („Économie des Conventions“),[2] greift diese Beobachtung auf und argumentiert, dass – anders als die Neoklassik postuliert – Ziele und Mittel wirtschaftlichen Handelns eben nicht immer explizit sind und auch nicht explizit ausformuliert sind – die meisten Marktteilnehmer könnten sie noch nicht einmal verbal ausformulieren, wenn man sie danach fragen würde. Vielmehr konstruieren ökonomische Akteure interaktiv gemeinsame Vorstellungen darüber, was als wirtschaftlich rational gilt und wie man wirtschaften sollte. Dieses Wissen über das Funktionieren von Märkten ist in Praktiken und Konventionen verankert und wird über diese weitergegeben, frei nach dem Motto: „Wir haben das schon immer so gemacht.“ Hierzu ein Beispiel:

In einem aktuellen Forschungsprojekt [3] vergleichen wir den Friseurmarkt in vier Städten (Frankfurt, Dortmund, Birmingham und Glasgow). In der ersten Projektphase haben wir v.a. die Arbeit in den Friseursalons ethnografisch beobachtet. Hierbei sieht man ziemlich genau, wie solche Praktiken der Wissensweitergabe funktionieren. So ist vermutlich jedem, der schon einmal einen Friseursalon besucht hat, aufgefallen, dass es immer die Lehrlinge sind, die die Haare auffegen – und dass die Lehrlinge im ersten Jahr auch nicht viel anderes machen dürfen als die „Drecksarbeiten“.

Das kann auf den ersten Blick wie eine Disziplinierungsmaßnahme wirken (und in gewissen Sinn ist sie das auch – es werden implizit Hierarchien eingeübt und in den Praktiken verankert).

Das Ganze hat aber auch einen anderen, tieferen Sinn: Wie bei Lebensmitteln ist auch in einem Friseursalon Hygiene sehr wichtig, weil die Friseure ja täglich am Körper des Kunden arbeiten. Es ist absolut wichtig, dass Alles immer sauber ist, damit (wenn z.B. ein Kunde krank ist) sich Mitarbeiter und Kunden nicht anstecken. So haben auch in unserem Pretest zu einer standardisierten Befragung alle Friseure zugestimmt, dass „Sauberkeit das A und O“ im Friseursalon sei. Lehrlingen wird nun die Bedeutung der Sauberkeit nicht abstrakt vermittelt, indem man ihnen sagt, dass sie wichtig ist (das tut man natürlich auch). Stattdessen lernen sie es durch das ständige Fegen, Haarewaschen und Saubermachen so lange und gründlich in der Praxis, bis es ihnen in Fleisch und Blut übergeht – vermutlich ist die Konvention der Sauberkeit am Ende ihrer Lehrlingszeit so stark habitualisiert, dass sie sich körperlich unwohl fühlen würden, wenn sie einen dreckigen Friseursalon betreten würden und gar nicht anders könnten, als sofort sauberzumachen.

Wir konnten nun beobachten, dass in manchen Bereichen diese Praktiken in allen Städten gleich sind – vermutlich sind sie sogar weltweit gleich. So benutzt man überall dieselben Gerätschaften und Techniken des Haareschneidens – diese werden allenfalls der Mode und den Besonderheiten der (Haare der) Kunden angepasst (asiatisches Haar ist z.B. viel glatter und dicker als europäisches Haar und muss deshalb i.d.R. anders geschnitten werden, will man denselben Effekt erzielen). Soweit ich das aus meinen Beobachtungen aus anderen Ländern überblicken kann, gilt das mehr oder wenig weltweilt (in diesem Sinne haben wir tatsächlich eine Globalisierung der Produktionsmethoden, wobei das Friseurhandwerk auch eines der ältesten der Welt ist). Diese Praktiken lösen folglich zum Teil das Differenzierungsproblem – man kann sich darauf verlassen, dass bestimmte Dinge überall gleich gemacht werden, egal wo man ist (und wäre ziemlich verblüfft, wenn dem nicht so wäre).

Friseur (© Patrik Budenz, Laos 2005)
Die Arbeitstechniken im Friseurwesen sind weltweit sehr ähnlich (© Patrik Budenz, Laos 2005)
Friseur (© Patrik Budenz, Laos 2005)
Hierzu gehört insbesondere das Haareschneiden (© Patrik Budenz, Laos 2005)
Friseur (© Patrik Budenz, Thailand 2012)
Auch Rasuren gehören klassischerweise zum Friseur- oder Barbierhandwerk (© Patrik Budenz, Thailand 2012)

Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass es in anderen Bereichen sehr große lokale Unterschiede gibt, und zwar hinsichtlich der Glaubenssätze, was als ökonomisch rational gilt und was zum wirtschaftlichen Erfolg führt (Baur et al. 2013). Das ist nämlich nicht immer ganz klar – ein und dieselbe Handlung kann sehr unterschiedlich gedeutet werden.

In Thailand haben die meisten Friseure (wie bei uns) geschlossene Räume (© Patrik Budenz, Thailand 2012)
In Thailand schneiden viele Friseure (wie bei uns) in geschlossenen Räumen (© Patrik Budenz, Thailand 2012)

Ein Beispiel aus dem Lebensmittelmarkt ist das Pferdefleisch – während offensichtlich viele deutsche Verbraucher den Genuss von Pferdefleisch als Zumutung empfinden, gilt das in manchen Ländern aus Delikatesse.

Ein Beispiel auf dem Friseurmarkt ist die Arbeitsgeschwindigkeit: Wenn ein Friseur sehr schnell arbeitet, kann das so gedeutet werden, dass dieser Friseur besonders effizient ist (also ein sehr guter Friseur). Das kann aber so gedeutet werden, dass der Friseur nicht bereit ist, dem Kunden die Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen, die der Kunde wert wäre (also ein sehr schlechter Friseur ist).

Dennoch sind die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten/wirtschaftlichen Raum viel fließender - man hat teils volle Einblicke in die Salons (© Patrik Budenz, Thailand 2012)
Dennoch sind die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten/wirtschaftlichen Raum viel fließender – man hat teils volle Einblicke in die Salons (© Patrik Budenz, Thailand 2012)
Friseur (© Patrik Budenz, Thailand 2012)
Vieles, was bei uns das Personal versteckt macht, macht man dort offen (© Patrik Budenz, Thailand 2012)

Nun ist das Interessante, dass die Deutung solcher Situationen nicht nur individuell variiert, sondern dass in verschiedenen Städten systematisch bestimmte Deutungen vorzuherrschen scheinen, d.h. es scheinen sich Konventionen, Glaubenssätze, Wert(igkeits)ordnungen bzw. Rechtfertigungsordnungen (Diaz-Bone 2007; Diaz-Bone & Hahn 2007; Knoll 2012) herauszubilden, d.h. es setzt sich eine bestimmte Rationalitätsvorstellung durch (Eymard-Duvernay 2010). Marktakteure orientieren fortan ihr wirtschaftliches Handeln an diesen erlernten soziokognitiven Mustern (Salais 2007) – und lösen dadurch das Problem der Differenzierung, Komplexität und Wissensweitergabe. So bemerken Diaz-Bone und Thévenot (2010, Abs. 10):

Konventionen können als interpretative Rahmen aufgefasst werden, die durch Akteure, entwickelt und gehandhabt werden, um die Evaluation von und Koordination in Handlungssituationen durchführen zu können. … Akteure verwenden Konventionen, um ihre Aussagen über Qualitäten und darüber, ‚wie die Dinge sein sollten‘, zu konstruieren und zu rechtfertigen.

Friseur (© Patrik Budenz, Kambodscha 2008)
Auch in anderen Ländern sind die Läden nicht so abgeschlossen (© Patrik Budenz, Kambodscha 2008)
Friseur (© Patrik Budenz, Laos 2005)
Vielmehr sind die Läden oft offen zur Straße hin und zu den Nachbarläden, die teilweise vollkommen Anderes produzieren (© Patrik Budenz, Laos 2005)

Wir sind noch mitten in der Arbeit, aber unsere ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich diese Glaubenssätze niederschlagen auf die Art, wie Arbeit organisiert wird, wie Mitarbeiter und Kunden in Firmen miteinander umgehen sowie wie man während der Arbeit mit Raum und Zeit umgeht sowie diese organisiert werden (in welchen Räumen etwa geschnitten wird oder wie die Grenzen zwischen Innen und Außen gezogen werden) (zur Grenzziehung vgl. auch Baur 2013a, 2013b, 2013c). Wie das genau aussieht und wo Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen den Städten existieren, wollen wir in unserer weiteren Forschung zeigen.

Friseur, China (© Patrik Budenz 2009)
In vielen asiatischen Ländern wird auch oft auf der Straße, mitten im öffentlichen Raum, geschnitten (© Patrik Budenz, China 2009)
Auch in Indien werden teilweise mitten im öffentlichen Raum Haare geschnitten (© Patrik Budenz, Indien 2010)
Auch in Indien werden teilweise mitten im öffentlichen Raum Haare geschnitten (© Patrik Budenz, Indien 2010)
Friseur (© Patrik Budenz, Vietnam 2004)
Ähnliches lässt sich in Vietnam beobachten (© Patrik Budenz, Vietnam 2004)

 

 

Literatur

Baur, Nina/Löw, Martina/Hering, Linda/Quermann, Anna Laura/Stoll, Florian (2013): Die Rationalität lokaler Konventionen im Friseurwesen. Der Beitrag von Wirtschaftspraktiken zur Lösung des Kooperations- und Wertproblems wirtschaftlichen Handelns. Im Begutachtungsprozess

Blomert, Reinhard (2001). Sociology of Finance. Economic Sociology, 2(2), 9-14.

Diaz-Bone, Rainer (2007). Qualitätskonventionen in ökonomischen Feldern. BJS, 17(4), 489-509

Diaz-Bone, Rainer & Hahn, Alois (2007). Weinerfahrung, Distinktion und semantischer Raum. sozialersinn, 8(1), 77-101.

Diaz-Bone, Rainer & Thévenot, L. (2010). Die Soziologie der Konventionen. Trivium, 5.

Eymard-Duvernay, F. (Hrsg.). (2006). L’Économie des Conventions. 2 Bände. Paris: La Découverte.

Favereau, O. & Lazega, E. (Hrsg.). (2002). Conventions and Structures in Economic Organization. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar.

Godechot, Olivier (2007). Der Finanzsektor als Feld des Kampfes um die Aneignung von Gewinnen. In J. Beckert, R. Diaz-Bone & H. Ganßmann (Hrsg.), Märkte als soziale Strukturen (S. 267-280). Frankfurt a.M./New York: Campus.

Kalthoff, Herbert (2007a). Ökonomisches Rechnen. In A. Mennicken & H. Vollmer (Hrsg.), Zahlenwerk (S. 143-164). Wiesbaden: VS Verlag

Kalthoff, Herbert (2007b). Rechnende Organisation. In J. Beckert, R. Diaz-Bone & H. Ganßmann (Hrsg.), Märkte als soziale Strukturen (S. 151-166). Frankfurt a.M./New York: Campus.

Knoll, L. (2012). Wirtschaftliche Rationalitäten. In A. Engels & L. Knoll (Hrsg.), Wirtschaftliche Rationalität? (S. 46-65) Wiesbaden: VS Verlag.

Knorr Cetina, K. & U. Bruegger (2002). Global Microstructures. AJS, 107(4), 905-950.

Löw, Martina/Baur, Nina/Hering, Linda/Quermann, Anna Laura/Stoll, Florian (2013): Der Einfluss städtischer Eigenlogiken auf Wirtschaftspraktiken. Lokale ökonomische Konventionen des Friseurwesens in Frankfurt, Dortmund, Birmingham und Glasgow. Im Begutachtungsprozess

Lütz, Susanne (2008). Finanzmärkte. In A. Maurer (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie (S. 341-360). Wiesbaden: VS Verlag.

Preda, A. (2001). Sense and Sensibility. Economic Sociology, 2(2), 15-18.

Salais, Robert (2007). Die „Ökonomie der Konventionen“. In J. Beckert, R. Diaz-Bone & H. Ganssmann (Hrsg.), Märkte als soziale Strukturen (S. 95-112). Frankfurt a.M./New York: Campus.

Thévenot, L. u. a. (2005). Values, Coordination and Rationality. In A. N. Oleinik (Hrsg.), The Institutional Economics of Russia’s Transformation (S. 21-43). Aldershot: Ashgate.

Woolsey Biggart, N. & T. D. Beamish (2003). The Economic Sociology of Conventions. Annual Review of Sociology, 29, 443-464.

 

Anmerkungen

[1] Nassehi (2012) hat das Problem auf diesem Blog so formuliert:

Die operative Geschlossenheit dagegen sieht so aus, als sei das System ausschließlich auf sich selbst geworfen und damit nicht zu Außenkontakt in der Lage. Aber das systemtheoretisch Interessante ist doch eher die Frage, wie die operative Schließung des Systems Offenheit erzeugt. Codierte Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Anschlussstellen, also die Fortsetzung ihrer Operationsweise ausschließlich in der Zuweisung von positiven oder negativen Code-Werten zu sehen sind.

[2] Vgl. hierzu z.B. Diaz-Bone 2007; Eymard-Duvernay 2006; Favereau & Lazega 2002; Salais 2007; Thévenot 2005; Woolsey Biggart & Beamish 2003; für die Finanzsoziologie bzw. politikwissenschaftliche Finanzforschung siehe Blomert 2001; Godechot 2007; Kalthoff 2007a, 2007b; Knorr Cetina & Bruegger 2002; Lütz 2008; Preda 2001.

[3] Das Forschungsprojekt ist Teil eines Forschungsverbundes, in dem es eigentlich um die Überprüfung des Ansatzes der „Eigenlogik der Städte“ geht. Im Projektverbund hat unser Projekt die Funktion zu überprüfen, inwiefern sich das Städtische in die Wirtschaft einschreibt. Erste Ergebnisse finden sich in Löw et al. (2013). Im Rahmen dieses Blogs lese ich aber die ersten Ergebnisse umgekehrt, d.h.: Was kann man aus dem Vergleich der Wirtschaft der vier Städte für die Wirtschaftssoziologie lernen? Die ersten Ergebnisse sind in Baur et al. (2013) zusammengefasst.

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie

Ein Gedanke zu „Praktiken des Haareschneidens. Verankerung von Wissen in ökonomischen Konventionen auf dem Friseurmarkt“

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