Über die Suggestion steigender Delinquenz im Zeitalter der Medialisierung

Von Sarah Kaschuba

Soziale Umbrüche und Gesellschaften im Wandel – dieses Thema wirft sicher für viele Menschen, zumindest aber für Soziologieinteressierte, eine Menge Fragen auf. Auf einige dieser werden wir in unserer Blogreihe eingehen. Einen Aspekt stellt der Prozess der zunehmenden Medialisierung dar. Welche Auswirkungen haben die modernen Kommunikationsmittel auf die Wahrnehmung und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft? In diesem Artikel soll es darum gehen, wie in Zeiten von ständigem Informationsfluss über Internet, Fernsehen und Radio die Entwicklung der Kriminalität dargestellt wird – und welchen Einfluss das auf die Rezipient_innen hat.

Kriminalität in den Medien

„Familiendrama – 21-Jähriger soll Großeltern erstochen haben“ (Focus Online, 13.06.2013), „Schüsse auf Polizisten – Ermittler suchen Täter mit Drohne“ (Berliner Morgenpost, 14.06.2013), „Keine heiße Spur vom Juwelenräuber“ (Focus Online, 14.06.2013): Jeder kennt diese Schlagzeilen in der heutigen Zeit. In der Beschreibung zu dem Buch „Das Ende der Geduld. Konsequenter gegen jugendliche Gewalttäter“ der Richterin Kirsten Heisig heißt es auf der Seite des Herder-Verlags: „Die Gewalttäter werden jünger, brutaler, skrupelloser und die Gesellschaft mit diesem Problem hilfloser.“ Ist dem tatsächlich so? Und wenn ja, gilt dies für alle Deliktarten, für alle Bildungsniveaus und für alle sozialen Schichten? Würde die Mehrheit der Gesellschaft der These der steigenden Kriminalitätsbelastung zustimmen? Und wenn es eine wachsende Kriminalitätsfurcht gibt, inwiefern könnte diese dann mit den oben genannten Titelbeispielen zusammenhängen? Was macht es mit uns, täglich die Berichterstattung über Kriminalität zu verfolgen? Welche Auswirkungen haben Sendungen wie „Aktenzeichen XY ungelöst“ oder „Ärger im Revier. Auf Streife mit der Polizei“ auf die Zuschauer_innen? Und wo beginnt und endet dabei die Realität?

Eine wichtige Grundlage der Medienberichte sind Kriminalitätsstatistiken, die vom Innenministerium regelmäßig veröffentlicht werden. Dazu gehören beispielsweise die Strafverfolgungs-, Jugendhilfe-, Verkehrsunfälle- und Staatsanwaltschaftsstatistik. Besonders aussagekräftig ist die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Diese soll im Folgenden stellvertretend für die empirische Messung des Deliktverhaltens in Deutschland stehen. Doch was ist eigentlich die PKS?

Steigt die Delinquenz an?

Das Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht seit 1953 eine Zusammenstellung aller angezeigten Straftaten und -versuche und die dazugehörigen Tatverdächtigen (mit Erfassung von Alter, Geschlecht, Region und Ähnlichem). Ausgenommen davon sind Verkehrs- und Staatsschutzdelikte. Seit 1971 fügt das BKA zusätzlich Angaben zu den Opfern oder den durch die Tat verursachten Schäden hinzu. Weitere zentrale Informationen sind die absolute Häufigkeitszahl der Delikte, die Aufklärungsquote, die Opfergefährdungszahl und die räumliche Verteilung der Kriminalität. Ebenso wird über die Entwicklung des delinquenten Verhaltens berichtet. Es gibt ein paar Einschränkungen, die beim Umgang mit der PKS beachtet werden müssen. Dazu gehört beispielsweise, dass jeder Tatverdächtige nur einmal gezählt wird, auch wenn er mehrere Delikte zu verantworten hat. Ebenso weicht der Zeitpunkt einer Tat meist von der Berichtszeit in der Statistik ab, da die Taten erst aufgenommen werden, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind. Darüber hinaus werden in der PKS keine rechtlichen Änderungen berücksichtigt, die nach dem Erfassen einer Tat möglicherweise eingetreten sind. (Vgl. Jung 2005: 58f.)

Welche Fakten lassen sich zunächst aus der Messung des Deliktverhaltens erschließen? Die neueste PKS ist aus dem Jahr 2012. Hier findet sich zur Beschreibung der Kriminalitätsentwicklung eine Zusammenstellung aller wichtigen Eckdaten von 1998 bis 2012 (der Betrachtungszeitraum für jede PKS umfasst 15 Jahre). In diesem Zeitraum ging die Zahl der bekannt gewordenen Straftaten um ca. 460.000 Fälle zurück (7,1 %). Die Variable Fälle pro 100.000 Einwohner (Häufigkeitszahl) verringerte sich um 6,9 %. Gleichzeitig stieg die Aufklärungsquote um 2,1 % an. (Vgl. PKS 2012: 17). Der Blick auf bestimmte Deliktbereiche verdeutlicht: Schwerer Diebstahl ging in den letzten 15 Jahren um 38,9 % zurück, gefährliche und schwere Körperverletzung um 12,1 % und Straßenkriminalität um 24,6 %. Einen Zuwachs von registrierten Straftaten ergibt sich dagegen bei Betrugsfällen (um 35,9 %) und bei der vorsätzlichen leichten Körperverletzung (um 61,7 %). (Vgl. ebd.: 18f.). Und die Jugendkriminalität? Die Zahl aller Kinder (bis 14 Jahre) unter den Tatverdächtigen ist innerhalb von 15 Jahren um 3 % zurückgegangen. Bei Jugendlichen (14 bis 18 Jahre) ist der Anteil um 3,4 % gestiegen und bei Heranwachsenden (18 bis unter 21) um 0,8 % gesunken. Das bedeutet: Der Gesamtanteil der Tatverdächtigen von 0 bis unter 21 Jahren ist um 7,2 % gesunken.

Das waren eine Menge Zahlen, die allerdings verdeutlichen, dass die Anzahl aller registrierten Straftaten abgenommen hat – mit Ausnahme von leichter Körperverletzung und Betrug –, während sich gleichzeitig die Aufklärungsquote erhöht hat. Auch die Anzahl junger Delinquent_innen ist gesunken. Das kann mit verschiedenen Faktoren zusammenhängen, zum Beispiel mit der demografischen Entwicklung, denn ältere Menschen begehen durchschnittlich weniger Straftaten als jüngere. Ebenso gibt es immer bessere Präventionsmöglichkeiten, wie Alarmanlagen, Sicherheitsfenster oder -schlösser usw. Darüber hinaus konnte durch die seit 1998 gestiegene Zahl der Tataufdeckungen möglicherweise eine höhere Abschreckungswirkung erreicht werden (vgl. Windzio et al.: 17f.). Damit haben wir nun zunächst ein Bild von einem Teil der Realität, denn nicht zu vergessen ist das Dunkelfeld. Darunter versteht man alle Straftaten, die nicht angezeigt wurden (zum Beispiel aus Angst vor Rache oder aus Scham). Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen, werden seit dem Ende der 1960er Jahre Täter-, Opfer- und Informanten-Befragungen durchgeführt. Diese ergaben eine signifikante Diskrepanz zwischen begangenen und angezeigten Delikten. Hierbei ist das Dunkelfeld bei leichteren Taten größer als bei schwereren. (Vgl. Jung 2005: 62ff.).

Kriminalität als Nachrichtenfaktor

Zunächst sei hier mit dem Begriff „Medien“ die Gesamtheit aller Berichte, die über das Fernsehen, den Hörfunk oder über den Printbereich (Zeitungen/Zeitschriften) an Rezipient_innen übermittelt werden, gemeint (Nominaldefinition von S.K.). Ein Großteil dieser Informationsträger finanziert sich über Werbeeinnahmen (kommerzielles Fernsehen/Hörfunk) bzw. ist darauf angewiesen, täglich auf ein Neues seine Konsument_innen zu gewinnen (hier insbesondere Zeitungen, die größtenteils von Direktverkäufen abhängig sind, wie die „Bild“). Das bedeutet, die jeweiligen Redaktionen stehen in einem Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung. Um diese zu erlangen, kommen die Medien einem wichtigen Bedürfnis von Menschen nach: dem Wunsch nach Unterhaltung. Das fördert den Trend einer Ausschmückung oder Dramatisierung von Geschehnissen, beispielsweise beim Privatfernsehen („Infotainment“). Berichte über Kriminalität eignen sich dabei gut, da sie den Zuschauenden direkt ansprechen: Jeder könnte ein Opfer sein und jeder möchte sich sicher fühlen. So sind 70 % aller Meldungen über Delinquenz über private TV-Sender vermittelt worden. (Vgl. Windzio et al. 2007: 5ff.)

Über die mediale Wirkung von Kriminalitätsmeldungen…

Durch die Omnipräsenz der Medien erreichen Meldungen über kriminelles Verhalten praktisch jeden, man kann sich dem kaum entziehen. Doch welche Auswirkungen hat das Aufnehmen solcher Berichte auf die Rezipient_innen? Und von welchen Variablen wird diese Interaktion beeinflusst? Zu dieser Frage gibt es bereits mehrere Studien, die jedoch bisher keine eindeutigen Ergebnisse liefern konnten (vgl. ebd.: 7f.). Die Medienwirkungsforschung steht hier vor der Problematik, dass Wirkungen auf Rezipient_innen stets nur bedingt erschlossen werden können und der Übergang von medialen Deutungen auf die Rezeption des Einzelnen eine Art „black box“ darstellt. Neuere Studien versuchen dem durch komplexe, multivariate Untersuchungsdesigns entgegenzukommen (beispielsweise Einbezug von verschiedenen Medienarten und deren Charakter beim Darstellen von Kriminalität sowie Beachtung von Variablen der Zuschauer_innen, Hörer_innen und Leser_innen wie Bildungsniveau oder Alter). Durch diese erhöhte Differenzierung können Sozialwissenschaftler_innen genauere Ergebnisse erzielen.

Im Folgenden soll nun ein Forschungsbericht des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen aus dem Jahr 2007 vorgestellt werden. Hierbei führten Michael Windzio et al. zwei Befragungen (2004 und 2006) zum Zusammenhang von Massenmedien und Kriminalitätsfurcht durch. Unter Letzterem wird nicht nur die Angst, selbst Opfer einer Straftat zu werden, verstanden, sondern auch die Bewertung des Umgangs mit Kriminalität in der Gesellschaft (vgl. Reuband 1998: 136). Für die Studie wurden in beiden Befragungszeiträumen ca. 2.000 Personen zu ihrer Einstellung bezüglich der Kriminalitätsentwicklung (zwischen 1993 und 2003 sowie zwischen 1995 und 2004) in Deutschland sowie zu ihren Meinungen über das Strafmaß interviewt. Dabei berücksichtigten die Wissenschaftler_innen, welche Medien die Teilnehmer_innen in welcher Weise und wie oft nutzen (vgl. Windzio et al.: 14ff.). Welche Erkenntnisse ergaben sich aus dieser Studie?

Für die bei der Studie ausgewählten Straftaten schätzte die Mehrheit der Befragten einen starken Anstieg ein, obwohl auch aus der PKS 2005 nur Zunahmen im Bereich des Betruges und der Körperverletzung verzeichnet wurden. Beispielsweise überschätzten die Teilnehmenden die Zahl aller Autodiebstähle um das Fünfeinhalbfache, die Zahl aller Tötungsdelikte um mehr als das Doppelte (vgl. Windzio et al. 2007: 20). Die Forschenden stellten darüber hinaus einen positiven Zusammenhang zwischen dem Überschätzen der Kriminalitätszunahme und einem Bedürfnis nach härteren Strafen fest. Weiterhin fand sich diesbezüglich auch ein Zusammenhang mit der Art und Dauer der Mediennutzung. So wirkt der regelmäßige Konsum privater Nachrichtensendungen positiv auf die Kriminalitätsfurcht, während die Nutzung seriöser Programme oder Zeitungen eine geringere Wirkung hat. Einschränkend muss aber beachtet werden, dass die Studie nur für zwei Zeitpunkte, also 2004 und 2006, Daten erhoben hat und für genauere Ergebnisse eine langfristigere Beobachtung nötig ist (vgl. ebd.: 65f.).

Was bleibt?

In der Kürze dieses Artikels konnte nur eine der durchgeführten Studien zum Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Kriminalitätsfurcht vorgestellt werden. Interessant wäre bei weiterer Betrachtung eine multivariate Langzeiterhebung. Dennoch konnten einige Argumente für die These gefunden werden,  dass Medien Einfluss auf die Einschätzung des Deliktverhaltens und somit auf die gesellschaftliche Kriminalitätsfurcht haben. Medialisierung als Aspekt des sozialen Wandels scheint demzufolge eine Suggestion steigender Delinquenz innerhalb der modernen Gesellschaft zu befördern. Hier wäre es vermutlich auch aufschlussreich, diesen Zusammenhang beispielsweise auf intervenierende oder auf Suppressorvariablen hin zu untersuchen. Beachten sollte man dabei ebenfalls die Unterschiedlichkeit der Medien. Wie beurteilen verschiedene Zeitungen, Radio- oder Fernsehsender den Nachrichtenwert bestimmter Ereignisse und welche Vermittlungsstrategien an die Rezipient_innen verwenden sie? Wie bereits skizziert wurde, weichen die Selektionskriterien ebenso wie die Darstellungsmethoden einzelner Informationsträger voneinander ab.

In jedem Fall benötigen wir eine differenzierte Betrachtung der Medialisierung sowie ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen, um ein realistisches Bild für diesen Aspekt des sozialen Wandels zu erhalten.

Literatur

Bundesministerium des Innern (Hrsg.) (2012): Polizeiliche Kriminalstatistik 2012. Paderborn: Bonifatius. Online verfügbar unter: http://www.bka.de/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/pks__node.html (21.06.2013).

Bundeskriminalamt (Hrsg.) (1999): Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 1998. Spangenberg: Werbedruck GmbH Horst Schreckhase. Online verfügbar unter: http://www.bka.de/nn_242508/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/AeltereAusgaben/aeltereAusgaben__node,gtp=242514__3D3.html?__nnn=true (21.06.2013).

Burkhardt, Nina (2009): Rückblende. NS-Prozesse und die mediale Repräsentation der Vergangenheit in Belgien und den Niederlanden. Münster.

Jung, Heike (2005): Kriminalsoziologie. Baden-Baden.

Reuband, Karl-Heinz (1998): Kriminalität in den Medien. Erscheinungsformen, Nutzungsstruktur und Auswirkungen auf die Kriminalitätsfurcht. In: Albrecht, Günter et al. (Hrsg.): Soziale Probleme. Zeitschrift für soziale Probleme und soziale Kontrolle. Jg. 9, Heft 2, S. 125-153. Online verfügbar unter: http://www.soziale-probleme.de/1998/01_20Reuband_20-_20Kriminalit_C3_A4t_20in_20den_20Medien_202-1998_1_.pdf (21.06.2013).

Windzio, Michael et al. (2007): Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität in der Bevölkerung – Welche Rolle spielen die Massenmedien? Ergebnisse der Befragungen zu Kriminalitätswahrnehmung und Strafeinstellungen 2004 und 2006. In: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (Hrsg.): Forschungsbericht Nr. 103, S. 1-70. Online verfügbar unter: http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb103.pdf (21.06.2013).


Autor: Soziologiemagazin

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