Obwohl ich ja einen Theorie-Blog mache und Professor für “Theorie moderner Gesellschaften” bin, stehe ich, wie manche wissen, immer auch mit einem Bein fest auf dem Boden der (sozialwissenschaftlichen) Empirie. Im Grunde ist auch das, was ich in der Theorie überlege, aus den fortwährenden Auseinandersetzungen mit zahlreichen empirischen Arbeiten entstanden. Damit die Theorie in diesem Blog nicht völlig überhandnimmt (und bevor ich noch einmal Theorie nachlege), möchte ich, sozusagen zur Abwechslung, ein paar Beobachtungen aus einem empirischen Projekt berichten, das mich selbst sehr begeistert hat und zu dem es auch eine hübsche filmische Darstellung gibt: Den Besuch von Papst Benedikt in Berlin.
In diesem Bericht nehme ich auf zwei englischsprachige Texte Bezug, in denen die Ergebnisse detailliert dargestellt sind (Knoblauch und Herbrik im Druck; Knoblauch im Druck). Hier möchte ich jedoch nicht deren Argumente übersetzten, sondern vielmehr einige Beobachtungen anführen, indem ich erzähle, wie dieses Projekt verlief.
Für meine im Blog behandelten Fragen ist dieses Projekt deswegen einschlägig, weil es zum einen das Thema des „Populären“ anspricht, das ich im letzten Blogbeitrag etwas abstrakt verhandelt habe. Zum anderen hat das Projekt mit einer Veränderung der Öffentlichkeit zu tun, die ich ebenso in einem früheren Blogbeitrag angesprochen habe. Eventisierung anspricht. Mit einigen anderen Kolleginnen und Kollegen denke ich, dass die Eventisierung eine der zentralen Veränderungen der Öffentlichkeit darstellt – und hier kann ich auch die Öffentlichkeit ohne Anführungszeichen verwenden. Die Eventisierung hängt nicht nur mit der wachsenden Rolle der „subjektiven Erfahrung“ zusammen (Knoblauch 2009), sondern auch mit dem, was Krotz und Hepp (2012) als „Mediatisierung“ bezeichnen. Das bedeutet nicht einfach, dass die Medien eine größere Rolle, sondern es bedeutet die Veränderung von Formen kommunikativen Handelns durch den Einbezug kommunikationstechnischer Elemente.
Die Mediatisierung ist denn auch Thema der genannten Aufsätze geworden – obwohl das anfänglich gar nicht beabsichtigt war. Denn die Idee, den Papst-Besuch zu einem Forschungsthema zu machen, kam im Rahmen eines Forschungsprojektes auf, das ich zusammen mit Regine Herbrik im Exzellenz-Cluster „Languages of Emotions“ (an der FU Berlin) durchführte. Dort nämlich beschäftigen wir uns (noch bis September, jetzt mit Mathias Blanc) mit der These der wachsenden Bedeutung der Emotion in der Religion, besonders in den neueren christlichen religiösen Bewegungen. Dazu hat vor allem Regine Herbrik mit der Unterstützung von Meike Hellmuth, Sezgin Sönmez und Alan Schink Feldforschungen in verschiedenen protestantischen Gemeinden durchgeführt.
Als sich abzeichnete, dass der Papst nach Berlin kommen würde, schien mir das ein so besonderer Anlass – der erste deutsche Papst in einer deutschen Hauptstadt –, dass ich ihn nicht einfach verstreichen lassen wollte. Ich erinnerte mich an die Studie einiger Kollegen über den Weltjugendtag in Köln (Forschungskonsortium WJT 2007), zu dem Benedikt ja auch angereist war. Allerdings wollte ich nicht noch einen Projektantrag schreiben und die mit dem Bewilligungsverfahren verbundene Zeit verlieren. So bot ich einigen Teilnehmerinnen eines Forschungsseminars an, dieses Thema zu nutzen, und meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Forschungsprojekt wie auch vom Fachgebiet waren vom Thema so begeistert, dass sie sich bereit erklärten, auch diesen Nebenweg zu begehen. Erfreulicherweise konnten wir auch die Leitung des Clusters und das Erzbistum Berlin für eine Kooperation gewinnen, so dass wir von beiden Institutionen nicht nur wunderbare Unterstützung erhielten, sondern auch ein kleiner Dokumentarfilm finanziert werden konnte. Man könnte diesen Film, den wir schon mehrfach vorgeführt haben (seine Uraufführung fand im Oktober 2012 an der Berliner Urania statt), durchaus als eine Form der „public sociology“ ansehen, von der in einem früheren Text die Rede war.
Während die Filmer Roman Pernack und Martin Zawadzki mitten im Olympiastadion, aber auch bei den Gegendemonstrationen am Potsdamer Platz, in Klöstern und auf dem Flughafen Tegel filmen konnten, strömten mehrere Jung-Forscherinnen im Olympiastadion aus, um das Event zu beobachten, aufzuzeichnen und zu erforschen. (Ich selbst habe mich einer Verkabelung durch die Kameraleute entzogen, weil ich die Messe „wie ein normaler Teilnehmer“ sozusagen aus der subjektiven Perspektive erleben wollte.) Neben Interviews, Beobachtungen und eigenen Erfahrungen (Sezgin Sönmez nutzte seine studentisches Praktikum, um an der Organisation der Veranstaltung im Erzbistum mitzuarbeiten und damit eine Art „Eventorganisationsethnographie“ zu betreiben – die seine BA-Arbeit werden sollte) nahmen wir dabei vor allem Videos auf, denn die „Videographie“ ist eine unserer bevorzugten Methoden. Das bedeutet, dass wir die Aufzeichnungen einzeln zuhause und dann gemeinsam in unserem Videolabor nach einem Verfahren analysieren, das wir selber auch mit entwickelt haben (Tuma, Schnettler, Knoblauch 2013).
Wie Regine Herbrik und ich an anderer Stelle berichten (Knoblauch/Herbrik im Druck), weist der emotionale Stil des Papstbesuches, besonders aber der Papstmesse im Olympiastadion, eine Besonderheit auf. Es gibt sozusagen zwei „emotionale Regimes“: Auf der einen Seite und am Rande bzw. außerhalb des Rahmens der Messe (die Benedikt bezeichnenderweise „Mysterium fidei“ nannte) sind jene „populären“ Ausdrucksformen aufgetreten, die wir spätestens seit Johannes Paul II. auch in der katholischen Kirche kennen. Jubel, Fahnen, La-Ola-Wellen zum Beispiel, wie sie auch bei anderen populären Events auftreten (Sportveranstaltungen, Konzerte populärer Musik bzw., wenn man auch die „Popularisierung des Klassik“ bedenkt, populäre Konzerte insgesamt). Das ist auch Formen der (durchaus auch sehr körperlichen und mit materialer Kultur umgehender) populären Kommunikation, wie ich sie der „populären Religion“ zuschreibe (Knoblauch 2009). Auf der anderen Seite aber finden wir den von Papst Benedikt bevorzugten Bereich der Messe, in dem, wie ein Stadionsprecher ausdrücklich verlangte, von Klatschen und anderen populären Begeisterungs-Bekundungen Abstand genommen werden sollte. Hier ist die Emotionalität sehr verhalten, ja sie beschränkt sich auf die hochkulturellen Ausdrucksformen (Kirchenlieder, u.a. von Saint-Saëns, Beten, Knien) – bis hin zum längeren Schweigen. Die beiden Stile drücken sich in kommunikativen Formen aus, doch ist das, was sie ausdrücken, eine unterschiedliche Art der Emotionalität: Neben der Emotionalität populärer Begeisterung (die unspezifisch für Religion ist) finden wir den Versuch, das Ritual der Messe selbst in einer Weise gestalten, die über die Besinnung hinaus als „Andacht“ gefasst werden kann. Bezeichnend dafür ist der „Moment der Stille“, wie er auch in anderen Messen vorkommt: Das Publikum wird angehalten zu schweigen und in sich zu gehen. Dieser Stil ist übrigens keineswegs zufällig, sondern bringt Papst Benedikts theologische Vorstellungen zum Ausdruck: Die „Weltfremdheit“, die sich vom gängigen Getriebe absetzt und in der Ausübung des Rituals (also hier der Messe) seinen besonderen Ort findet. (Diese Betonung des Rituals und ihre Bedeutung für den Glauben unterscheidet aber das Katholische auch allgemeiner vom Protestantischen, und so wundert es nicht, dass Papst Benedikt genau diesen Unterschied betont. In dieser Betonung unterscheidet er sich auch von seinem Vorgänger – und offenbar auch von seinem Nachfolger.)
Ohne hier auf weiter auf das Ritual eingehen zu können (wir haben die Videos auch zusammen mit einem Liturgieexperten der katholischen Kirche besprochen), sollte ich den zweiten großen Komplex an Beobachtungen erwähnen: Es ist die enorme Bedeutung der technischen Kommunikationsmedien. Dazu gehören natürlich die neuen Medien, also Handys, digitale Fotoapparate und Videokamera. Doch selbst das Fernsehen spielt eine veränderte Rolle. Man kann das schon am oben erwähnten Moment der Stille beobachten, wie sie vom „Weltbild“ (das vom RBB erstellt wurde und gleichzeitig auf die Leinwände im Olympiastadion projiziert und global ausgestrahlt wurde):
Zwar folgt das Publikum weitgehend dem Aufruf nach Schweigen, und die Moderatorin hebt die Besonderheit des langen Schweigens im Fernsehen hervor, doch die Kameras finden weder Besinnung noch Andacht. Welche Kamera immer auch zugeschaltet wird, die Gottesdienstbesucher lächeln und winken ihr zu; in kleinen Einstellungen einzelne, in Großeinstellungen ganze Sitzblöcke. So fliegt die Stadionkampera am Ende des Schweigens auf die Bühne, wo sie das Gesicht eines andächtig sitzenden Priesters fokussiert – der in diesem Moment sein Gesicht zu einem Grinsen verzieht, das die Kamera offenbar im Blick hat.
Diese „mediale Anteilnahme“ des Publikums ist keineswegs zufällig, hat sich doch die Rolle des Publikums deutlich geändert. In der Papstmesse von Johannes Paul II. in Wien (an der ich 1998 Videoaufzeichnungen gemacht hatte) dient das Publikum lediglich als eine Art Hintergrund diente, vor dem die „Virtuosi“ (Priester, Sänger, Chor, Musiker etc.) ihre Bühnenhandlung vollziehen. Auch die Fernsehkameras bleiben auf diese Bühne ausgerichtet (einen kurze distanten Schwenk auf das Publikum habe ich beobachtet – obwohl das Österreichische Fernsehen noch bei keinem Ereignis mehr Kameras eingesetzt hatte). In Papst Benedikts Berliner Messe bildet das Publikum dagegen einen zweiten Mittelpunkt. Allenthalben tauchen die Kameras ins Publikum ein, das nun selbst offenbar zu einer Art „Hauptakteur“ geworden ist. Dieser Hauptakteur ist nun allerdings selber „medial“ aufgerüstet: Hatten wir 1998 noch einige wenige Fotoapparate beobachtet, so scheint 15 Jahre später jede zweite Person zu ihrer eigenen Medienberichterstatterin geworden zu sein: Es wird fotografiert, was das Zeug hält. Das mag zwar uns, die wir mittlerweile alle zu abgehärteten Medienprofis geworden sind, nicht mehr allzu sehr zu überraschen, doch sollte man die Veränderungen nicht aus den Augen verlieren: Wo einst die Gläubigen noch ein Kreuz machten, wenn der Heiligen Vater an ihnen vorbeiging oder -fuhr (was durchaus auch beim Einzug etwa eines Bischofs in die Kirche heute noch gängig ist), zücken heute selbst die „Experten des Religiösen“ das Handy, den Fotoapparat oder das Ipod. (Im Film sieht man dafür ein Beispiel von zwei Ordensfrauen, von denen eine den Papst fotografiert; noch während er vor ihnen vorbeifährt, betrachtet sie beide begeistert das Bild auf dem Monitor.)
Diese Beobachtung darf keineswegs als Kritik verstanden werden, denn wir machen es heute vermutlich alle so. Es soll aber deutlich machen, dass sich etwa Rituale der Frömmigkeit (die ja in der katholischen Kirche so bedeutsam sind) bis ins Detail hinein verändern. (Die dramatischen Veränderungen von Marienerscheinungen durch Mediatisierung habe ich in meiner Populären Religion: 131-148 behandelt). Ein französischer Kollege, Mathias Blanc, der mit uns kooperiert, hat deswegen einige Pilger, die er zur Papstmesse Benedikts in Freiburg begleitet hatte, zuhause besucht und untersucht derzeit, ob und wie wir neue Formen der Frömmigkeit im Umgang mit diesen Bildaufzeichnungen finden können (Blanc 2013).
Exemplarisch kann man daran deutlich machen, was wir unter Mediatisierung verstehen. Genau dies ist auch der Gegenstand meines englischen Aufsatzes, der dies weiter erläutert. Hier sollte diese Mediatisierung lediglich illustriert werden; ebenso konnte ich nur andeuten, wie man das neue „Populäre“ fassen kann. Etwas genauer kann man das sehen, wenn man sich etwas Zeit für den Film nimmt (der dauert 30 Minuten). Er zeigt nicht nur ein paar Einblicke in unsere Arbeit (aus einer sehr frühen und für die Filmaufzeichnungen etwas improvisierten Phase unserer Analysen); er enthält auch schöne Bilder, die wir dem Können der beiden Filmemacher verdanken. Und schließlich handelt es sich auch um ein besonderes Ereignis, das sich so bald nicht mehr wiederholen wird.
Film: „Mysterium Fidei – Religion zwischen Andacht und Unterhaltung Papst Benedikt XVI. zu Besuch in Berlin“ (2012).
Von Roman Pernack und Martin Zawadzki.
[erste 3 sek schwarz, Falls es Probleme mit dem Abspielen gibt ist das Video auch hier zu finden]
Literatur
Blanc, Mathias (2013): Images de foi, images de soi. Sociologie visuelle d’un rassemblement pontifical. In: Revue des Sciences Sociales, No. 49. S. 50-55
Forschungskonsortium WJT (2007): Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis – Medien – Organisation (Wiesbaden: VS).
Knoblauch, H. (2009) Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft (Frankfurt a. M.: Campus).
Knoblauch, Hubert (im Druck), Benedict in Berlin. The mediatization of religion, in: A. Hepp, F. Krotz (Hg.), Mediatized Worlds. London: Routledge
Knoblauch, Hubert und Regine Herbrik (im Druck), Emotional Knowledge, Emotional Styles and Knowledge, in: Mikko Salmela (Hg.), Collective Emotions. Oxford University Press.
Krotz, Friedrich und Andreas Hepp (Hrsg.) (2012): Mediatisierte Welten. Forschungsfelder und Beschreibungsansätze. Wiesbaden.
Tuma, Rene, Bernt Schnettler, Hubert Knoblauch: Videographie. Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Wiesbaden: VS.