Von Joachim Fischer und Clemens Albrecht
Wird man eigentlich durch Soziologie sozial klüger? Wer Jura studiert, lernt nicht nur, das Recht richtig, sondern auch klug anzuwenden. Deshalb heißt es „Jurisprudenz“. Auch wer Medizin studiert, wird gerne gefragt, was man bei dieser oder jener Krankheit tun könne. Und Anglisten werden bei Englisch-Hausaufgaben zu Rate gezogen. Warum eigentlich nicht Soziologen, wenn es Schwierigkeiten in der WG gibt? Oder im Sportverein zwei unterschiedliche Fraktionen streiten? Wenn es eine interkulturelle Hochzeit, eine internationale Konferenz auszurichten gilt? Vielleicht hat das Fach hier eine bislang unterschätzte Aufgabe.
Zum Abschluss meiner Blog-Zeit soll diese Aufgabe zur Diskussion gestellt werden: Soziologie als Sozioprudenz. Die Grundidee ist, Soziologie-Studierenden eine akademische Schulung „sozialer Intelligenz“ zu ermöglichen und dafür gezielt die Ressourcen der Soziologie einzusetzen. Damit könnten sie sich einerseits noch stärker mit ihrem Fach identifizieren; anderseits würde die Soziologie ihr Angebot in vielen anderen Fächerkombinationen stärken – ohne an der bisherigen Fachgestalt etwas zu ändern oder ihre akademische Professionalität zu mindern.
Joachim Fischer (Dresden) hat vier Argumente für ein solches Konzept entwickelt:
a) Die frühneuzeitlichen Weltklugheitslehren (Prudentismus) sind eine der vorsoziologischen Wurzeln des Faches Soziologie – neben der Sozialstatistik, neben der ethnografischen Beschreibung bzw. Reportage, neben der Sozialkritik. Zu dieser Quelle des Faches gehören die klassischen Texte von Castiglione (Hofmann), Machiavelli (Der Fürst), Gracian (Weltklugheit) und La Rochefoucauld (Maxime und Reflexionen), die alle eine Raffinierung der sozialen Intelligenz in der europäischen „Oberschichtenkommunikation“ (Luhmann) reflektieren und initiieren. Der Ursprung der Verhaltenslehren in den komplexen Herausforderungen der höfisch-urbanen Gesellschaft ist zwar bekannt (Elias), aber für die Soziologie selbst noch nicht als Konsequenz erkannt worden. Der „Prozess der Zivilisation“ als Steigerung sozialer Intelligenz setzt sich fort in der französischen Moralistik und Geselligkeitskultur (Albrecht) und ist über protosoziologische Reflexionen über den differenzierten „Umgang mit Menschen“ (Knigge) bis in die Mittelschichten der bürgerlichen Gesellschaft eingedrungen.
b) Die soziologischen Klassiker der ersten und zweiten Generation sind gesättigt mit dieser reichen Denktradition des prudentistischen Umganges mit fremden Menschen in verschiedenen sozialen Kontexten und Kulturen – und lassen sich so noch einmal neu gruppieren und lesen: Simmels „Soziologie der Geselligkeit“ und Formenlehre der Wechselwirkungen, Plessners Soziologie von „Takt und Diplomatie“ als Formen sozialer Distanz, Mauss’ ethnologische Soziologie der Reziprozitätsregeln des Gabentausches, Goffmans Interaktionsregeln; für Luhmanns Systemtheorie funktionaler Differenzierung war Gracian ein Pionier, insofern dieser die Verhaltenslehre kühler Verhaltenheit in unterschiedlichen Kontexten entwickelt hatte.
c) Eine Akzentuierung der Soziologie als Sozioprudenz im gezielten Rückgriff auf diese prudentistische Denktradition stärkt die Fachidentität der Soziologie – in der studentischen und öffentlichen Wahrnehmung. Für die Studenten könnte attraktiv sein, dass für sie durch die Soziologie neben dem Erwerb gesellschaftsanalytischer, methodischer und kritischer Kompetenzen auch eine akademische Hochschulung sozialer Intelligenz erreichbar wäre – so wie die naturwissenschaftlich-technischen Fächer immer auch eine Hochschulung sachlicher Intelligenz versprechen, die Psychologie eine Hochschulung intrapersonaler Intelligenz.
d) Eine solche Neuakzentuierung der Soziologie würde zur gegenwartsdiagnostischen Akzentverschiebung passen, die von der Soziologie selbst vorgetragenen wird: Der Wandel von einer modernen Industriegesellschaft zur Dienstleistungs- und Mediengesellschaft. Wenn es sich hierbei um eine langfristige Umstellung auf die Dominanz von Sozialmedien, Diplomatie, Service und Interkulturalität handelt, die sich auch in der Verschiebung der soziologischen Grundbegriffe von der „Produktion“ (Marx) zu „Kommunikation“ (Habermas, Luhmann) zeigt, dann könnten diese Gesellschaften in sozialer Intelligenz hochgeschulte Experten brauchen, die das komplexe Spektrum zwischen Konversation und Subversion kennen und handhaben.
Clemens Albrecht hat sich Gedanken über die modulare Umsetzung eines solchen Konzepts im Rahmen eines Zweifach-Bachelor-Studiengangs an der Universität Koblenz-Landau gemacht, in dem ein „Wahlfach Sozioprudenz“ angeboten wird. Dabei werden zwei theoretische mit zwei praxisorientierten Veranstaltungen verknüpft.
a) Theorieveranstaltungen: Auf der Basis soziologischer Grundbegriffe werden die Weltklugheitslehren als protosoziologische Texte gelesen, die für die Analyse und Handhabung von mikro- und makrosozialen Konstellationen fruchtbar sind. Dabei werden diese Texte zugleich wissenssoziologisch im historischen Kontext ihrer Genese (Elias: „Prozess der Zivilisation“; Luhmann: „Oberschichtenkommunikation“) reflektiert. Weiterhin werden Klassikertexte (Plessner, Simmel, Elias, Mauss, Goffman, Luhmann u.a.) im Lichte der Verhaltenslehren interpretiert. Die Soziologiestudenten werden dazu angeleitet, soziologische Texte während ihres Studiums nicht nur in analytischer Hinsicht, sondern auch in praktischer Hinsicht im Sinne einer Könnenssteigerung auszuwerten.
b) Praktische Veranstaltungen: Auf Grundlage dieser Kenntnisse wird ein Spektrum verschiedenster Sozialformen (Geselligkeit, Umgangsformen intra- und interkultureller Art, Takt, Diplomatie, strategisches Handeln, Intrige, Stellvertreterhandeln für Organisationen, Mediation, Verhandlungen) in den jeweiligen Voraussetzungen und Realisierungsbedingungen analysiert und anschließend in praktischen Übungen des Sozialexperimentes erprobt (offenes und verdecktes Rollenspiel). Entscheidend ist, neben mikrosozialen Konstellationen (Teamarbeit, Bewerbungssituationen, berufliche und berufsfremde Geselligkeit, Umgang mit Statusdifferenzen, mit Interessen- und Ideendifferenzen) auch den Blick für Makrosoziales zu öffnen (über repräsentatives oder stellvertretendes strategisches Handeln; hier gibt es bereits Vorbilder in der politologischen Simulation von internationalen Konferenzen etc.). Die Ergebnisse und Erfahrungen werden in Protokollen dokumentiert und in der Gruppe diskutiert. Gegenstand der mündlichen Prüfung ist, inwieweit die Studierenden eine theoretische Analyse komplexer sozialer Situationen mit ihrer Handhabung verknüpfen können.
Soziologische Studiengänge, die Module zur „Sozioprudenz“ implementieren, beenden auch die universitäre Absurdität, dass Soziologiestudierenden sogenannte Schlüsselkompetenzen (erfolgreiche Kommunikation und Präsentation, Verhandlungen, Mediationen etc.) von anderen Fächern in oft trivialisierter, aufs Sozialtechnologische reduzierten Form zugemutet werden – umgekehrt wird ein Schuh daraus. Psychologie, Pädagogik und Ökonomie haben mit „Praxisanwendungen“ keinerlei Berührungsängste. Es ist nicht länger einzusehen, warum die Soziologie diese wichtige Herausforderung hochgeschulter sozialer Intelligenz anderen Disziplinen überlassen sollte. Die europäische Soziologie verfügt über eine eigene starke sozioprudentistische Denktradition – ein Pfund, mit dem sie als hochreflexives Fach wuchern und das sie den jungen akademischen Generationen nicht vorenthalten sollte.
Lieber Clemens Albrecht und lieber Joachim Fischer,
Prudentia potentia! Vielen Dank für diesen letzten Beitrag, der mir aus der Seele spricht. Letztlich geht es um so etwas wie die Professionalisierung der Soziologie, also um die Frage der Differenz zwischen soziologischem Erkenntnisgewinn und soziologischem Klientenkontakt – wer immer das sei, Einzelpersonen, Organisationen, mediale Öffentlichkeiten etc. Die Disziplinen mit Klientenkontakt werden früh habituell damit konfrontiert, dass sie eine gewisse Asymmetrie zwischen sich und ihren Schutzbefohlenen zu inszenieren in der Lage sind – nicht umsonst stammen Ihre Eingangsbeispiele aus dem medizinischen, dem juristischen und dem pädagogischen Bereich. Ein guter Mediziner ist ein Experte fürs Biomedizinische, aber noch kein guter Arzt. Solche Positionen leben von Asymmetrisierungen, die auch dazu dienen, Klienten sprechfähig zu machen – und sie stehen zugleich in der Gefahr der paternalistischen Verhinderung dessen. Die Prudentia ist eine der vier Kardinaltugenden. Iustitia wird man uns nicht absprechen, und temperantia haben wir manchmal zu viel (die fehlt den klassischen Professionen bisweilen eher), aber an fortitudo mangelt es noch – Tapferkeit in dem Sinne, mit unseren Erkenntnisse auch etwas zu machen. Ich glaube, wir könnten mit soziologischen Mitteln so etwas wie eine post-paternalistische Form der Beratung, der Unterweisung, der Belehrung, der Mediation, der Offenlegung von Prozessen und des intelligenten Einsatzes von Asymmetrien ins Werk setzen. Aber das muss man ausprobieren und manchmal aus der Studierstube rausgehen und das mit Leuten versuchen, die dafür, so meine Erfahrung, sehr empfänglich sind. Dafür braucht es andere Sprechformen, andere Habitus, bisweilen auch eine Haltung des Respekts nicht-akademischen Praxisformen gegenüber. Das ist das ganze Programm der Fächer mit Klientenkontakt, die sich eben bisweilen Habitus zulegen müssen, die dann von uns nur als unpassend, weil elitär gebrandmarkt werden. Wenn man deren funktionale Bedeutung besser erklärt (soziologisch!), dann kann es vielleicht gelingen, für genau diese Funktion weniger paternalistische und asymmetrische Äquivalente zu entwickeln – im Sinne etwa einer besonderen kommunikativen Kompetenz oder einer Kompetenz, Perspektivendifferenz auszuhalten etc. Die fortitudo, die wir dafür brauchen, ist vielleicht auch, nicht nur elitenkritisch zu sein, sondern anzuerkennen, dass wir solche asymmetrischen elitenförmigen Positionen besetzen könnten (es aber eben auch wollen müssten). Und wer, wenn nicht wir, die Soziologie, könnte dafür Formen entwickeln, die sich nicht im Paternalismus der alten Formen von Klientenkontakt einrichten?
Zu dieser fortitudo, bei Cicero heißt sie glaube ich auch magnitudo animi, gehört es vielleicht, unsere Kompetenzen offensiver anzubieten und uns nicht nur als die Anwälte fürs moralisch Bessere und entlarvend Besserwissende, sondern auch fürs operativ Klügere verstehen zu wollen. Ihr Ansatz einer „Sozioprudenz“ ist dafür eine schöne Anregung.
Vielen Dank dafür
Armin Nassehi
sehr interessanter Text!
Gibt es bereits empirisch-soziologische Studien, die zeigen, dass die „soziale Intelligenz“ in Universitäten, insbesondere an soziologischen Instituten größer und überzeugender ausgebildet ist als anderswo?
Also: wenn sich das empirisch-soziologisch zeigen würde, müssten man diesen Vorschlag sehr ernst nehmen.
Nein, ich kenne keine empirischen Studien. Man müsste hier auch sehr vorsichtig mit der Operationalisierung umgehen, Sozioprudenz zu messen ist nicht einfach. Ich verspreche mir plausible Ergebnisse erst von der Absolventenbefragung der ersten Kohorte, die zur Zeit das Wahlfach hier in Koblenz studiert.
innovativer Ansatz, erinnert dennoch ein wenig an die Sozialtechnologie-Debatte. Gibt es jetzt Chancen für die Sozialingenieure…? Im Technologiezeitalter mit einem Schuss ANT vielleicht…
Sozioprudenz ist eben nicht Sozialtechnologie. Die arbeitet mit klaren wenn-dann-Relationen, Sozioprudenz dagegen mit einem interaktionistischen Konzept der doppelten Kontingenz, das zur Wachheit und steten Reaktionsfähigkeit erzieht. Das ist, als ob die Schraube in der Konfrontation mit dem Schraubenzieher permanent ihre Form wandeln würde. Dazu braucht es keine ANT, die strukturelle Unbestimmtheit der pädagogischen Situation reicht.
Sehr geehrter Herr Prof. Albrecht,
schön klingendes Angebot für praxisorientierte Studenten:
„…,Sozioprudenz dagegen mit einem interaktionistischen Konzept der doppelten Kontingenz, das zur Wachheit und steten Reaktionsfähigkeit erzieht. Das ist, als ob die Schraube in der Konfrontation mit dem Schraubenzieher permanent ihre Form wandeln würde. Dazu braucht es keine ANT, die strukturelle Unbestimmtheit der pädagogischen Situation reicht.“
Als Gestalttherapeut und Soziologe arbeite ich schon länger mit einem selbständigen Konzept von dem, was sie kreativ als „Sozioprudenz“ anbieten.
In meiner Arbeit und jeder psychosozialen Arbeit spielt das Unbewusste als Grundlage menschlichen Verhaltens und Handelns eine entscheidende Rolle.
Welche SOZIOLOGISCHE Konzeption des Unbewussten vermitteln Sie ihren Studenten im Rahmen Ihrer interaktionistischen „Systemtheorie“?
Wie verhält sich Ihr Konzept der „Sozioprudenz“ zu systemischen Beratungsansätzen
HG
Gerhard Schwartz
Oder
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie.
Und Grün des Lebens goldner Baum.“
So steht es in Goethes Faust, jedoch nur selten in den schweren Theoriebüchern, die das Soziologiestudium prägen.
Ich bin ein Student von Herrn Albrecht und belege das Wahlpflichtfach Sozioprudenz. Zuvor habe ich an der LMU unter anderem bei Herrn Nassehi studiert. Mich freut es wirklich sehr, dass die anwendungsbezogene Facette der Soziologie nun eventuell ein wenig mehr in das Bewusstsein der deutschen Soziologie gerät.
Sowohl Herr Albrecht, wie auch Herr Nassehi, verstehen sich darauf die Disziplin lebendig werden zu lassen. Manchmal muss man dann in der Manier eines Frankensteins totgeglaubte Theorien zum Leben erwecken, aber das macht es erst richtig spannend. Wenn man als Student in der Vorlesung die eigene Rolle in der aktuellen Situation versteht und man plötzlich in verschiedenen Verhaltensweisen seiner Kommilitonen soziologische Theorien wiederentdeckt, rückt die Frage nach dem monetären Zweck des Studiums in den Hintergrund.
Eine wesentliche Eigenschaft der Soziologie als Fach, aber auch der Soziologen als Menschen, besteht in ihrem ungemeinen Reflexionsgrad. Als Student der Sozioprudenz wird dieses Bewusstsein sehr deutlich. Im alltäglichen Leben kann das dann schon recht weitführen. Da werden dann der Starbucksbesuch zur Grenzüberschreitung der Gemeinschaft, das Unverständnis der Freundin zur wechselseitigen Intransparenz in der operationalen Geschlossenheit der Kommunikation und das Verständnis meinerseits gegenüber meiner Freundin zur bloßen Konsensfiktion als Möglichkeit zur Deeskalation.
Der Weg der Sozioprudenz ist bereits das Ziel. Nicht nur dass die Individuation im Sinne Jungs vorangetrieben wird und die Selbstreflexion in signifikantem Maße gesteigert wird, sondern man sich insbesondere zu einem erkenntnisgeleiteten, sozial intelligenten und in diesem Sinne mündigen Bürger entwickelt, macht das Fach plötzlich im Bewusstsein der Studenten zum Zweck und Wert in sich selbst.
In Koblenz wächst derzeit, um auf das Anfangszitat zurückzukommen, eben ein solcher goldener Baum. Die Früchte sind teilweise noch grün und warten nur auf jene geistreiche Belichtung, um zur Reife zu kommen. Besonders süß sind allerdings nur die Früchte in der Krone. Deshalb freue ich mich auf mein weiteres Studium der Sozioprudenz in Koblenz.
Liebe Grüße,
Tim Huyeng
Lieber Herr Albrecht, lieber Herr Fischer,
zunächst einmal vielen Dank für den interessanten Blog-Beitrag zur „Sozioprudenz“, zu dem ich gerne noch zwei Anmerkungen tätigen möchte, die bisher in dem Beitrag – jedenfalls meiner Meinung nach – zu kurz gekommen sind.
1) Man darf bei allen Möglichkeiten (gerade im Sinne von Potentialen), die einem die Soziologie – verstanden als „Sozioprudenz“ – zu bieten vermag, nicht übersehen, dass das soziologische Wissen auch ‚gefährlich’ sein kann. Was damit gemeint ist, soll an einem Beispiel veranschaulicht werden. Im Sinne des Thomas-Theorems („If men define situations as real, they are real in their consequences.” (Thomas/Thomas)) könnte man nun den Studierenden der Soziologie (oder einer an Soziologie interessierten Öffentlichkeit) erläutern, dass es in der alltäglichen Interaktion und Kommunikation u. a. auf die jeweilige ‚Definition der Situation’ ankommt und man somit ‚nur’ eine (für einen selbst) geeignete Definition vornehmen muss, um ein bestimmtes Ziel zu erlangen. So könnte z. B. der Kapitän einer Fußballmannschaft zur Halbzeit sagen: „Wir liegen zwar im Moment 0:2 hinten, aber noch ist das Spiel nicht verloren und wir werden dieses auch noch gewinnen, wenn wir gleich aggressiver in die Zweikämpfe gehen.“ Woraufhin das Team für sich realisiert, dass noch alles offen und möglich ist und am Ende tatsächlich – nicht zuletzt aufgrund der Einschätzung des Kapitäns – gewinnt, obwohl es vielleicht sogar als Außenseiterteam im Vorfeld gehandelt worden ist.
Man kann dieses Wissen über die Situationsdefinition aber ebenso einsetzen, um anderen Menschen gezielt zu schaden. In diesem Zusammenhang sei auf einen anderen Blog verwiesen, in dem dies bereits in ähnlicher Weise thematisiert worden ist (vgl. http://criminologia.de/2008/03/thomas-theorem-20/). Es handelt sich dabei um das Beispiel zweier ‚Langfinger’, die einen zuvor getätigten Diebstahl dadurch vertuschen wollten, indem sie im Nachgang an diese kriminelle Tat im Internet eine gefälschte Anzeige schalteten, in der es hieß, man könne den Hausrat des besagten Objektes geschenkt abholen, da der Mieter umziehen wolle. Die beiden Einbrecher definierten also die Situation in ihrem Sinne (‚Hausrat ist zu verschenken’), was zur Folge hatte, dass nicht nur tatsächlich Menschen kamen und das Mobiliar des Betroffenen einluden und fortfuhren, sondern eben auch dazu führte, dass jemand dadurch konkret geschädigt worden ist. Nun kann man natürlich sagen, dass die beiden Gauner keine Soziologen gewesen seien und Ihnen das Thomas-Theorem als solches vielleicht gar nicht bekannt war (was übrigens auch auf den Kapitän der Fußballmannschaft mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zutrifft), aber egal, ob dieses soziologische Wissen gezielt vermittelt wird oder intuitiv (wie dies ja oft der Fall ist) bereits vorhanden ist und angewendet wird, es ist und bleibt ein gefährliches Wissen, mit dem man entsprechend verantwortungsbewusst – und wie Sie ja schreiben – „klug“ umgehen sollte.
(Es ließen sich in der soziologischen Theorie übrigens weitere Beispiele finden, an denen man aufzeigen könnte, dass das Wissen auch ‚gefährlich’ sein kann – gerade dann, wenn man nicht über dieses verfügt oder dieses in ‚falsche Hände’ gelangt.)
2) Zuallererst sollte die „Sozioprudenz“ auch dafür verwendet werden, dass Soziologinnen und Soziologen über die Art und Weise aufklären, wie sie eigentlich Soziologie vermitteln. Also diese nicht nur theoretisch (und/oder eben an Beispielen praktisch veranschaulicht) zu lehren und aufzuzeigen, wie man soziologisch geschult handeln kann oder was dies bedeuten könnte, sondern diese – selbstreflexiv – an der eigenen Person des Lehrenden stets zu demonstrieren und in der Lehre vorzuleben. Es wäre demnach also verfehlt, wenn man den Studierenden z. B. etwas über soziale Ungleichheit vermittelt (und diese vielleicht sogar noch kritisiert) und dann in der Praxis (also in der Lehre und als Lehrender selbst) bevorzugt Studenten statt Studentinnen in der Seminardiskussion zu Wort kommen lässt. Insofern hat Armin Nassehi schon recht, wenn er schreibt: „Ein guter Mediziner ist ein Experte fürs Biomedizinische, aber noch kein guter Arzt.“ Ein Soziologe mag demnach auch ein Experte für ‚das Soziale’ (oder ‚die Gesellschaft’ (was immer dies genau ist)) sein, aber deswegen muss er noch lange kein geeigneter Vermittler von ‚soziologischer Klugheit’ sein oder gar ein guter ‚Soziologielehrer’. (Weber macht dies ja bereits in seinem Aufsatz zur „Wissenschaft als Beruf“ deutlich, indem er konstatiert, dass ein guter Forscher noch lange kein guter Lehrer sei – und vice versa.) Vor diesem Hintergrund sollte also darüber nachgedacht werden, die „Sozioprudenz“, im oben vorgestellten Sinne, nicht nur den Studierenden näher zu bringen (in der Hoffnung, dass diese künftig mit dem entsprechenden Wissen vielleicht einmal gute Lehrende werden), sondern dieses mindestens ebenso gezielt an Dozierende der Soziologie (z. B. in einer entsprechenden ‚Handreichung’ für ‚gute’, kluge Soziologielehre) weiterzugeben.
Auch von meiner Seite her also nochmals vielen Dank an Sie beide für die hier angestoßene interessante Debatte im SozBlog!
Daniel Grummt.
Erneut vielen herzlichen Dank für eine interessante Anregung!
Ich stehe der „Sozioprudenz“ mit leicht gemischten Gefühlen gegenüber.
Für mich liegt ein großer Teil des „Zaubers“ der Soziologie in eben jenem besseren Verständnis unserer sozialen Welt und den kleinen, verborgenen sozialen Regeln, die so viel unseres Alltagsverhältnis zu steuern scheinen. In diesem Sinne halte ich Soziologie und die Ableitung einer „Sozioprudenz“, die diesen Zweck explizit verfolgt, für eine sehr spannende und die Studierenden potentiell persönlich bereichernde Lehridee.
Dennoch habe ich gewisse Vorbehalte. Ich denke, es ist kein Zufall, dass Sie für das neue Fach gerade jene Wurzeln der Soziologie heranziehen, in denen Soziologie noch mit Anthropologie und Lebensphilosophie verbunden war. Mittlerweile ist das Fach in dieser Hinsicht nicht mehr besonders reichhaltig, was ich als Effekt von Spezialisierung deuten würde. Die Soziologie hat sich vom Menschen eher ab- und der Erklärung sozialer Stabilität oder Ordnung eher zugewandt. Damit hat sich auch der Aspekt, unter dem soziales Leben analysiert wird, in eine Richtung verschoben, die es schwer macht, so etwas wie „die menschliche Existenz“ darin zu verorten (die trifft man dann eher in der Anthropologie, Existenz- und Sozialphilosophie, allerdings häufig abgeschnitten von soziologischen Themen). Wenn man nun eine Art soziologische Lebens- und Sozialberatung auf Basis etablierten Fachwissens anstrebt, besteht meiner Ansicht nach die Gefahr, eben jene Aspekte aus dem (in dieser Hinsicht viel reicheren) Alltagsleben herauszuschneiden, die die Soziologie nicht mehr besonders interessieren. Wenn ein Bourdieuschüler Ratschläge zur Liebes- oder Freunschaftsökonomie gibt, hält die Praxis dies vielleicht schwer aus. Ich bin mir auch nicht so sicher, ob die wechselseitige Versicherung einer Situation doppelter Kontingenz die richtige Therapie für die Mehrzahl der Paarbeziehungen ist.
Vor meinem geistigen Auge zieht eine kleine Armee von mit Theorievokabular bewaffneten Soziologen ins Land, um die Alltagswelt mit Begriffen zu überschwemmen, die aus der Perspektive des soziologischen „Beobachters“ stammen und daher automatisch einen gewissen Entfremdungseffekt mit sich führen. So klar und einleuchtend Sie sich gegen den Vorwurf der Sozialtechnologie wehren, so wahrscheinlich scheint mir doch eine Art „technischer Blick“ auf soziale Praxen, wenn Theorien, die um Aufbau und Reduktion von Komplexität oder die Ökonomie der Macht kreisen, auf das Alltagsleben angewandt werden. Um den Goethe aufzugreifen: „Heinrich, mir graut’s vor dir“!
Dennoch, die Idee ist interessant und anregend. Vielleicht lässt sich das Problem umgehen, wenn man die mittlerweile eher marginalisierte humanistische Idee von Soziologie (im Sinne von Bergers Einladung zur Soziologie) weiter verfolgt.
Als Studienberater an einer Technischen Universität sehe ich es durchaus als einen Nachteil von geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen an, dass dort der praktische Nutzen und die handwerkliche Anwendung zumeist nicht so unmittelbar einsichtig ist wie die Anwendbarkeit ingenieurwissenschaftlicher Kenntnisse. Das wird so bleiben, gleichwohl sollte man auch von weniger anwendungsbezogenen Studiengängen die Vermittlung bestimmter allgemeiner Fähigkeiten erwarten können, deren Nutzen offenkundig ist – z.B. dass sich ein Absolvent eines geisteswissenschaftlichen Studiums normalerweise in Wort und Schrift etwas gewandter auszudrücken vermag als ein durchschnittlicher Ingenieurstudent. In diesem Sinne wäre es nicht schlecht, wenn ein Absolvent oder eine Absolventin eines Soziologie-Studiums in seiner/ihrer Umgebung mit der begründeten Erwartung rechnen könnte, dass er oder sie soziale Situationen und Konstellationen überdurschnittlich gut einschätzen und sich in ihnen angemessen verhalten kann.
Die sogenannten soft skills haben im gesamten beruflichen Leben bekanntlich eine große Bedeutung gewonnen, und man sollte dergleichen von Soziologen in überdurchschnittlichem Maße erwarten können – z.B. hinsichtlich der so genannten „Teamfähigkeit“ als einer Fähigkeit, arbeitsteilig mit anderen Leuten an einem Projekt gedeihlich zusammenwirken zu können. Bekanntlich sind manche Leute dazu wenig oder gar nicht fähig oder willens. Ein soziologisch aufgeklärter Mensch sollte das eigene Verhalten und das Verhalten anderer in dieser Hinsicht zumindest in erhöhtem Maße reflektieren oder auch nur beobachten können. Wie behindern sich beispielsweise Teams in ihrer Arbeit, wenn die Leitungsfrage nicht zumindest temporär geklärt ist! Und wie irritierend ist die Beobachtung, dass manche Leute ihren „Charakter“ ändern, sobald sie sich in einer größerern Gruppe bewegen und glauben, dort eine bestimmtes Bild von sich erzeugen zu müssen. Oder man kommt in eine Situation mit mehreren Menschen, man will etwas Bestimmtes erreichen, und unbewusst hat man die Anwesenden schon längst danach sortiert, ob sie hier etwas „zu sagen“ haben oder eher nicht. Ohne es zu wollen, hat man sie auch schon unterschiedlich behandelt. Wo man hinschaut im Alltags- und Berufsleben sind sozialpsychologische Aspekte von ganz überragender Bedeutung für das Verständnis von menschlichem Verhalten.
Nun trägt dem Orientierungssbedarf in dieser Hinsicht schon längst eine nicht mehr überschaubare Ratgeberliteratur Rechnung (speziell auch zu Bewerbungsfragen, zum Verhalten am Arbeitsplatz etc. etc.) – ganz abgesehen von den vielen, insbesondere „systemischen“ Fortbildungen zum Coaching, zur Mediation, zur interkulturellen Kommunikation etc. – von der Literatur speziell für Frauen in diesem Zusammenhang ganz zu schweigen. Es könnte durchaus sinnvoll sein, sich erst einmal gewissermaßen induktiv an diese Art von Literatur zu halten, um die dort vorgebrachten Verhaltensregeln und impliziten oder expliziten Theorien zu untersuchen und diese erst anschließend in Beziehung zu umfassenderen Theorien zu stellen. Dergleichen würde den Studierenden der Soziologie doch gleich in mehrerer Hinsicht nützen – vor allem auch die Kritikfähigkeit stärken gegenüber allerlei simplifizierenden „Kochrezepten“, die auf diesem unüberschaubaren Feld reichlich angeboten werden.
Christoph Müller