Was ist normal? Was ist prekär? Überlegungen zur Ambivalenz eines zeitdiagnostischen Konzepts

In diesem Blog-Eintrag soll die soziologische Prekarisierungsdebatte im Zentrum stehen. Wir möchten sie auf ihre Auslassungen abklopfen und ein weit gefasstes Konzept von Prekarisierung vorschlagen. Aber alles der Reihe nach. Gehen wir also wieder ein paar Schritte zurück. Was heißt überhaupt Prekarisierung?

Wenn man den Duden aufschlägt, findet man folgende Definition: Prekär bedeutet mit »durch Bitten erlangt; widerruflich« sowie »misslich, schwierig, heikel«. Zudem findet sich ein Hinweis auf das römische Recht: Das Prekarium umfasst eine auf »Bitte hin erfolgende Einräumung eines Rechts, das keinen Rechtsanspruch begründet«.

Blättert man Zeitungen durch, begegnet einem der Prekarisierungsbegriff häufig im Kontext von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. So wird über Leiharbeiter berichtet, die sich als Angestellte zweiter Klasse fühlen. Oder es werden Berichte von Unternehmen bekannt, die einen Teil der Stammbelegschaft entlassen, um sie dann wieder in einer eigens gegründeten Zeitarbeitsfirma zu deutlich niedrigeren Löhnen einzustellen. Prekär findet sich hier somit oft in einer begrifflichen Nähe zu skandalös.

In der Soziologie gilt der kürzlich verstorbene französische Soziologie Robert Castel als Impulsgeber einer neu entfachten Prekarisierungsforschung. In seiner mittlerweile zum Standardwerk avancierten Studie Die Metamorphosen der sozialen Frage (2000) argumentierte er, dass die Gegenwart von unsicheren Beschäftigungs- und Lebenslagen gekennzeichnet ist, die seit der Nachkriegszeit für Westeuropa als überwunden geglaubt wurden. Diese Unsicherheiten interpretiert Castel als Folge des neoliberalen Umbaus der Wohlfahrtssysteme. In historisch neuem Ausmaß sind es die Mittelschichten, die zunehmend von einem sozialen Abstieg bedroht sind. Im Angesicht von prekären Arbeitsverhältnissen werden aber auch Gruppen verunsichert, die sich zumindest objektiv in materieller Sicherheit befinden, wie etwa die Stammbelegschaft eines Industrieunternehmens, das Leiharbeiter beschäftigt. Castel beunruhigten die Prekarisierungsprozesse zutiefst, da er – seine Überlegungen beziehen sich auf Frankreich – den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die soziale Integration, in Gefahr sah. Castel skandalisierte also nicht ausgewählte Beschäftigungsverhältnisse als prekär, sondern zeigte vielmehr auf, dass die gesamte Arbeitsgesellschaft an sich prekär geworden ist. Damit rückte Castel die destruktiven Folgen von Prekarisierung ins Zentrum.

Bereits vor Castel, vor allem aber durch seine Überlegungen befeuert, werden in der Arbeits- und Industriesoziologie auch hierzulande umfassende Entsicherungsprozesse debattiert (Castel/Dörre 2009). Durch sozialpolitische Veränderung, insbesondere durch die Einführung der sogenannten Hartz-Gesetze, sind atypische Beschäftigungsformen wie Teilzeit, Minijobs, Soloselbstständigkeit und auch Leiharbeit, expandiert. Gleichzeitig werden Beschäftigungen im sogenannten Normalarbeitsverhältnis seltener – auch wenn das Ausmaß dieser Erosion umstritten ist. Ein männliches Normalarbeitsverhältnis bezeichnet eine zeitlich unbefristete und kontinuierliche Vollzeitbeschäftigung bei einem Arbeitgeber, die eine hohe sozial- und arbeitsrechtliche Absicherung garantiert. Das Einkommen, das in einem Normalarbeitsverhältnis erzielt wird, sichert die Existenz der gesamten Familie, weswegen auch von einem Familienlohn gesprochen wird.

Die Geschlechterforschung hat die Auseinandersetzung zu Prekarisierung, die Erwerbsarbeit ins Zentrum stellt, umfassend kritisiert (etwa  Manske/Pühl 2010). Eine wichtige Protagonistin ist hier Brigitte Aulenbacher (2009), die eine Reihe von Auslassungen an Castels Studie problematisiert. Unsichere Beschäftigung wird von Castel erst dann als ein Problem formuliert, seit es zunehmend auch Männer betrifft. Damit werde verschleiert, dass sich Frauen bereits im männlichen Ernährermodell in prekären Lebenslagen befanden. Es reicht also nicht, nur auf das Unsicherwerden männlicher Erwerbsarbeit zu schauen, vielmehr müssen die umfassenden Erosionsprozesse der gesamten fordistischen Trias aus männlichem Normalarbeitsverhältnis, der bürgerlichen Kleinfamilie mitsamt Ernährermodell und dem wohlfahrtsstaatlichen Arrangement berücksichtigt werden. Mit dem männlichen Ernährermodell geht eine familiäre Arbeitsaufteilung zwischen Frauen und Männern einher, in denen Männern die Erwerbssphäre und Frauen die Reproduktionssphäre, also unbezahlte Hausarbeit, die Erziehung von Kindern und die Versorgung von Kranken, zugewiesen wird. Frauen waren entweder gar nicht oder geringfügig in den Arbeitsmarkt integriert. Seit den 1970er Jahren erodiert jedoch das männliche Ernährermodell. Frauen werden häufiger erwerbstätig, allerdings überwiegend in atypischen Beschäftigungsformen wie Teilzeit.

Indem die Arbeits- und Industriesoziologie Prekarisierung mit der Erosion des männlichen Normalarbeitsverhältnisses kurzschließt, erscheinen geschlechtersoziologische Studien zur unsicheren Beschäftigung von Frauen entweder als »Vorläufer« der Prekarisierungsdebatte oder als »Beitrag (…) unter vermeintlich besonderen (…) Gesichtspunkten« (Aulenbacher 2009: 66). Dies ist insofern verkürzt, als nicht die überwiegend von Frauen dominierten prekären Beschäftigungsformen im Zentrum stehen, sondern an den Rand geraten.

Wenn man dagegen Prekarisierung nicht auf Erwerbsarbeit begrenzt, sondern ebenfalls die Sphäre der Haus- und Fürsorgearbeit mitberücksichtigt, wird zudem deutlich, dass nicht nur das männliche Normalarbeitsverhältnis erodiert, sondern das gesamte Ernährermodell in den Strudel von Prekarisierungsprozessen geraten ist. Geschlechtersoziologische Ansätze kritisieren somit an Castel und an ihn anschließende Studien, dass ein Arbeitsbegriff zugrunde gelegt wird, der Arbeit auf männliche Lohnarbeit reduziert und damit die von Frauen unbezahlte getätigte Sorgearbeit unsichtbar macht.

Wenn Prekarisierung auf das Unsicherwerden männlicher Lohnarbeit verengt wird, wird zudem verschleiert, dass soziale Integration nicht nur über Erwerbsarbeit erfolgt. So müssen auch die Steuerungsprozesse der Nationalstaaten einbezogen werden, durch die Migrationsregime reguliert werden. Denn bereits der Zugang zur Erwerbsphäre wurde und wird weiterhin an bestimmte gestufte Aufenthaltstitel geknüpft. Eine weitere Auslassung in Castels Studie bilden somit nationalstaatliche Steuerungen und Migrationsbewegungen (Jungwirth/Scherschel 2010). Hiermit möchten wir uns ausführlicher im kommenden Blog beschäftigen.

Neben Geschlecht und Migration bildet Sexualität eine weitere Dimension, die in der Engführung von Prekarisierung auf männliche Normalarbeit aus dem Blick gerät. Das Ernährermodell basierte auf einer unausgesprochenen Norm der Heterosexualität. Eine bürgerliche Kleinfamilie umfasste die Ehe aus Mann und Frau, die gemeinsam leibliche Kinder haben. Damit waren alle Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nicht in einem Ernährermodell lebten, von sozialpolitischen Privilegien der Ehe ausgenommen, was sie in materieller und rechtlicher Hinsicht in eine prekäre Lage bringen konnte. Auch dies nehmen wir in einem folgenden Blog-Eintrag wieder auf.

Bisher wurde also deutlich, dass die soziologischen Stellungnahmen in ihren Prekarisierungsdiagnosen immer auch machtvolle Auseinandersetzungen über Normalitäten sind. So erscheint das zahlenmäßig marginale Phänomen Leiharbeit, dass vor allem in der männlichen Industriearbeit zum Einsatz kommt, als untragbar, während die unveränderlich unsicheren Beschäftigungsformen von vielen Frauen und Migrant_innen als weniger skandalös erscheinen.

Wir wollen aber noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen kommen: Wenn Prekarisierung nicht nur für die Erosion männlicher Lohnarbeit steht, sondern für das Brüchigwerden der gesamten fordistischen Trias aus Normalarbeit, Wohlfahrtstaat und bürgerlicher Kleinfamilie, dann ist es reduzierend, in Prekarisierung – wie etwa Castel – nur destruktive Prozesse zu erkennen. Prekarisierung muss vielmehr in seiner Ambivalenz verstanden werden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir teilen Castels Sorge über den Wandel des Sozialstaates und des Ausbaus atypischer Beschäftigungen. Wir teilen aber nicht die Verklärung des männlichen Ernährermodells.

Auch wenn es paradox klingen mag, plädieren wir dafür, nicht nur die – vorhandenen – destruktiven Folgen zu betrachten, sondern auch die Frage zu stellen, welche Zwänge in Prekarisierungsprozessen aufgelöst werden und welche neuen Freiheiten entstehen. Die Erosion des männlichen Ernährermodells bedeutet zum Beispiel auch, dass Frauen die ökonomischen Abhängigkeiten von ihren Partnern verlieren – wohlgemerkt mit dem bitteren Nachgeschmack einer dann steigenden Marktabhängigkeit mitsamt eventuell nur unsicheren und nicht existenzsichernden Beschäftigungsverhältnissen.

Der mögliche Freiheitsgewinn, der aus dem Verlust der ökonomischen Abhängigkeit von Frauen resultiert, kann also auch mit (materiellen) Verlusten einhergehen. So zeigen etwa Forschungen zu sogenannten Familienernährerinnen hier deutlich auf, dass Frauen unter anderen Vorzeichen die Brötchen verdienen (müssen). Sie werden häufig unfreiwillig die Hauptverdienenden, nämlich dann, wenn ihre Partner erwerbsarbeitslos werden oder ihr Einkommen zu gering ausfällt. Familien von Familienernährerinnen leben überproportional häufig in einer prekären Lebenslage.

Einige Studien widmen sich der Frage, was es für Männer bedeutet, wenn sie die ihnen gesellschaftlich zugewiesene Ernährerrolle nicht einnehmen können. Auch diese Studien kommen zu ambivalenten Ergebnissen. Während einige Studien darauf hindeuten, dass Männer sich sogar umso stärker an Erwerbsarbeit orientieren, umso weniger sie diese Orientierung realisieren können (Dörre 2007), zeigen andere, dass diese Männlichkeitenkonstruktionen auch das Potenzial haben, entleert zu werden. Weil Männer nicht mehr die Ernährerrolle ausfüllen können, verliert für sie dieses Identifikationsmuster an alltagspraktischer Relevanz. Hier öffnen sich also auch Möglichkeiten, Männlichkeiten anders als nahezu ausschließlich über Erwerbsarbeit zu entwerfen und etwa Sorgearbeiten mit integrieren zu können. Auch hierzu demnächst mehr – Fortsetzung folgt.

Dieser Blog-Eintrag basiert auf folgender in Kürze erscheinender Einführung:           Motakef, Mona (2014): Prekarisierung. Bielefeld: transcript.

 

Literatur

 Aulenbacher, Brigitte (2009): „Die soziale Frage neu gestellt – Gesellschaftsanalysen der Prekarisierungs- und Geschlechterforschung“. In: Robert Castel/Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 65-77.

Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit., Konstanz: Universitätsverlag.

Castel, Robert  und Klaus  Dörre (2009) (Hg.): Prekariat, Abstieg, Ausgrenzung: Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./New York: Campus.

Dörre, Klaus (2007): „Prekarisierung und Geschlecht: Ein Versuch über unsichere Beschäftigung und männliche Herrschaft in nachfordistischen Arbeitsgesellschaften“. In: Brigitte Aulenbacher/Maria Funder/Heike Jacobsen/Susanne Völker (Hg.), Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesellschaft. Forschung im Dialog, Wiesbaden: VS, S. 285-301.

Jungwirth, Ingrid und Karin Scherschel (2010): „Ungleich prekär – zum Verhältnis von Arbeit, Migration und Geschlecht“. In: Alexandra Manske/Katharina Pühl (Hg.), Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung. Geschlechtertheoretische Bestimmungen, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 110-132.

Manske, Alexandra und Katharina Pühl (2010) (Hg.): Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung. Geschlechtertheoretischer Bestimmungen. Münster: Westfälisches Dampfboot.

2 Gedanken zu „Was ist normal? Was ist prekär? Überlegungen zur Ambivalenz eines zeitdiagnostischen Konzepts“

  1. „Weder der Liberalismus noch der Sozialismus vermag in seiner historischen Form (Anmerkung: darüber sind wir bis heute nicht hinaus!) die soziale Frage zu lösen. Die echte Lösung in Form der Natürlichen Wirtschaftsordnung vereinigt die berechtigten Anliegen dieser beiden Bestrebungen, nämlich die soziale Gerechtigkeit mit einem Höchstmaß an persönlicher Freiheit, schließt aber ebenso den kapitalistischen Missbrauch der wirtschaftlichen Freiheit endgültig aus wie ihre Einengung durch staatlich-bürokratische Planwirtschaft. Erst sie begründet eine wahrhaft freie Wirtschaft ohne private Vorrechte und staatliche Bevormundung, eine monopolfreie und darum auch ausbeutungsfreie Vollbetriebswirtschaft, die jedem die gleiche Freiheit und die gleichen Vorbedingungen zur Entfaltung seiner Kräfte gewährleistet. Daher verträgt sich diese Freiheit nicht mit der künstlichen Ungleichheit wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Vorrechte, aber ebenso wenig mit der künstlichen Gleichheit eines erzwungenen nivellierten Lebensstandards, sondern nur mit der natürlichen Ungleichheit, wie sie sich bei gleichem Start für alle aus der natürlichen Verschiedenheit der Neigungen, Fähigkeiten und Leistungen ergibt.
    Die Natürliche Wirtschaftsordnung fördert das Wohl der Gesamtheit, indem sie dem Wohl aller einzelnen dient. Daher nimmt sie dem Gegensatz zwischen Gemeinnutz und Eigennutz jenen zuspitzenden und unversöhnlichen Charakter, der nur durch die kapitalistische Entartung der liberalistischen Wirtschaft entstand. Sie beseitigt alle Monopole, ohne an ihre Stelle staatliche zu setzen, indem sie lediglich die beiden entscheidenden Monopole, nämlich das Geld- und Bodenmonopol der Kontrolle der Allgemeinheit unterstellt. Der Arbeiter braucht in dieser Wirtschaftsordnung zur Wahrung seiner Rechte weder die Hilfe des Staates noch den Schutz gewerkschaftlicher Organisationen, weil er als gleichberechtigter Vertragspartner ebenso wie der Arbeitgeber seine Bedingungen und Forderungen stellen kann. Denn die von Rodberus und Marx geschilderte Situation, die im Kapitalismus zu einem erpressten Vertragsabschluss mit Ausbeutung des Arbeiters nach dem „ehernen Lohngesetz“ führt, erfährt einen grundsätzlichen Wandel, weil die Arbeit – wenn sie schon nach Marx als „Ware“ aufgefasst wird – in einer monopolfreien Vollbetriebswirtschaft zur gesuchtesten und daher umworbensten Mangelware wird. Daher steigt ihr Preis bis zum überhaupt möglichen Höchstwert, nämlich bis zur Höhe des vollen Arbeitsertrages auf Kosten der Kapitalrente in allen ihren Formen wie Zins, Dividende und Spekulationsgewinn.“

    Dr. Ernst Winkler (Theorie der Natürlichen Wirtschaftsordnung, 1952)

    Es ist eine interessante Frage, ob die „Wissenschaft“ der Soziologie nach dem eigentlichen Beginn der menschlichen Zivilisation einfach ausstirbt oder sich zu einer echten Wissenschaft weiterentwickelt. Bevor hier nicht ein Soziologe den ersten Schritt macht, um Letzteres zu beweisen, muss man wohl von Ersterem ausgehen.

    Der Zins – Mythos und Wahrheit

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