Wenn man sich mit einem so schrägen Phänomen wie der Rassenanthropologie beschäftigt, stellt sich natürlich sofort die Frage, was ist Wissenschaft, wie ist die Grenze zum Humbug oder zur Ideologie zu ziehen? Es gibt (Wissenschafts-)Historiker, die dazu neigen, Professionen, die im „Dritten Reich“ mitzogen, jede Form von „Modernität“ und „Fortschrittlichkeit“ abzusprechen, weil sie diese Begriffe latent oder explizit als moralische Kategorien verwenden — es gab da in meinem Fach in den späten 1980er Jahren eine heftige Debatte unter dem Titel „Wie modern war der Nationalsozialismus?“ Die Rassenanthropologie kann in dieser Perspektive per se keine Wissenschaft gewesen sein.
Im Nachlass des Politologen Wolfgang Abendroth in Amsterdam bin ich auf einige Mappen mit der unnachahmlichen Aufschrift „Arme Irre“ gestoßen. „Arme Irre“, das sind diejenigen, die wie die Motten um erleuchtete Fenster schwirren, ohne Einlass zu finden. Sie schreiben Briefe wie diesen: „Daraufhin sandte ich in der Annahme, Herr Prof. Schadewaldt sei noch Dekan, im Frühling an ihn als den Griechenverehrer und Sophoklesnachdichter einige meiner Dichtungen ein, um zunächst einmal menschlich in Verbindung zu kommen wie es in Österreich immer mit den Kulturträgern möglich war. […] [Es] wäre Kultursoziologie und Kulturpädagogik einschliesslich der urgeschichtlichen Voraussetzungen der Kulturgeschichte mein eigentliches Gebiet, auf das ich später einmal eine Kulturheilkunde gründen möchte. […] Und so ist es auch mit meiner Fünfstufenlehre, die wie ein fünfliniges Notensystem Klarheit in Eiszeitgeschichte, Seelenstufen, Hochkulturstufen und Rechtsstufen bringt.“ Die erste Antwort auf solche Schreiben ist in der Regel dilatorisch, weitere Briefe bleiben unbeantwortet, und so fand auch dieser „Kulturforscher“ 1954 kein Gehör an der Universität Tübingen. „Arme Irre“ nerven seriöse Professoren, sie vertreten abstruse Theorien, zumeist in einer wüsten Melange unpräziser Postulate sowie grundsätzlicher Rundumschläge, und sie sind nicht in der Lage, die Sprachspiele und Stilregeln der Wissenschaft einzuhalten. Und deshalb verkörpern sie immer „das Andere“ der Wissenschaft, mit dem diese sich nicht auseinandersetzen muss.
Pseudowissenschaftler nerven auch, aber sie imitieren die Verfahren der seriösen Wissenschaft immerhin, auch wenn sie sich — verschiedenen Definitionsversuchen dieses Phänomens zu Folge (S. O. Hansson, A. A. Derksen, M. Hagner) — grober Verstöße schuldig machen. Doch sie können die Wissenschaft immerhin herausfordern. Ihre Theorien mögen abstrus sein, aber irgendwann haben sie sich so festgesetzt, dass sie widerlegt werden müssen, beispielsweise die Welteis-Lehre (dazu hat Christina Wessely ein schönes Buch geschrieben). Um einen Verkünder herum hatte sich ein größerer Trupp gewichtiger Ingenieure geschart, die gegen die etablierte Physik überzeugt waren, dass der Kosmos aus Eis bestehe. Aus war’s zwar, als Apollo 11 kein Eis auf dem Mond fand, doch hatten die Welteis’ler die Wissenschaft zeitweilig in die Defensive treiben können.
Die Phlogiston-Theorie gilt heute als Irrtum, aber als Wissenschaft. Die Rassenanthropologen waren keine Armen Irren und keine Pseudowissenschaftler, aber ihre Weltsicht gilt heute — freundlich gesagt — als irre. Luhmann zufolge funktionieren (Sub-)Systeme autopoietisch mit Hilfe ihrer eigenen Codes etc. „Arme Irre“ stehen draußen und ihre Impulse verpuffen. Bei Pseudowissenschaftlern ist das schon nicht mehr ganz so eindeutig. Oder sind beide durch das System Wissenschaft konstruiert, als andere Seite der Unterscheidung, als „das Andere“, in dem man sich spiegelt? Die Rassenanthropologie zeigt jedenfalls, dass „die Anderen“ möglicherweise doch irgendwie viel näher dabei sind, als Wissenschaftlern das lieb sein kann, wenn sie nämlich das Handwerk beherrschen, die Regeln beachten, wenn sie zum Subjekt des Wissenschaftlers geworden sind und als solcher anerkannt werden, wenn sie sich dadurch innerhalb des Subsystems eine „Position des Sprechers“ erarbeitet haben und ihre Aussagen „ins Wahre“ gerückt sind (M. Foucault).
Es gibt sicherlich als allgemeingültig anerkannte Kriterien, um theoretisch Wissenschaft vom Anderen zu unterscheiden, aber meine Beispiele legen es nahe, dass die Grenze nicht objektiv gegeben ist, sondern im Vollzug der Wissenschaft von Akteuren immer wieder performativ ausgehandelt und stabilisiert oder verschoben wird. Und das muss empirisch sorgfältig beschrieben werden, um Ambivalenzen, Prozesshaftigkeit und Vielschichtigkeiten in den Blick zu bekommen. Denn heute wird die Rassenanthropologie von seriösen Forschern ganz selbstverständlich als Pseudowissenschaft deklariert. Damit hat man das Böse gebannt. Es bleibt das Andere, auf das man mit dem Finger zeigen kann. Die drei übrigen Finger weisen freilich zurück.
Literaturhinweis:
Etzemüller, Thomas: Der „Vf.“ als biographisches Paradox. Wie wird man zum „Wissenschaftler“ und (wie) lässt sich das beobachten?, in: Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Freist, Dagmar (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 175-196