Nos réseaux de sociabilité (1)

Heute habe ich einen französischen Titel gewählt, um meine Solidarität mit Charlie Hebdo und den Angehörigen der Opfer der Attentate auszudrücken. Als ich mich an den Computer setzte, den Blog öffnete, fragte ich mich, ob ich meine ursprüngliche Planung, zwei Monate mit Ihnen über die Soziologie und das Web zu diskutieren, aufgeben sollte. Verpflichten die technischen Möglichkeiten eines Blog nicht dazu, in „Echtzeit“ zu reagieren? Gewiss, trotzdem möchte ich wie geplant fortfahren.

Die ersten Tage dieses Jahres habe ich in Paris verbracht, um eine Promotion abzunehmen. Bei dieser Gelegenheit habe ich die Büchertische der wunderbaren Buchhandlungen nach neuen Publikationen über das Web durchstöbert, um Ihnen ein wenig daraus zu berichten. Ich hätte somit ohnedies über französische Studien über das Web referiert.

Vorweg möchte ich jedoch auf eine Kritik an meinem ersten Text eingehen. Ich hätte darauf achten sollen, Begriffe zu meiden, deren beschreibender Charakter in den letzten Jahren weitgehend zurückgedrängt wurde und die mittlerweile vorwiegend zur Markierung von Differenz und Opposition gebraucht werden. Ich spreche von Big Data. Damit habe ich geradezu zu Missverständnissen eingeladen. Darum möchte ich hier nochmals klarstellen: Mir geht es um das Web als Forschungsgegenstand, wo sich kleine qualitative Studie durchführen lassen, z.B. Analysen von Chats oder Gruppen, wo aber auch große Datenbestände verfügbar gemacht werden, beispielsweise durch die Verknüpfung von Beständen aus Museen mit Sammlungen und Archiven. Damit gehen viele Risiken, Gefahren und Probleme einher, die sich in den Gebrauch des Begriffs Big Data mittlerweile fest eingeschrieben haben. Ich habe den Begriff jedoch einzig beschreibend gemeint, was – wie Ihre Kommentare gezeigt haben – nicht möglich ist.
Es gehört meiner Meinung nach zum originären Selbstverständnis der Soziologie, das Gewordensein der „gesellschaftlichen Wirklichkeit“ kritisch zu reflektieren. Aber sie kann dieses Selbstverständnis – und da scheinen die Sichtweisen auseinander zugehen – nicht in die Tat umsetzen, ohne sie sich empirisch zugänglich zu machen. Und das gilt auch für das Web.

Kehren wir zurück zu unserem heutigen Thema. Beim Durchstöbern der Pariser Büchertische habe ich das Buch von Rémy Rieffel: Revolution numérique, revolution culturelle?, gefunden, das 2014 bei den Éditions Gallimard erschienen ist. Rieffel ist Mediensoziologe und lehrt an der Université Paris II. Vielleicht kann man die Schrift am besten als Überblicksarbeit charakterisieren. In drei Abschnitten diskutiert Rieffel auf der Grundlage von beinahe ausschließlich französischen Studien die Frage, ob wir Akteure einer dritten industriellen Revolution sind: la révolution numérique. Ich möchte Ihnen heute ein paar Thesen aus dem zweiten Abschnitt vorstellen, wo Rieffel vorwiegend der Frage nachgeht, wie sich die Sozialität im und durch das Web wandelt. Er spricht von einer „sociabilité nummérique“, die er der „sociabilité ordinaire“ gegenüberstellt. Leider bleibt seine Bestimmung der „digitalen Sozialität“ erstaunlich spärlich. Sie sei gekennzeichnet durch den Gebrauch der neuen Techniken kombiniert mit neuen synchronen wie asynchronen Temporalitäten, woraus eine zunehmende „présence connectée“ erwachse (88).

Auch die von ihm entwickelten vier Modelle zur Unterscheidung der verschiedenen Blogger und Blogs bleiben merkwürdig oberflächig (81-88). So unterscheidet er erstens einen „blog intime“, den er mit Rückgriff auf die Tradition der Tagebücher erläutert, weil man dort über sich selbst spreche, Beichten ablege und intimen Gefühlen erzähle. Das zweite Modell nennt er „blog de l’entre-soi“ (unter-sich). Hier fänden Kommunikationen zwischen sich nahestehenden Personen statt, wie in der Familie, wo man sich über den Alltag austausche und auf ein gemeinsames Gedächtnis beziehen könne. Auch nutzt er die „sociabilité ordinaire“ zur Erläuterung. Das dritte Modell umfasst den „blog amateur“, der ein koordinierendes Zentrum für Personen mit ähnlichen Interessen bilde. In diesen Blogs träfen sich beispielsweise Sammler alter Fotos, Briefmarken, Oldtimer oder Freunde des Theaters oder der Musik. Allein die Aufzählung überrascht, sie könnte aus einer kultursoziologischen Studie der 1960er Jahre stammen. Das vierte Modell – der „blog citoyen“ – ermögliche hingegen einen öffentlichen Meinungsaustausch und die Organisation politischer Aktivitäten. Hier zählt Rieffel verschiedene soziale und politische Bewegungen auf.

Ich habe ihnen die vier Modelle vorgestellt, um zu verdeutlichen, dass die Ausgangsfrage, ob im Web eine neue Form von Sozialität entstanden ist, sich vermutlich solange nicht beantworten lässt, solange die dort vorgefundene Sozialität umgehend mit Rückgriff auf Formen der Sozialität außerhalb des Web erläutert wird. Schon gar nicht wird dies gelingen, wenn etablierte Ordnungs- und Klassifikationsschemata für die Kommunikationen im Web nur schlicht erweitert werden.

4 Gedanken zu „Nos réseaux de sociabilité (1)“

  1. „…ob im Web eine neue Form von Sozialität entstanden ist, sich vermutlich solange nicht beantworten lässt, solange die dort vorgefundene Sozialität umgehend mit Rückgriff auf Formen der Sozialität außerhalb des Web erläutert wird.„

    Es stellt sich dann allerdings die Frage, womit es sonst erläutert werden soll? Ansonsten würde man ja behaupten, dass das Internet ein unvergleichliches Etwas wäre. Das fände ich äußerst unbefriedigend und wissenschaftlich inakzeptabel, weil Unvergleichbarkeit jegliche Erkenntnismöglichkeit ausschließt. Mithin bleibt nur der Vergleich mit historisch älteren Verbreitungstechnologien, um die Unterschiede finden zu können. Ich habe unter Rückgriff auf Goffman und Luhmann versucht durch den Vergleich mit älteren Verbreitungstechnologien herauszuarbeiten, was das Neue am Internet sein könnte. Siehe hier: http://goo.gl/tn4PvO

  2. Das „Web als Forschungsgegenstand“ kommt mir fast schon vor wie eine Fragestellung von vor 5 bis 10 Jahren. Damals trennten viele noch Offline und Online als zwei Welten. Gerne indem man die eine als „real“, die andere als „virtuell“ bezeichnete. Inzwischen ist aber mehr als deutlich, dass Offline und Online 1 Welt sind. Es beginnt ja schon bei der Suche nach Kochrezepten – schließlich will man ja nicht online kochen. Die neue Sozialität, die vom Kleinsten bis zu den größten gesellschaftlichen Institutionen zu beobachten ist, besteht ja eben darin, dass die Gesellschaft sich als enger verknüpft wahrnimmt, indem sie sich tatsächlich enger verknüpft. Die geradezu hyperbolische Steigerung der Kommunikation hat unvermeidlich Folgen für die Gesellschaft. Diese Folgen theoretisch und empirisch vollständig in ihrer Dynamik zu erfassen, ist ungeheuer schwer. Die neue Sozialität betrifft ja wirklich das Privateste und reicht bis zu politischen Langfrist-Strategien. Daher würde ich nur wenig Nutzen darin sehen, das Web als soziologischen Forschungsgegenstand abzuzäunen. Die Frage ist doch eher: Wie funktionieren und ändern sich Gesellschaften, wenn die Menschen in Beruf und Alltag für immer mehr Zwecke Netz-Tools nutzen? Es ist doch mit den Händen zu greifen, dass das klassische Thema Normwandel unter den Bedingungen einer drastischen Zunahme der gesellschaftlichen Kommunikation und einer Zunahme des offenen Aufeinanderprallens gegensätzlicher Standpunkte und Sentimente eine völlig neue Dynamik bekommen muss. Zu empirischen Indizien hier eine kleine Debatte mit einem interessanten „harten“ Fundstück: http://bit.ly/1KWamHK

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