Nun brechen schon die letzten Wochen der zwei Monate an, die ich für den SozBlog schreibe. Vermutlich werde sich einige Leser_innen gewundert haben, dass ich die Soziologie und das Web ins Zentrum meiner Ausführungen gerückt habe. Heute möchte ich offenlegen, was mich an dieser Thematik interessiert. Zentral für die Soziologie sind Fragen, ob sich mit dem Web neue Formen der Sozialität entwickeln, wie sie sich mit etablierten sozialen Formen verbinden und wie dies alles theoretisch verstanden und methodisch erfasst werden kann. Mich persönlich interessiert etwas anderes: Um das Web soziologisch zu erschließen, sind einerseits neue Forschungsinstrumente erforderlich, andererseits eröffnet das Web selbst neue Forschungszugänge: wissenschaftliche Literatur ist online erhältlich, die großen Museen stellen Fotos ihrer Gemälde ein, wichtige Quellen liegen digital vor etc. Die Frage, die mich interessiert lautet: Wie werden durch diese und weitere neue Forschungsinstrumente, die zu den wissenschaftlichen Infrastrukturen gehören, die wissenschaftlichen Disziplinen verändert? Wissenschaftliche Infrastrukturen schaffen nicht nur ein wichtiges Fundament für Forschung und Lehre. Sie eröffnen wie verschließen Möglichkeiten des Forschens und Lehrens. Es handelt sich um Institutionen mit reglementiertem Zugang, festem Regelwerk, die oftmals eine beträchtliche Summe kosten und langfristige Investitionen erfordern. Sie privilegieren bestimmte Forschungsperspektiven wie sie andere Forschungsrichtungen indirekt als weniger bedeutsam darstellen. Sofern bei den bevorzugten Forschungsperspektiven wissenschaftliche Reputation lockt, was zumeist der Fall ist, wirken sie auch auf die akademischen Karrierewege. Nicht zuletzt sind wissenschaftliche Infrastrukturen Gegenstand wissenschaftspolitischer Steuerungen.
Bei den wissenschaftlichen Infrastrukturen handelt es sich um ein äußerst komplexes Phänomen, zu dem Archive, Bibliotheken, Sammlungen, aber auch Nationallizenzen, Forschungsdatenzentren sowie Forschungsbauten (z.B. CERN) und -schiffe und vieles mehr gehören. Eine weitere Gruppe der wissenschaftlichen Infrastrukturen besteht aus den Informationsinfrastrukturen wie den Panelerhebungen (z.B. SOEP, NEPS) oder den Daten des Statistischen Bundesamts. Aber auch die Werkzeuge zur Erhebung und Auswertung von Daten zählen dazu, für die Sozialwissenschaften beispielsweise SPSS, ATLAS.ti und MAXQDA.
Die Wissenschaftsforschung, speziell die Wissenschaftssoziologie, kümmert sich bislang um wissenschaftliche Infrastrukturen kaum. Hingegen sind sie in den letzten Jahren von der Wissenschaftspolitik und den Forschungsförderern „neu entdeckt“ worden. So wurden Förderprogramme für den Aufbau wissenschaftlicher Infrastrukturen aufgelegt, z.B. die Ausschreibung „Informationsinfrastrukturen für Forschungsinfrastrukturen“ der DFG und „Roadmap für Forschungsinfrastrukturen“ des BMBF. Vor allem sind viele Stellungnahmen zu dieser Thematik erarbeitet worden. So hat die DFG mehrere Positionspapiere publiziert (DFG Ausschuss 2006, 2012, DFG/WR 2011). Der Wissenschaftsrat gab 2011 und 2012 Empfehlungen zu einzelnen Forschungsinfrastrukturen und übergreifende Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Informationsinfrastrukturen ab (vgl. WR 2011; WR 2012). Als europäische Pendants lassen sich das „European Strategy Forum on Research Infrastructures“ (ESFRI) und das Kompetenznetzwerk Knowledge Exchange (KE) identifizieren. Während ersteres das Ziel verfolgt, die europäischen Forschungskapazitäten auszubauen, versucht das KE eine kollaborative Dateninfrastruktur zu etablieren. Es beschäftigt sich vor allem mit der Frage: What makes researchers willing to share their data? (Verena Weigert).
Will man sich über wissenschaftliche Infrastrukturen informieren, dann findet man überwiegend solche wissenschaftspolitisch engagierten Bestandsaufnahmen oder umsetzungsorientierte Studien, aber kaum Forschungsliteratur. Dies ist irritierend, weil die wissenschaftlichen Infrastrukturen tief in die etablierten Strukturen, Institutionen und Organisationen von Forschung und Lehre eingreifen. In Anlehnung an Edwards et al. (2007) kann man für Informationsinfrastrukturen vier Problemfelder identifizieren: (1) Die Einrichtung von Infrastrukturen produziert Gewinner wie Verlierer, weil sich u.a. die Gewichte und die Anerkennungs- und Reputationspotentiale einer Disziplin zumeist zugunsten jener Bereiche verschieben, die besser infrastrukturell ausgestattet sind. Zu den Verlierern zu gehören, kann zur Folge haben, von unentbehrlichen Ressourcen ausgeschlossen zu werden, aber auch, sich mit verminderten Karriereaussichten arrangieren zu müssen. (2) Häufig werden die etablierten Regeln des geistigen Eigentums und die internen disziplinären Kulturen tangiert, teilweise außer Kraft gesetzt. (3) Besonders deutlich treten Konflikte bezüglich der Verfügbarkeit von Daten auf: Wann werden sie wem unter welchen Voraussetzungen zugänglich gemacht. Seit einiger Zeit erwartet auch die DFG eine Antwort auf diese Frage, die bei den Anträgen unter dem Punkt „Umgang mit den im Projekt erzielten Forschungsdaten“ zu beantworten ist. (4) Oftmals machen die Informationsinfrastrukturen eine neue Organisation der Forschung erforderlich, insbesondere stellt sich die Frage nach den Professionen. So zeigen empirische Studien, dass sich in den Infrastrukturen oftmals ein eigenes Professionsverständnis herausgebildet hat (vgl. Edwards et al. 2007: 2).
Diese wenigen Sätze über wissenschaftliche Infrastrukturen machen deutlich, dass sie keineswegs bloßes Beiwerk von Forschung und Lehre sind. Sie begründen ganz wesentlich die Eigenarten und Strukturen von Disziplinen. Aus diesem Grund ist es – aus meiner Sicht – kein Randthema, wie sich die Soziologie zum Wandel der wissenschaftlichen Infrastrukturen positioniert. Und das Web stellt gegenwärtig sicherlich den stärksten Motor für den infrastrukturellen Wandel dar.
Edwards, Paul N.; Jackson, Steven J.; Bowker, Geoffrey C.; Knobel, Cory P. (2007): Understanding Infrastructure: Dynamics, Tensions, and Design. Online verfügbar unter: http://deepblue.lib.umich.edu/handle/2027.42/49353.
Aus meiner Sicht bietet das Internet und der damit einhergehende Wandel die Chance, sich den genannten Problemfeldern zu nähern und Lösungen zu finden. Die Frage ist, ob sich Gewinner_innen der Infrastruktur dazu bereit erklären, die Probleme als solche anzuerkennen, sich von ihnen angesprochen zu fühlen und dann tatsächlich anfangen darüber nachzudenken.