Na? Wie ging es Ihnen in dieser Feiertags-Saison? Haben Sie die Gans gut verdaut? Oder doch darüber gestritten, was auf die festliche Tafel kommt? Ob Essen, Timing und Ausmaß der Bescherung, Kirchgang, Fernsehprogramm … Wenn die Familie – was auch immer das sein mag (und davon wird in den kommenden Wochen noch vielfach die Rede sein) – zusammen kommt, kommen muss, gibt es leicht, nun ja, Spannungen. Kein Wunder: Höchste Erwartungen haben eine entsprechend riskante Fallhöhe. Passend hat dies der inzwischen kultige EDEKA-Spot inszeniert. An diesem lässt sich trefflich über Familienrituale bzw. über Care, Gender und weiteres Gedöns nachdenken. Über 45 Mio Mal wurde der Clip – mit dem vielsagenden Titel ‚Heimkommen‘ – auf Youtube geklickt. Er inszeniert ein zeitgenössisches Dilemma moderner, europäischer, kapitalistischer Gesellschaften: Eine Erwerbssphäre, die sich insbes. als ’new economy‘ geradezu imperialistisch entgrenzt und immer mehr Menschen inkludiert. Einerseits. Andererseits das grundlegende Bedürfnis von Menschen nach Beziehung, Sorge, Nähe und Zuwendung. Oder, um es festlich-pathetisch zu sagen: Der Spot bringt die Problematik der Gleichzeitigkeit von Autonomie und Angewiesenheit auf den Tisch. Beides, Autonomie und Angewiesenheit, ist notwendig, gut und richtig. Beides gehört untrennbar zusammen. So trivial dies klingt, so schwierig gestaltet sich die gesellschaftliche Grenzziehung und Verbindung beider Dimensionen und so überfordernd ist die Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Gemeinschaft bzw. Sorge umeinander im konkreten Alltag konkreter Personen.
‚Heimkommen‘ inszeniert die verschiedenen Aspekte dieses Zusammenhangs, schauen wir also genauer hin: Da ist Opa, allein, immer wieder allein zu Weihnachten. Schlimm allein – er muss sich sogar sein Gemüse selber schneiden! Ihm bleibt nur die Kommunikation via (hoffnungslos altmodischer) Medien: Anrufbeantworter, Postkarte. Denn der aufregende Job in Hong-Kong oder die verantwortungsvolle Chefarzttätigkeit seiner Söhne sind wichtiger. Und das können wir alle nachvollziehen: Solche Jobs sichern Selbstwert, Anerkennung und – last but auf keinen Fall least – gesellschaftliche Teilhabe durch Einkommen und Gestaltungsoptionen. Dass es die Söhne sind, die kosmopolitisch mobilisiert, prestigeträchtig führungsmächtig und mit der neuesten Technik sowie den dicken Autos erwerbsarbeiten, auch das scheint wohl den meisten so plausibel, dass es nicht der Rede wert ist. Übersehen wird wahrscheinlich meistens auch, dass ein weißer, deutscher, schlank-fitter Managermann in der „asiatischen“ Ferne in eine deutsche Karosse steigt, dessen Tür von einem „asiatischen“ Bediensteten geöffnet wird. Und ebenso fraglos ist den meisten wohl, dass die Tochter von Opa in der Küche, mit dem Kleinkind auf dem Arm, das andere um sich herumwuselnd, beim Auspacken einer analogen Trauerkarte erscheint.
Klingelt’s? Hier wird der Zusammenhang von Gender und Care bzw. von Gender, Work und Care in seiner semi-modernisierten Variante in Szene gesetzt: Zwar ist die Tochter nicht natürlicherweise einfach da, um die Karotten zu schneiden und die Familie zusammen zu halten. Aber sie ist letztlich doch Mutter, und das heißt: ausschließlich Mama. Als solche verkörpert sie Gefühl, Moral und Berührbarkeit: Beim Wiedersehen vor dem (trutzig bewehrt bürgerlichen) Elternhaus fließen bei ihr die Tränen, sie geht empathiegeladen auf den Bruder zu, sie schlägt sich überwältigt die Hand vor den Mund, um dann doch ein maximal ergriffenes „Papa“ zu hauchen, damit auch die letzte Zuschauerin versteht, worauf es im Leben wirklich ankommt. Wundert es, dass die Enkelin dem Opa freudig um den Hals fällt? Und dass später, beim Essen, der (älteste?) Sohn mit chirurgischer Fachkenntnis die Gans tranchieren wird? Am Ende ist die Ordnung wieder hergestellt: Drei weiße, heterosexuelle Paare sitzen am Tisch, der (zum Gefühls- und Familienmann modernisierte) Patriarch präsidiert, vier Enkelkinder machen die Konvention rund. Gegessen wird selbstverständlich Gans, kein neumodischer Gemüse– oder „fremdländischer“ Schnickschnack.
Jenseits der Polemik macht der Clip deutlich, was auch die sozialwissenschaftliche Empirie für sämtliche kapitalistische Gesellschaften – weltweit, wenn auch regional immer spezifisch – bestätigt: Jobs, Berufe, Karrieren, Erwerbsarbeit lassen kaum mehr Raum für Beziehungen und Fürsorge, für Care also (u.a. hier, hier). Opa bleibt allein. Noch alleiner bleibt der Opa in Deutschland zudem, weil hierzulande immer mehr Frauen und Mütter in die Erwerbsarbeit integriert sind. Wir haben es tatsächlich mit einer veritablen Care-Krise zu tun – die nicht deshalb eine Krise ist, weil Frauen erwerbstätig sind. Das sind sie aus allerlei guten Gründen und als Ausübung ihrer Autonomie. Krise ist vielmehr deshalb, weil der Kapitalismus von Grundlagen zehrt, die er selber nicht schaffen kann, und die immer weniger Menschen zu leisten imstande oder gewillt sind. Die Hausfrauisierung, d.h. der bislang nicht entlohnte, wesentlich weibliche „Liebes-Dienst“, der die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft bislang mehr schlecht denn recht getragen hat (Reproduktion für die Produktion) wird derweil nicht angemessen neu gestaltet (siehe u.a. hier, hier, hier). Der deutsche Kapitalismus meint, wie viele andere Nationen auch, immer noch, die Reproduktion externalisieren zu können: Auf Mütter und Töchter, auf prekär beschäftigte ‚Helfer_innen‘ oder auf besonders ‚günstige‘ Migrantinnen, die im Zweifelsfall Opa begleiten.
Dem setzt der Clip ‚Heimkommen‘ eine Projektion heiler Welt entgegen, die den heutigen Zeitgeist des Neo-Biedermeier trifft. Andererseits zeigen die medialen Resonanzen auf den Spot, dass die Idylle so ungebrochen doch nicht phantasiert wird: Es gab nicht nur zahlreiche Kritik am Filmchen (hier, hier, hier), es gab vor allem auch höchst interessante Parodien – und Polemiken zu den Parodien. Hieran sieht man, dass das Private öffentlich verhandelt wird, was so neu nicht ist und nur diejenigen überrascht, die der Ideologie der Familie als ahistorische, bloß affektive und moralische Gegenwelt zur Öffentlichkeit aufsitzen. Man sieht aber an den medialen Resonanzen auch den Strukturwandel der Familien und den Strukturwandel der Medien bzw. der Öffentlichkeit. Familie wird gemacht!
Kommentare? Sehr gern! Ansonsten: Klicken Sie auch nächste Woche wieder rein. Wir werden in den kommenden zwei Monaten über den schier unendlichen Zusammenhang von Gender & Care bloggen. Es wird u.a. gehen um Roboter in der Pflege, Väter in Elternzeit, Patientenverfügungen, Schulbücher und um Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen. Und sicher auch mal wieder um’s Essen mit den Lieben. Oder ohne sie.
Very nice! Freue mich auf die weiteren Texte.
…me too. make the patriarchal edeka table dance, maybe tango ;-)
Toller Artikel! Ironisch, aber bei weitem nicht überraschend, ist bei allen intersektionalen Zusammenhängen hier auch der Namensursprung von EDEKA: „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“, kurz E. d. K., gegründet 1898 im Halleschen Torbezirk zu Berlin…
Danke für den Hinweis (und das Lob ;-) ). Hier zum Weiterlesen: http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/afrikanische-diaspora/59394/gegenwart-kolonialer-vergangenheit?p=all
Ein wirklich schöner Artikel! Ich finde die Mischung aus aktuell, fachlich fundiert und „amüsantes“ storytelling ist wunderbar getroffen. Entspricht voll meinem Geschmack des scientific bloggings. Ich werde ihn gleich mal über die Kanäle unseres Blogs schicken. Freue mich auf weitere Artikel! Grüße aus Düsseldorf
Kai
Merci! Das freut uns sehr
Eine sehr tolle Zusammenstellung und sowohl inhaltlich als auch fachlich ein absolut passender Text. Ich wäre froh, wenn mehr Menschen endlich aufwachen würden und sehen würden wie es langsam um unser Land steht. Armes Dtl!
Liebe/r Rosa
danke. allerdings kann ich nicht nachvollziehen, wer genau aus welchem schlaf oder traum „endlich aufwachen“ sollte und wie sie überhaupt das meinen, was sie da formuliert haben. Können Sie das präziser und konkreter ausbuchstabieren?
VG