Geschlossene Gesellschaften – ohne Fragezeichen? Das Thema des nächsten Soziologiekongresses

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Geschlossene Gesellschaften – ohne Fragezeichen?

Was kommuniziert die Soziologie mit diesem Thema des nächsten Soziologiekongresses?

O weh! Wir sehen uns in einer „geschlossenen Gesellschaft“ leben, schlimmer noch, überall in „geschlossenen Gesellschaften“. Ohne Frage: Das suggeriert die Überschrift des Themenpapiers der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Wurde die Gesellschaft noch um die Jahrtausendwende als „grenzenlose Gesellschaft“ (1998), „gute Gesellschaft?“ (2000), später dann als „unsichere…in Transformation“ (2008), als „transnationale“ (2010) und „vielfältige“ (2010) diagnostiziert, scheinen wir jetzt zu sagen oder gar vorauszusagen (?): Schluss mit Vielfalt, schlimme Gesellschaft, überall „closed shops“ und Wach- und Schließgesellschaften, Grenzzäune und gläserne Decken für „Angehörige minorisierter Gruppen“… Sicherlich war das so schlicht einseitig nicht gemeint, und im ausführlichen Themenpapier gibt es genügend fein differenzierende und die Notwendigkeit und die Ambivalenz von Öffnungs- und Schließungsprozessen abwägende Ausführungen. Aber welche Signale sendet die Soziologie mit diesem Titel in die Gesellschaft? Welche Wirkung haben die Wörter, Satzzeichen und ersten Sätze in den Medien und der interessierten Öffentlichkeit?

(1.) „Geschlossene Gesellschaften“ (Überschrift)
Ehrlich, was ging Ihnen bei der ersten Lektüre der Überschrift so durch den Kopf? „Festung Europa“, Schließen der Grenzen, Angst vor Überfremdung, „Wir schaffen das“, „Parallelgesellschaften“, Klüngel in der Automobilwirtschaft, Korruption bei der FIFA, Mafia, exklusive Clubs, Männergesellschaft in Vorstandsetagen und MINT-Fächern… Nicht schlecht, endlich ein Thema mit hoher öffentlicher Aufmerksamkeit! Oder doch nicht so gut: Wo bleibt die Differenz der wissenschaftlichen Kommunikation zur medialen oder politischen? Und was legen wir mit der so gefassten Überschrift nahe:
(a) „Geschlossene Gesellschaften. Punkt“ ist ein abgekürzter Aussagesatz, und das nicht nur als einfacher deklarativer Sprechakt, sondern – da als von einem wissenschaftlichen Kollektiv vorgenommene Äußerung beobachtet – als sozialwissenschaftlich begründete Tatsachen-Aussage, als Fazit vieler Einzelforschungen und Diskussionen, gleichsam als Gesellschaftsdiagnose. So mag es nicht gemeint sein, aber das legt die Rezeptionspraxis nahe.
(b) „Geschlossene Gesellschaften“ kann auch als warnender Satz über die zukünftige Entwicklung verstanden werden: im Sinne einer Prognose oder Prophezeiung, oder seriöser als ein Szenario, welche Schließungsprozesse zu erwarten sind und mit welchen Folgen. Auch dafür finden sich differenzierende Hinweise im Gesamttext; allerdings wird die naheliegende Gefahr nicht ausgeschlossen, eher als moralisch-politische Unterstützung denn als kritische Begleitung des noch vorhandenen Mainstreams der Willkommenskultur gesehen zu werden.
(c) „Geschlossenen Gesellschaften – Fragezeichen?“ Kann ein Satzzeichen einen so großen Unterschied machen? Ja. Hierdurch würden zum einen die falschen und un-intendierten Rezeptionen ausgeschlossen. Zum anderen würde die Differenz der wissenschaftlichen Praxis der Kommunikation signalisiert und zugleich die Erwartung an methodisch kontrollierte und überraschende Beiträge zum derzeit virulenten Diskurs über legitime Abgrenzung und praktizierte gesellschaftliche Integaration geweckt.

(2.) „Millionen Menschen migrieren und flüchten, vertrieben durch Krieg, Armut, Umwelt- und Klimakatastrophen und politische Repression.“ (1. Satz)

Dieser Satz weckt Aufmerksamkeit – beginnend mit einer dreifachen Alliteration -, zeigt er die klare Sprache von Tatsachenfeststellungen am Anfang von Manifesten und zählt knapp und korrekt fünf wichtige Ursachen für Menschen und Gesellschaften in Bewegung auf. Er weckt auch große Erwartungen: Kann die Soziologie die Fragen beantworten, wie Gesellschaften reagieren und sich verändern, wenn Massen von Menschen einwandern und auswandern? Wieviel Schließung ist nötig und wieviel Öffnung möglich? Wie kann man Grenzen ziehen, ohne auszugrenzen? (du-bist-ein-gewinn.de) Welche Entwicklungsszenarios kann sie zur Versachlichung der öffentlichen Diskussion beitragen?
Die im Sinne einer „public sociology“ gewählte Rhetorik könnte jedoch wie ein Bumerang uns treffen, wenn wir dazu nur wenige gewichtige und empirisch gesättigte akademische Beiträge liefern.

(3.) „Zugleich schließen Europa und weitere Regionen ihre Grenzen, ziehen Zäune, um sich abzuschotten.“ (2.Satz)

Dieser Satz schwingt weiter im Rhythmus dieser Rhetorik – aber jetzt kommt hinzu, dass die Tatsachen nicht mehr stimmen. Hier spielt ein zum populistischen alternatives Panikorchester: Schließen Europa und weitere Regionen ihre Grenzen? Nein, das Gegenteil ist erst einmal offensichtlich der Fall! Hunderttausende, ja Millionen sind durch die Grenzen gedrängt und von den meisten (National-)Gesellschaften, vor allem der deutschen und den Grenzen des Schengen-Raums über die Grenze gelassen worden. Die bemerkenswerte Tatsache ist doch, dass die europäischen Gesellschaften sich in ihrer überwältigenden Mehrheit als „offene Gesellschaft“ (Karl Popper: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) gezeigt haben. Bisher hat nur Ungarn die Grenze wirklich geschlossen und weiträumige Zäune errichtet, ansonsten noch kein anderes Land. Dürfen Sozialwissenschaftler so spielerisch mit Fakten und Quantitäten umgehen?

Wenn das Thema so fraglos als „geschlossene Gesellschaft“ gestellt wird, kann es leicht als gesellschaftsdiagnostische Aussage oder als politisch-normative Stellungnahme missverstanden werden. Als pauschalisierende Diagnose, dass wir in fast jeder Hinsicht in einer geschlossenen Gesellschaft leben, ist die Aussage mit Blick auf die vielfältigen Öffnungs-, Mobilisierungs-, Partizipations- und reflexiven Innovationsprozesse allerorten nicht nur unausgewogen, sondern auch schlichtweg falsch – zumal wenn wir die aktuelle Lage im Vergleich zu früheren Phasen der Gesellschaftsgeschichte und auch im Vergleich zu anderen Gesellschaften untersuchen. Als politisch-normative Stellungnahme, vor den Übeln der Schließung und Abschottung zu warnen, ist sie nicht gerade originell und lenkt ab von den substantiellen wissenschaftlichen Beiträgen, die wir in den Plenen und Sektionssitzungen sicherlich dazu beitragen werden. Als Thema sollten noch die Varianten kommuniziert werden: „Gesellschaften in Bewegung: Schließung oder Öffnung?“ oder als Paradox formuliert „Geschlossene Gesellschaften in der offenen Gesellschaft?“ oder zumindest „Geschlossene Gesellschaften?“
Ein Statement noch zum Schluss:
Das Thema für den Soziologie-Kongress festzulegen ist ein wirklich schwieriges Geschäft. Es muss so viele Erwartungen gleichzeitig erfüllen. Abstrakt genug muss es sein, damit möglichst viele Mitglieder und Sektionen der professionellen Soziologie dazu beitragen können; aber auch ausreichend konkret, damit Verbindungslinien und Zusammenhänge zwischen den fragmentierten Forschungsfeldern erkennbar werden. Nach innen so offen orientiert, dass Nachwuchs und auch Namhafte ihre Erkenntnisse und nebenbei sich selbst als leibhaftige Forscherpersönlichkeiten präsentieren können; aber auch nach außen so profiliert, dass klare Nachrichten über bemerkenswerte soziologische Forschungsleistungen sich über die Medien in der Öffentlichkeit verbreiten können. Und nur zu dem letzten Aspekt einer „public sociology“ wollte ich zum Nachdenken anregen.

3 Gedanken zu „Geschlossene Gesellschaften – ohne Fragezeichen? Das Thema des nächsten Soziologiekongresses“

  1. Danke, dass Sie dieses Thema aufgreifen. Wer denkt bei diesem Titel nicht spontan an Sartres „Huis clos“? Kernaussage: l’enfer, c’est les autres. Die Hölle, das sind die anderen. Gesellschaft wird von der „ärgerlichen Tatsache“ zur „Hölle“: durchaus düstere Aussichten.

  2. „Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.“

    Konfuzius

    Der Fehler „Europäische Währungsunion“ entstand aus dem Gedanken, „dass Staaten, die eine gemeinsame Währung haben, nie Krieg gegeneinander führen“. Dieser Gedanke war schon der zweite Fehler; der erste Fehler bestand darin, sich gar nicht bewusst gemacht zu haben, was eine Währung ist und woraus Kriege entstehen. Wäre man sich dessen bewusst gewesen, hätte man zuerst die nationalen „Währungen“ in echte Währungen (konstruktiv umlaufgesicherte Indexwährungen) umgewandelt, die nationalen Bodenrechtsordnungen korrigiert und den zollfreien Handel (Freihandel) zwischen den europäischen Staaten eingeführt. Der dauerhafte Frieden wäre dadurch bereits gesichert gewesen:

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2012/04/krieg-oder-frieden.html

  3. Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Rammert,

    fasziniert habe ich Ihre Erfahrungssammlung im Blog der DGS, an der Schnittstelle von universitärer, populärwissenschaftlicher und öffentlicher Soziologie seit fast 2 Monaten verfolgt.

    Wie verstehen, interpretieren, erklären sie Ihre wahrscheinlich signifikanten Erfahrungen SOZIOLOGISCH?

    Welche ontologisch-logischen Kategorien stehen für Sie dabei im Vordergrund? Welche Sinn-und Kausaladäquanz, um mit Weber zu sprechen, verbinden sie mit Ihren Erfahrungen an dieser signifikanten Grenze soziologisch relevanter sozialer Wirklichkeiten?

    Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und einen guten, feuchtfröhlichen Rutsch ins universitäre Soziologie-Jahr 2016!

    Herzlichen Gruß
    Gerhard Schwartz

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