Angesichts vielfältiger gesellschaftlicher und politischer Transformationsprozesse werden die Fragen nach den Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von bezahlter und unbezahlter Pflegearbeit immer wichtiger. Im Gegensatz zu dem breit diskutierten (vermeintlichen) Wandel im Leitbild der Familienpolitik wird die Debatte um die Zuständigkeit für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen und die damit verbundenen Strukturen sozialer Ungleichheit allenfalls in Fachkreisen und unter „Betroffenen“ geführt. So baut das deutsche Pflegesystem auf häusliche Versorgungsarrangements, die in erster Linie durch familiäre oder ehrenamtliche Netzwerke, sowie prekär beschäftigte Pflegekräfte getragen werden. Unser Beitrag wirft einen Blick auf die wohlfahrtsstaatliche und politökonomische Organisation der Pflege und die daraus resultierenden Strukturen der Ungleichheit und fragt, wer eigentlich für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen verantwortlich ist und sein sollte.
Pflegearrangements im Wohlfahrtsstaat
Der deutsche Wohlfahrtsstaat basiert auf einem konservativ-korporatistischen Leitbild, wonach neben Staat und Markt die Familie als tragende Säule für soziale Versorgungsarrangements verantwortlich ist (Lewis/Ostner). Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips gilt die Familie als hauptverantwortlicher Akteur für die Sorge ihrer Alten, Kranken und Hilfebedürftigen. Die Zuständigkeit ist durch den in der Pflegeversicherung formulierten Vorrang der häuslichen Pflege (§ 3 SGB XI) sowie das Prinzip „ambulant vor stationär“ (§ 43 SGB XI) auch explizit gesetzlich geregelt. Die praktische Ausgestaltung dieser konservativ-korporatistischen Prägung wird mit Blick auf folgende Zahlen deutlich. Mehr als zwei Drittel der 2,63 Millionen pflegebedürftigen Menschen werden im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes zu Hause versorgt und zwar zu 67% ausschließlich von Angehörigen. Leider liefert die aktuelle Pflegestatistik keine Daten zur Verteilung der häuslichen Pflegearbeit unter Frauen und Männern. Vorhandene Expertisen kommen jedoch zu dem kaum überraschenden Ergebnis, dass diese zu über 70% von Frauen erbracht wird. Zudem verdeutlichen Ergebnisse der Zeitverwendungserhebung von 2013, dass Frauen zwei Drittel ihrer wöchentlichen Arbeitszeit unbezahlt leisten (Pflegestatistik; Zeitverwendungserhebung).
Als Ergänzung zur häuslichen Versorgung und mit Einführung der Pflegeversicherung wurde der Ausbau ambulanter Pflegedienstleistungen fokussiert. Dieser Ausbau erfolgte jedoch unter einem starken Anbieterwettbewerb und der Gleichstellung privater Dienste und Einrichtungen freigemeinnütziger Träger. Mittlerweile sind über 60% der ambulanten Anbieter in privater Trägerschaft. Analysen zur Ökonomisierung der Pflegepolitik in den letzten 20 Jahren unterstreichen zwar die Institutionalisierung von Pflegearbeit, allerdings auf Kosten der – zu 87% weiblichen – Beschäftigten mittels Schaffung prekärer, atypischer Arbeitsverhältnisse. Pflege wird zu einer funktionalen, produktivitätsorientierten Dienstleistung, die in erster Linie unter ökonomischen und marktlogischen Rahmenbedingungen stattfindet. So fördert die zugrunde liegende Geringschätzung reproduktiver, weiblich konnotierter Tätigkeiten und Persistenz geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungsmuster die prekären Bedingungen beruflich und privat Pflegender (Backes et al; Bispinck).
Gewiss zeichnen sich Korrekturen im deutschen Geschlechtermodell ab, diese sind jedoch vor allem durch einen widersprüchlichen Leitbildwandel gekennzeichnet. Geschlechterkulturelle Leitbilder wie das Hausfrauenmodell in der Versorgerehe („breadwinner model“) werden abgelöst durch das Erwerbstätigenmodell in der Familie („adult worker model“). Praktisch jedoch meist ohne die Neuverteilung gesellschaftlich notwendiger Sorgearbeit oder Anerkennung vielfältiger Lebensentwürfe. An dieser Stelle seien beispielhaft das noch immer geltende Ehegattensplitting, die einseitige Anrechnung von Kindererziehungszeiten und die Einführung des Elterngeldes genannt. Als Ergebnis dieser familialistischen Logik wird sowohl unbezahlte als auch bezahlte Care-Arbeit traditionell von Frauen erbracht. Angesichts gegenwärtiger Entwicklungen ist zwar in puncto familienpolitischer Interventionen von einem „optionalen Familialismus“ die Rede, der zumindest besser gestellten Frauen mehr Wahlfreiheit zwischen der Inanspruchnahme von Kinderbetreuung und der Ausgestaltung der eigenen Erwerbstätigkeit lässt. Die pflegepolitischen Arrangements zeichnen sich jedoch weiterhin durch re-traditionalistische Strukturen aus, die das Leitbild eines „expliziten Familialismus“ mehr denn je betonen (Leitner).
Der größte Teil häuslicher Versorgungsbedarfe wird also im Sinne eines „expliziten Familialismus“ weiterhin durch Privathaushalte finanziert und überproportional durch deren weibliche Mitglieder getragen. Versorgungslücken, die in Folge des demographischen Wandels, der Unterfinanzierung des Pflegesystems und veränderter Erwerbsarbeitsmodelle entstehen, werden dabei durch quasi-feudale Arbeitsteilung geschlossen. So greifen Privathaushalte zunehmend auf die Versorgung durch im Haushalt lebende Betreuungskräfte, so genannte Live-Ins, zurück. In der Regel handelt es sich hierbei um osteuropäische Migrantinnen, die pflege- und haushaltbezogene Dienstleistungen erbringen und auf einem irregulären Markt eingekauft werden. Verlässliche Statistiken zur Anzahl der Live-Ins liegen nicht vor, wobei vorhandene Expertisen von 100.000-300.000 Migrantinnen ausgehen (Böning/Steffen; Lutz; Rerrich). Momentan gibt es keine sichtbaren Bestrebungen die Lebenssituation von Live-In-Pflegekräften arbeitsmarkt-, sozial- oder pflegepolitisch zu verbessern. Anstatt die ausstehende Umorganisation des Pflegesystems voran zu treiben, werden transnationale Versorgungsketten akzeptiert und die Zementierung traditioneller Rollenmuster und Diskriminierungsformen (Gender, Klasse, Ethnie) stillschweigend in Kauf genommen. Dies zeigt sich etwa an den Formulierungen, die der Rekrutierungslogik von Vermittlungsagenturen für 24h-Betreuungskräfte innewohnt:
„Pflegehelferinnen aus Polen und anderen EU-Ost-Ländern sind nicht nur preisgünstiger, sondern können sich auch besser um Sie kümmern, wenn sie mit Ihnen unter einem Dach wohnen. Es liegt in ihrer Natur, fürsorglich, warmherzig und liebevoll zu sein“. (www.gute-wesen.de)
„Osteuropäische und vor allem polnische Pflegekräfte sind besonders einfühlsam und fürsorglich. Zudem ist es bezahlbar, ihre Unterstützung in Anspruch zu nehmen“. (www.deutsche-seniorenbetreuung.de)
„Die von Acticura vermittelten „Betreuerinnen“ sind fleißig, zuverlässig und häuslich, können gut kochen und haben je nach Anforderungsprofil gute Sprachkenntnisse. Auf jeden Fall sind diese rund um die Uhr ansprechbar und sehr gut ausgebildet. (www.acticura.de)
Diese offenbar ganz selbstverständliche geschlechtliche und ethnische Zuschreibung lässt uns zunächst mal mit einer gewissen Sprachlosigkeit zurück. Es bleibt uns also erstmal nur festzustellen, dass die Pflege älterer Menschen sozialpolitisch entlang höchst problematischer Zuschreibungen organisiert ist und der Haushalt im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Ordnung zum „Ort der Pflege“ ausgerufen wird.
Die Perspektive der feministischen Ökonomie auf Pflegearrangements
Wie ist die Versorgung pflegebedürftiger Menschen auf der Ebene der politischen Ökonomie organisiert und wie wirkt sich das auf soziale Ungleichheiten aus? Die feministische politische Ökonomie beschäftigt sich unter anderem mit der Organisation der Care-Arbeit in unterschiedlichen ökonomischen Sektoren und dem Verhältnis dieser Sektoren zueinander. Luise Gubitzer ermöglicht mit ihrem 5-Sektoren-Modell der Gesamtwirtschaft (Gubitzer) eine Einordnung der Versorgung pflegebedürftiger Menschen in ihre politökonomischen Sektoren und eine Annäherung an die Frage, welcher dieser Sektoren eigentlich für die Pflege älterer Menschen verantwortlich sein sollte. Aus Sicht der feministischen Ökonomie übernehmen prekär beschäftigte Pflegekräfte, Live-In-Pflegekräfte, Angehörige und sonstige freiwillig engagierte Netzwerke eine zentrale Rolle bei der Produktion der Pflege. Nach Gubitzers Modell sind sie qua Subsidiaritätsprinzip überwiegend in den Sektoren Non-Profit, For-Profit, Haushalt und im sogenannten illegalen Sektor mit unterschiedlichen Dienstleistungen an der Versorgung pflegebedürftiger Menschen beteiligt. Dabei folgen sie nicht zwingend der Logik des öffentlichen Sektors, der bei der Produktion von Pflege (zumindest theoretisch) an der Maxime der Gleichheit, Umverteilung und Bedarfsdeckung orientiert ist. Die markt- und gewaltförmigen Logiken des illegalen Sektors und des For-Profit-Sektors laufen diesen Leitgedanken sogar zuwider. Die Versorgung Pflegebedürftiger wird in Deutschland also über ein spezifisches Zusammenspiel unterschiedlicher politökonomischer Sektoren organisiert, deren Handlungslogik meist nicht auf die geschlechtergerechte und bedarfsorientierte Gestaltung von Versorgungsarrangements ausgerichtet ist und soziale Ungleichheit sogar zusätzlich befördert.
Es gilt also zu fragen, welche politökonomischen Sektoren verantwortlich für die Versorgung älterer Menschen sein sollten, wenn wir die Pflege im Sinne der Gleichheit, der Orientierung an menschlichen Bedürfnissen und unter Berücksichtigung sozialer Ungleichheiten organisieren wollen. Unstrittig ist, dass der öffentliche Sektor auf Grund seiner spezifischen Logik und seines Regulierungsauftrags eine zentrale Rolle bei der Organisation und Produktion von Pflege einnehmen muss. Klar ist aus den bereits vielfach gezeigten Gründen (Riegraf; Winker) auch, dass Pflege nicht in Sektoren mit einer markt- oder gewaltförmigen Handlungslogik produziert werden kann. Der Non-Profit-Sektor ist für viele beteiligte Pflegeakteure ein Ort der Solidarisierung und dementsprechend von hoher Bedeutung für ein gerechteres Pflegesystem. Der Haushalts-Sektor wird (zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung) als geschützter Raum der individuellen Bedürfniserfüllung gesehen und wird auch deshalb zukünftig eine tragende Rolle bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen spielen.
Gesellschaftliche Fürsorgeverantwortung – das Verhältnis der Sektoren neu gestalten
Der Blick durch die Brille der feministischen Ökonomie und die wohlfahrtsstaatliche Perspektive auf die Versorgung pflegebedürftiger Menschen verdeutlichen, dass dem Verhältnis von öffentlichem Sektor und Haushalts- bzw. Non-Profit-Sektor bei der Organisation der Pflege eine besondere Bedeutung zukommt. Vorschläge, wie der öffentliche Sektor auf Ungleichheiten in der Pflegeproduktion reagieren kann, wurden bereits von verschiedenen Autorinnen gemacht (Daly/Lewis; Fraser; Knijn/Kremer). Auch vor dem Hintergrund der momentanen Renationalisierungstendenzen in Europa gilt es aber, den öffentlichen Sektor nicht zu dem einzigen Produzenten gerechter Pflege zu stilisieren. Es geht vielmehr darum, das Verhältnis zwischen öffentlichem Sektor, Haushalt und Non-Profit-Sektor im Sinne eines guten Lebens (Biesecker) für alle an der Pflege Beteiligten unter Berücksichtigung unterschiedlicher Differenzkategorien gemeinschaftlich zu gestalten.
Dazu müssen Haushalte und deren Mitglieder und Non-Profit-Akteure als Gestalter von sorgenden Gemeinschaften und nicht als subsidiäre Lückenfüller bei der Pflegeproduktion wahrgenommen werden. Das bedeutet, pflegende Angehörige, Pflegekräfte und BürgerInnen als zu beteiligende Ko-Produzenten von Pflege und damit als Teil einer durch den öffentlichen Sektor getragenen „sorgenden Gesellschaft“ zu verstehen. Auf diese Weise kann die Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht als weibliche konnotierte (private) Angelegenheit von (Schwieger)Töchtern, Pflegekräften oder bürgerschaftlich Engagierten anerkannt werden. Es liegt dabei in der Verantwortung des öffentlichen Sektors, alle Menschen zum Teil einer sorgenden Gesellschaft zu machen und unter ihrer politischen Beteiligung die Pflege älterer Menschen zu organisieren und zu produzieren. Das bedeutet auch, die Bedingungen der bezahlten Pflegearbeit als Grundlage für eine geschlechterunabhängige Pflegepolitik in den Blick zu nehmen. Dazu braucht es dringend Möglichkeiten der kollektiven Mitbestimmung in sozial- und berufspolitischen Belangen für Pflegekräfte und politische Partizipationsmöglichkeiten für pflegende Angehörige (Deutscher Pflegerat; Pflegekammer; Wir!Stiftung). Um das Prinzip der „sorgenden Gesellschaft“ von unten nach oben zu etablieren, muss darüber hinaus auf der Ebene der kleinsten politischen Einheit angesetzt werden. Die Rahmung solcher Caring Communities auf kommunaler Ebene wird bereits diskutiert (Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V.) und ist hoffentlich ein erster Schritt, um gesellschaftliche Fürsorgeverantwortung gerechter zu verteilen.
Katja Schmidt ist Sozialpädagogin (Dipl.), Sozialwissenschaftlerin (M.A.) und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund ForGenderCare zum Thema „Arbeitsbedingungen und Interessenvertretung von Pflegekräften in Bayern“ an der OTH Regensburg.
Sabrina Schmitt ist Sozialpädagogin (Dipl.) und hat einen Master in International Studies. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Frauenakademie München und arbeitet im Forschungsverbund ForGenderCare in einem Kooperationsprojekt der Frauenakademie und der Hochschule München zum Thema „Care aus der Haushaltsperspektive. Das Beispiel Pflege alter Menschen in der Großstadt“.
Grüß Gott,
über die Benachrichtigung neuer Beiträge zum Thema Pflegepolitik würde ich mich sehr freuen.
Herzlichen Dank!