Daten in einer ‚Interpretationsgruppe’ gemeinsam auszulegen, das ist in Deutschland eine mittlerweile weit verbreitete Praktik innerhalb der qualitativen bzw. interpretativen Sozialforschung. Das Ziel dieser Interpretationsgruppen ist es, belastbares Wissen über das Handeln und die alltäglichen Praktiken von Menschen, über deren Werte, Normen und Kultur, über deren Typisierungen und den Prozess des Typisierens, kurz: über deren kommunikative Konstruktion der sozialen Welt zu generieren. Insofern sind Interpretationsgruppen spezifische Medien/Mittel der kommunikativen Generierung sozialwissenschaftlichen Wissens über die soziale Welt, also der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit.
Von Interpretationsgruppen wird in der Fachliteratur gerne behauptet, dass die ‚Qualität’ des so generierten Wissens besser sei als das in Einzelarbeit geschaffene Wissen. Unter diesem ‚mehr an Qualität’ wird (je nach wissenschaftstheoretischer Ausrichtung) mal kreativer, vielfältiger und auch valide verstanden. Immer jedoch soll man mit Gruppen ‚mehr sehen’ können als alleine – frei nach dem Diktum, dass der, der mehr sieht, auch mehr Recht hat. Dieser Anspruch gilt durchgehend für qualitative Sozialforschung und ist in fast allen Traditionen dieser Art der Sozialforschung anzutreffen. Insofern werden Gruppeninterpretationen als Mittel der Qualitätsverbesserung eingesetzt.
Diese Art der kollaborativen Erzeugung von Wissen bringt im Alltag der wissenschaftlichen Qualifikation jedoch immer dann Probleme mit sich (und das zunehmend), wenn die Ergebnisse von einem Autor oder einer Autorin publiziert werden, der/die mit der Publikation von Ergebnissen einer Gruppeninterpretation beansprucht, sich wissenschaftlich zu qualifizieren (Bachelor, Master, Promotion, Habilitation). Ähnliches gilt, wenn ein/eine Autor/in unter seinem/ihrem Namen die Ergebnisse der Gruppeninterpretation in einer Publikation veröffentlichen möchte. Dann können sich einige Probleme einstellen. Im Groben lassen sich die Probleme in zwei Gruppen unterteilen:
Die erste Gruppe der Probleme umfasst die, die entstehen, wenn jene, die an der Interpretation beteiligt waren, formell oder informell ihrerseits Widerspruch gegen die Publikation erheben – sei es, dass sie die Ergebnisse in anderer Weise in Erinnerung haben, sei es, dass sie sich nicht hinreichend gewürdigt fühlen bzw. eine bestimmte Idee oder eine Formulierung für sich in Anspruch nehmen.
Diese erste Gruppe von Problemen ist wahrscheinlich relativ leicht, und zwar kommunikativ zu lösen: Es versteht sich von selbst, dass man alle Mitglieder einer Interpretationsgruppe bei einer Publikation entweder namentlich benennt und/oder den Namen der Interpretationsgruppe anführt und allen für die Mitarbeit an der Interpretationsgruppe dankt. Das ist eine Selbstverständlichkeit.
Schwieriger wird es schon, wenn ein Gruppenmitglied eine bestimmte Idee für sich reklamiert, also darauf besteht, dass sie nicht von anderen verwendet werden darf oder nur in Verbindung mit dem Hinweis, dass diese besondere Idee/Interpretation auf ihn/sie zurückgeht. Hier ist eine kommunikative Lösung vonnöten: Man muss ein Vier-Augen-Gespräch suchen und gegebenenfalls auch ein moderiertes Gespräch. Bei diesem Verständigungsprozess ist für alle Beteiligten zu berücksichtigen, dass auch dann, wenn Interpretationssitzungen mit Tonband aufgezeichnet werden, nicht wirklich immer klar identifizierbar ist, wer als erster eine bestimmte Idee ins Spiel gebracht hat bzw. von wem als erster die treffende Formulierung/Lesart stimmt. Denn Interpretationssitzungen kann man in gewisser Hinsicht als eine Art geistiges Billard verstehen: eine durch die Daten angestoßene Kugel (Lesart, Diskussionsbeitrag) kann die Bewegung der anderen Kugel(n), also andere Ideen und Lesarten auslösen, sie in eine oder mehrere Richtungen schlagen, wo sie andere Kugeln treffen, von ihnen abprallen und zugleich diese in Bewegung versetzen. Der oder die, welche/r eine Idee ausspricht, muss nicht ihr Erschaffer sein. Ideen haben viele Väter und Mütter.
Kurz: gemeinsames Interpretieren ist gemeinsames gegenseitiges Anstoßen, aus dem dann eine oder mehrere Ideen entspringen, die dann weitere Ideen zur Folge haben. Diese kommunikativ angestoßenen geistigen Prozesse bringen Ideen hervor, die kommunikativ gerechtfertigt und vielleicht auch von dem Gruppenkonsens ratifiziert werden. Deshalb sind die Ergebnisse von Gruppeninterpretationen letztlich immer Ergebnisse eines konkreten kommunikativen Prozesses und nicht einer konkreten Person – auch wenn manche Ergebnisse von einer bestimmten Person zum ersten Mal auf den Punkt und in eine griffige Formulierung gebracht wurden. Aber auch dann spricht der eine nur das laut aus, was alle gemeinsam erarbeitet haben – er oder sie ist nicht wirklich der/die alleinige Autor/in. Das muss vor der Interpretation allen Beteiligten klar sein bzw. man muss es allen Beteiligten klar machen und alle sollten vorab damit einverstanden sein.
Dieses Problem der in Zweifel gezogenen Autorschaft bei Gruppenleistungen ist nicht nur für die qualitative/interpretative Sozialforschung relevant, sondern für jede Art wissenschaftlichen Arbeitens – einfach, weil jede Art der wissenschaftlichen Produktion von Ergebnissen das Resultat kommunikativer Konstruktionen des Gegen- und Miteinander ist: Jeder Wissenschaft ist ein bestimmtes kommunikatives Fundament zu eigen, da die Interpretation der erhobenen Daten wesentlich auf die diskursive Interaktion innerhalb der Gemeinschaft der Wissenschaftler/innen.
Die zweite Gruppe von Problemen, die sehr viel schwerwiegender sind und die Methode des gemeinsamen Interpretierens innerhalb der qualitativen/interpretativen Sozialforschung grundsätzlich erschüttern können, ergibt sich aus jenen Problemen, die im Rahmen von Prüfungsleistungen auftauchen. Prüfungsleistungen sind nämlich in der Regel Einzelleistungen, was bedeutet, dass die Einzelnen bezeugen und gegebenenfalls nachweisen müssen, dass bestimmte Ergebnisse, die sie im Rahmen von Qualifikationsarbeiten vorlegen, tatsächlich nur von ihnen erbracht wurden und nicht von anderen, dass sie also die Urheber einer Lesart, eines Konzepts oder Theorie sind.
Zwar finden sich in Prüfungsordnungen immer wieder auch Hinweise auf den Umgang mit den Ergebnissen von Gruppenarbeiten, aber auch da ist die Linie klar: Die Einzelleistung muss abgrenzbar, erkennbar und nachweisbar sein. Reicht nun jemand eine Qualifikationsarbeit (oder auch einen Artikel) bei der Prüfungskommission (oder einer reviewten Zeitschrift) ein und schreibt (unter Nennung der Namen aller Beteiligten), dass einige oder wesentliche Ergebnisse der vorgelegten Arbeit in Gruppeninterpretationen erarbeitet wurden, dann besteht durchaus und leider auch: zunehmend die Gefahr – und diese Gefahr ist nicht nur akademisch, sondern wie Einzelfälle zeigen real – dass wohlgesonnene, aber auch weniger wohl gesonnene Gutachter/innen oder Vorsitzende von Prüfungskommissionen fragen, wer denn hier welche Leistung erbracht hat, ob die individuelle Leistung klar abgrenzbar ist und ob der/die jeweilige Prüfling/in bzw. Autor/in die Leistung als seine/ihre ausflaggen darf.
Dann ist es nicht mehr weit bis zu dem Punkt, den Autoren/innen der Prüfungsleistung zu unterstellen, dass die Ergebnisse nicht wirklich von ihnen selbst seien, sondern von anderen, bekannten wie unbekannten, genannten wie ungenannten Autoren/innen. Verbunden mit diesem Zweifel wird dann gerne die Einschätzung, man könne die eingereichte Schrift nicht als Qualifikationsschrift anerkennen oder aber man könne die Verantwortlichkeit des/r Autors/in für bestimmte Aussagen nicht klar erkennen – weshalb man die Publikation verweigert.
Diese Gruppe von Problemen ist sehr viel schwieriger zu behandeln und man bewegt sich schnell auf dünnen Eis oder aber man reitet sich selbst weiter in die Probleme hinein: Man reitet sich selbst weiter in die Probleme hinein, wenn man z.B. die Prinzipien und Ansprüche der Gruppeninterpretation stark macht und betont, dass man gemeinsam mehr und anderes sieht als alleine.
Eine Möglichkeit, diese Probleme zu lösen, besteht aus meiner Sicht darin, eine grundlegende Unterscheidung vorzunehmen: nämlich zwischen dem Entwickeln von Lesarten in Gruppen einerseits und der späteren Tätigkeit des Schreibens eines Textes durch eine/n Autor/in zu trennen. Denn das sind zwei Prozesse, die sich räumlich, personell, aber auch logisch und im Hinblick auf die damit verbundene Leistung und Autorschaft deutlich voneinander unterscheiden.
Für den ersten Prozess und dessen Besonderheit, nämlich die gemeinsame kommunikative Konstruktion von Lesarten, Konzepten, Formulierungen und Theorien gilt das, was ich oben beschrieben habe. Ein ganz anderer Prozess ist es nun, wenn man als Autor/in einer Masterarbeit, eine Dissertation oder eine Habilitationsschrift diese Interpretationssitzung, oder deren Transkription bzw. deren Tonaufnahme für die Zwecke der Qualifikationsarbeit neu sichtet, neu interpretiert und neu bewertet und dann im Verlauf der eigenen Arbeit bestimmte Gedanken oder Teile der Diskussions- oder Ergebnisprotokolle in der eigenen Arbeit ‚verwendet’. Entscheidend ist aus meiner Sicht (und das macht den wesentlichen Unterschied aus, der auch rechtlich einen Unterschied macht), dass der/die Autor/in selbst wieder als Interpret/in des Interpretationsprozesses der Anderen tätig wird – also dass er/sie gerade nicht eins zu eins die Ergebnisse der Interpretationsgruppe abschreibt und sie als die eignen ausgibt, sondern dass er/sie diese in einem weiteren gedanklichen Prozess der Reflexion im Hinblick auf die eigene Fragestellung interpretiert und neu gestaltet. Das auf diese Weise zustande gekommene neue Produkt unterscheidet sich dann wesentlich von den ursprünglichen Interpretationsergebnissen und geht auch auf einen andere/n Autor/in zurück – weshalb man diese Ergebnisse zu Recht für sich reklamieren kann.
Wenn der/die Autor/in sich also entschließt, innerhalb der eigenen Arbeit Teile der Interpretation der Interpretationsgruppe für seine/ihre Zwecke zu nutzen, dann handelt es sich dann gerade nicht um die Verdopplung der Interpretationsergebnisse andere, sondern um ein eigenes Produkt. Die Ergebnisse der anderen, also die der Interpretationsgruppe, werden dann als Quelle genutzt und in die eigene Argumentation als Zitat eingebaut. Dieses Zitat wird also von dem/der Autor/in der Schrift benutzt, um seine/ihre Interpretation zu differenzieren und zu plausibilisieren oder zu belegen.
Bei Qualifikationsarbeiten muss also deutlich unterschieden werden zwischen den Aussagen der Interpretationsgruppe und deren Ergebnissen auf der einen und der Tätigkeit des Autors, der die Ergebnis der Interpretationsgruppe erneut interpretiert, neu bewertet und neu anordnet auf der anderen Seite. Insofern kann er/sie immer nur die Interpretationsgruppe als externe Quelle zitieren und nicht als Teil seines eigenen Tuns, auch wenn er selbst an der Interpretationsgruppe beteiligt war und diese sogar moderiert hat. Zitate aus den Ergebnisprotokollen der Interpretationsgruppen sind also zu behandeln wie Zitate aus der wissenschaftlichen Literatur, die man anführt, um zu belegen, von welchen gedanklichen Operationen anderer man sich hat bewegen lassen, eigene Überzeugungen zu entwickeln und zu festigen.
Man muss also m.E. als Autor/in sehr klar herausarbeiten, dass man einerseits als Autor/in eines Textes tätig wird, der/die zum Zwecke der Qualifikation eine Qualifikationsarbeit schreibt und dort andererseits innerhalb dieser Qualifikationsarbeit im empirischen Teil auf (Teil-)Ergebnisse zurückgreift, die er/sie mithilfe anderer Kollegen/innen aufgrund der Dateninterpretation erlangt hat. Der/die Autor/in gibt dann mit seiner/ihrer Arbeit weder die Ergebnisse dieser Kommunikation in Gänze wieder, noch gibt er/sie diese Ergebnisse als seine eigene Leistung aus, sondern der/die Autor/in interpretiert die Gruppenleistung vor dem Hintergrund der eigenen Fragestellung.
Misslich ist bislang, dass jede/r Autor/in im Falle eines offiziellen Zweifels an seiner/ihrer vollen Autorschaft dieses Problem allein lösen muss – also den prinzipiellen Zweifel für dem Fall kommunikativ beseitigen muss, was angesichts der ungleichen Machtverhältnisse zwischen Gutachtern/innen und Begutachteten nicht immer einfach ist. Hilfreich wäre aus meiner Sicht, wenn die Sektionen der, die von den o.a. Problemen besonders betroffen sind Fachgesellschaften (also z.B. die Sektionen Methoden, Wissenssoziologie der DGS), hierzu verbindliche Klärungen herbeiführen und eine institutionell abgesicherte Sprachregelung schaffen würden, auf die dann im Falle eines Zweifels verwiesen werden kann. Das würde die Position der Betroffenen deutlich verbessern und würde auch der Gruppeninterpretation und somit auch der qualitativen/interpretativen Sozialforschung guttun.