Wer vom sozialen Wandel spricht, darf vom Tod nicht schweigen. Immer wieder einmal wird, oft vermutlich schulterzuckend angesichts neu hereinflatternder Schreibaufgaben und -anfragen, die Devise „publish or perish“ zitiert oder wenigstens kurz angedacht. Richtiger wäre doch wohl, beides zusammen zu bringen. Publish and perish ist die adäquatere Beschreibung, schließlich wird uns allen, Ihnen wie mir, genau dieses Schicksal drohen. Fleißiges Publizieren wird den physischen Tod nicht aufschieben. Am Ende bleiben die Regalplätze in der Unibibliothek oder irgendwann eben die PDF- oder was auch immer-Datei in der Online-Datenbank. Der Text lebt – und man selbst durch ihn nicht weiter. Unter anderem bei Roland Barthes und Michel Foucault wurde die Debatte geführt, ob der Autor mit/für/nach/in dem/ohne den Text stirbt, zumal – man denke an die Kulturgeschichte des flüchtigen Schriftstücks auf der Strecke vom Flugblatt zum Flyer – der AutorInnenname ja nicht unabdingbar ist. Man wird ihn aus Gründen sowohl der Ökonomie, der Logistik und der Eitelkeit natürlich nachträglich nicht streichen, obwohl zumindest die Toten von diesen Angelegenheiten unbehelligt zu sein scheinen. Zugegeben, angesichts solcher Publikationszombies wie Niklas Luhmann, der sich auch zwanzig Jahre nach Ausfüllen des Totenscheins regelmäßig als profitabler Autor von Nachlassschriften erweist, komme ich ins Grübeln; auf ihn, wie auf viele andere wird nach wie vor verwiesen, in den akademischen Diskursen existiert er also weiter. Vermutlich befeuert er einschlägige Diskussionen postmortal sogar besser als die meisten lebendig Mitwirkenden. Nachtödliche Debattenkultur – wieso eigentlich nicht? Den meisten Soziologinnen und Soziologen wird es, wenn das Gröbste (das Leben) vorbei ist, allerdings anders gehen. Viel Rummel ist nicht zu erwarten, zumal sich das professionelle Sterben bei vielen schon mit dem Ruhestand ankündigen dürfte. ‚Ruhe in Frieden‘ werden die letzten wesentlichen Keywords zu sein.
In der Soziologie ist der Tod kein besonders beliebtes Thema. Als ich mich vor Jahren näher mit der Materie zu befassen begann, stellte ich erstaunt fest, dass das Lebensende bei fast allen ‚großen Namen‘ durchaus thematisiert wird, wenn auch nur am Rande. Mittlerweile kennen sich diese Herrschaften, dachte ich mir als frisch gebackener Postdoc, mit dem Tod ja auch autoethnografisch ganz gut aus. Quicklebendige Thanatosoziologen muss man dagegen schon mit etwas mehr Mühe ausfindig machen. Gibt der Tod zu wenig her? Oder stecken dahinter die üblichen Memento mori-Assoziationen (im Sinne der Erkenntnis: ich bin auch dran, und noch schlimmer: meine Liebsten könnten/werden unangenehmerweise sterben)? Schwer vorstellbar, wo doch viele SoziologInnen sowieso mit schlechten Nachrichten (Ungleichheit usw.) dauerbeschäftigt sind. Da kommt es doch nun auf die Kleinigkeit des unabwendbaren Sterbens auch nicht an, zumal wenigstens in der Mortalitätsgewissheit universelle Gleichheit besteht. Andererseits, schrieb ich en passant schon in meiner ganz und gar nicht todesaffinen Dissertation, ist eine solche Aussage noch unbewiesene Spekulation für alle, die sie lesen. Und da also auch damals der Tod schon einen Gastauftritt hatte, habe ich für diesen Blog nachgeforscht, was mich überhaupt auf die thanatologische Spur gebracht haben mag. Die Problematik des blinden Flecks ignorierend (und an Bourdieus ‚sozioanalytischen‘ Selbstversuch denkend), habe ich eine biografische Begebenheit kognitiv aktualisieren können, die zwar soziologisch nichts beweist (und psychoanalytisch vermutlich alles), die sich selbstverständlich genau so zugetragen hat. Dass sie in Wahrheit durch mein Gedächtnis verformt wurde bis in die Unkenntlichkeit hinein, könnte nur jemand bezeugen, der es aus dem gleichen Grund nicht bezeugen könnte; insofern ist mit Korrekturen nicht zu rechnen.
Folgendes trug sich zu. Die Jüngeren werden sich nicht erinnern können, dass es einmal eine düstere Zeit gab, in der sich zwischen die von höheren Mächten forcierte Gefangenschaft und die glückliche Freiheit eine Übergangszeit schob, die nur einige, durch ein Gottesurteil stigmatisierte Unglückliche betraf: der Wehr- oder Zivildienst. Mir fehlten die Allergien, die bürokratischen Schlampereien oder schlichtweg das notwendige ‚Vitamin B‘, um dem, wie damals gebetsmühlenartig skeptischen Gemütern vorgehalten wurde, gerechten Auswahlsystem zu entgehen. Ich erspare Ihnen meinen im inneren Auge noch frischgehaltenen Tag beim ‚Kreiswehrersatzamt‘, der mit einer pathetischen Ansprache in einem mit altmodischem Chic eingerichteten Zimmer endete (es gab sogar Bücher – damit hatte ich nicht gerechnet), in der es um den ‚Ruf der Ehre‘ usw. ging, und der ich nach ersten Müdigkeitserscheinungen (vielleicht auf beiden Seiten) entging, als ich einwarf, ohnehin ‚verweigern‘ zu wollen – woraufhin ich weniger salbungsvoll, dafür aber sehr direkt zum Verschwinden aufgefordert wurde. Ich landete beim Deutschen Roten Kreuz in der tiefsten Provinz (mit weniger Büchern im Regal). Viel zu lachen gab es hier nicht, aber dafür eine intensive Bewusstseinsschärfung für Milieuunterschiede, Bildungshomogamie, symbolische Kapitalzuweisung, Ungleichheitsproduktion und überhaupt für die Fallstricke des sozialen Dummfeldes. Eines Tages war ich im Rahmen des Zivildienstes Beifahrer bei der Überführung eines Fahrzeuges von Dorf A nach Dorf B. (Einer der beiden Orte taucht in Adornos ‚Minima Moralia‘ als Herkunftsstätte von Auschwitz-Henkern auf – werfen Sie es mir nicht vor!) Es war helllichter Tag, die Sonne brannte, und nicht nur sie: Über einer Tankstelle zwischen den Dörfern hing tiefschwarzer Rauch. Meinen Fahrer (hauptamtlich, vom Wert seiner Aufgabe überzeugt, wie auch immer sie konkret aussah) und mich erwartete nahe der hastig angesteuerten Zapfsäulenstation der bizarre Anblick einer vor uns stehenden und mit uns erstaunlich beherrscht sprechenden Person, die nahezu am gesamten Leib akut verbrannt war. Mir fehlten damals die Vergleichsbilder, um das direkt vor mir sich Abspielende zu begreifen – derweil das Brandopfer auf mich einredete, bei näherem Zuhören aber nichts mehr herausbrachte, was von klarem Verstand zeugte. Eine notärztliche Ausbildung fehlte dem Fahrer ebenso wie mir. Die Besatzung des herbeigerufenen Krankenwagens zeigte sich ebenfalls ratlos, was zu tun sei – mit solchen Fällen rechnet man wohl nicht. Ich kürze ab: der Verletzte wurde abtransportiert und verstarb wenig später im Krankenhaus. Er hatte, glaube ich mich zu erinnern, einen Versicherungsbetrug anzetteln wollen, sich beim Entzünden von Benzin verhaspelt und dafür sein Leben gelassen. Ich musste, epistemologisch ahnungslos, für mich klären, was ich gesehen hatte: das Sterben eines Menschen? Das unmittelbar bevorstehende Ende? Oder Lebendigkeit, deren Gegenpol nicht der Tod, sondern das dem Tod nachfolgende Nichtleben darstellt? War ich Zeuge eines Prozesses bzw. des Ausschnittes eines Prozesses geworden? Wann hatte das Ende begonnen? Mit dem Anzünden des Streichholzes, mit dem Brennen des Körpers? Warum nicht schon mit der Planung der Tat? Mit Begebenheiten des Lebens, die auf lange Frist womöglich zu solchen Handlungsfolgen führen, wie ich naiv überlegte? Oder mit der Geburt?
Ob dieses Erlebnis nun tatsächlich spätere Auseinandersetzungen mit dem Tod angestoßen hat, lasse ich dahingestellt. Es hat mir jedenfalls eine leibhaftige Begegnung beschert, die seither im Forschungszusammenhang durch die Nicht-Interaktion mit Leichen im Obduktionskontext kontrastiert wird. Insbesondere der ethnografische Ansatz in jenen Bereichen, in denen die Gegenwartsgesellschaft auf Ausdrucksformen der (selbstverständlich nicht ‚ihrer‘) Sterblichkeit trifft, hat sich dabei für mich als fruchtbarer Nährboden für sozialwissenschaftliche Recherchen entpuppt. Gesellschaftliche Motive suizidalen Handelns, die Verwaltung der Verwandlung vom Leib zum Körper im Hospiz, die Todespornografie im Internet, das transkulturell verbreitete Phantasma von der Möglichkeit der Fortlebens und die damit einhergehende Abstufung des Todes zur bloßen Statuspassage: über all dies, und vieles mehr, sind zahlreiche Bücher geschrieben worden und werden auch künftig zahlreiche Bücher geschrieben werden. Inventarnummern für künftige Grabsteine.
Ich kann nachvollziehen, dass es manchen KollegInnen zu philosophisch anmutet, über eine noch dazu so aufdringlich ‚physiologische‘ Tatsache wie das Lebensende nachzudenken, zumal die brute facts der Angelegenheit, zentral ihre Unvermeidbarkeit, relativierungsbeständig sind. Folglich ist die Unsicherheit, die manche der Zukunft nachsagen, übertrieben: die Zukunft ist der Tod. Entscheidend sind aber andere Baustellen. Mich beispielsweise interessiert in erster Linie die Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung angesichts solcher unordentlichen Vorkommnisse wie das Sterben der Menschen. Luhmann greift diesbezüglich auf die schematische Trennung von Mikro und Makro zurück: Individuen kommen und gehen, die Gesellschaft (die Teilsysteme) kümmert das aber wenig, weil die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Fortexistenz davon unabhängig realisiert sind. Es erscheint angesichts der impliziten Provokation, als die man solche Positionen deuten kann, reizvoll, das Abstrakte mit dem Konkreten zu verknüpfen. Das Brandopfer in der Umwelt der Systeme, gewissermaßen. Sind Sterbemodalitäten überhaupt soziale Angelegenheiten? Der seltsame Status des Endes auf der, wie seit einiger Zeit propagiert wird, dialektischen Brücke zwischen Tabuisierung und Geschwätzigkeit findet nach wie vor unter Ausblendungsbedingungen statt. Bei Adorno steht zu lesen, das man im Haus des Henkers nicht über den Strick sprechen sollte – wegen des Ressentiments. Das erklärt, mutatis mutandis, die Scheu des ‚Normalakteurs‘, sich selbst und damit die Welt, die er/sie kennt, vom Ende her zu denken. Dialektisch, wie gesagt, wird die Angelegenheit dann aber doch ständig eingekreist. Auf Abstand, bildersprachlich, und somit unkonkret ist der Tod noch am beliebtesten. Einige unsortierte Gedanken:
Eine Leiche ist – fragen Sie hierzu den Pathologen Ihres Vertrauens – ‚das Normalste der Welt‘ und zugleich der Inbegriff von Unsichtbarkeit.
Suizid ist eine der häufigsten Todesursachen; statistisch gesehen, wird Ihr Leben weder vom Verkehrsgeschehen, noch von Zigaretten und erst recht nicht von einem hinter der Hecke lauernden Mitmenschen mit Neigung zum abweichenden Verhalten stärker bedroht als von Ihnen selbst.
Das ‚erste Mal‘ ist für die Identitätsarbeit von Teenagern mit immensen Mythologisierungen behaftet – über das ‚letzten Mal‘ spricht hingegen kein Mensch. (Für Spezialfragen wäre dann wohl ‚Dr. Winter‘ zuständig.)
Und schließlich eine Lieblingsthese von mir: Was ist das am Strand liegen unterm prallen Sonnenschein anderes, als die leibhaftige Vorübung zum Totsein?
Elias Canetti, ein promovierter Chemiker, der das literarische Schreiben überwältigender fand als seinen Brotberuf – das Nobelpreiskomitee gab ihm hinsichtlich seiner ästhetischen Umschulung nachträglich recht –, verfasste in den 1960er Jahren das Schauspiel ‚Die Befristeten‘. Unter dem Eindruck des Todes einer nahestehenden Person imaginiert Canetti darin eine Zukunft, in der jeder Person bei Geburt die Information über ihren Todestag mitgegeben wird; allerdings in einer verschlossenen Kapsel. Es ist schwer zu übersehen, dass die soziale Ungleichheit der realen Welt im diesem erfundenen Konzept ihren zugespitzten Niederschlag findet. Befristet sind wir schließlich alle; aber die Reihenfolge der Emeritierung aus dem Leben erscheint unfair. Vor dem Hintergrund des Geborenwerdens zeichnet sich das Sterbenmüssen als eine Art ‚Illusion der Chancengleichheit‘ eigenen Zuschnitts ab. Soziologinnen und Soziologen sollten sich der Sache annehmen – bevor es zu spät ist und man dem Tod autoethnografisch begegnet.