Mobiles Arbeiten im Homeoffice?

Institutionelle Lücken bei der nachhaltigen Gestaltung raum-zeitlich flexibler Arbeit

Zwar findet die Wertschöpfung industrieller Wissensarbeit seit langem im digitalen „Informationsraum“ statt (Boes et al. 2018), doch fungierte der physische Betrieb bis zur Corona-Pandemie noch immer als unmittelbarer Lebens-, Erfahrungs- und Diskursraum. Im Frühjahr 2020 wurden sodann unter immensem Druck adhokratische Homeoffice-Lösungen installiert. Es galt, schnellstmöglich eine funktionierende digitale Infrastruktur zu errichten, um trotz Krise arbeitsfähig zu bleiben. Pragmatismus, Improvisation und Entschlossenheit waren gefragt. Digitales Arbeiten wurde zur neuen Normalität. Und ein Zurück in die „alte Zeit“ wird es nach der Pandemie in vielen Unternehmen nicht geben – darüber legen unsere bisherigen Befunde klar Zeugnis ab.[1] Doch während hemdsärmelig Heimarbeitsplätze eingerichtet und virtuelle Arbeitspraktiken eingeübt wurden, blieb die Anpassung der regulatorischen Grundlagen auf der Strecke. Vor allem die in über vier Jahrzehnten betrieblicher Mitbestimmung gewachsenen Errungenschaften des Arbeits- und Gesundheitsschutzes drohen zu erodieren.

So wird das Label „mobile Arbeit“ genutzt, wo es de facto um „Telearbeit“ geht. Doch während bei „mobiler Arbeit“ der konkrete Ort keine Rolle spielt, meint „Telearbeit“ allein die Arbeit von zu Hause. Was hier als begriffliche Spitzfindigkeit erscheinen mag, hat reale Konsequenzen, insofern damit gesetzliche und tarifliche Regelungen umgangen werden können, die der „Telearbeit“ inhärent sind (vgl. Armeli 2020). Denn jahrzehntelang fungierte „mobile Arbeit“ als Residualkategorie für bestimmte betriebliche Akteure im Vertrieb oder beim Kunden. Sie war vor allem privilegierten Gruppen (wie Führungskräften) und Mitarbeitern im Außendienst vorbehalten. Hier aber waren die Anforderungen betrieblich abgesicherter Arbeit kaum durchzuhalten. Daher unterliegt „mobile Arbeit“ nur sehr rudimentären Regularien zu Arbeitszeit und -gerätschaften. Bei „Telearbeit“ greift hingegen die Arbeitsstättenverordnung mit umfangreichen Arbeits- und Gesundheitsschutzanforderungen einschließlich Gefährdungsbeurteilung. Somit sind die Anforderungen an den Arbeitgeber bei „mobiler Arbeit“ deutlich geringer.

Das hat zur Folge, dass mit der Verlagerung der Arbeit in den privaten Raum unter Nutzung des Labels „mobile Arbeit“ auch der Gesundheitsschutz „privatisiert“ wird (vgl. Vogl & Nies 2013).Unsere empirischen Einsichten bestätigten bisherige Befunde zur Gestaltung von Betriebsvereinbarungen bei „mobiler Arbeit“ (ebd., S 104 ff): Diese reduzieren sich darauf, Beschäftigte auf die Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen zu verpflichten (mitunter lässt man sich ein Kontrollrecht einräumen). Die ergonomische Gestaltung des häuslichen Arbeitsplatzes wird vorausgesetzt. Die Kosten übernehmen die Arbeitnehmer.

Insgesamt zeigt sich beim Gesundheitsschutz für raum-zeitlich flexible Arbeit ein erhebliches Regulierungs- und Gestaltungsdefizit. Homeoffice trifft auf Betriebsvereinbarungen zu Telearbeit, die aus einer Zeit stammen, die es nicht mehr gibt. Hier werden Sicherheitsvorschriften definiert, die an den Bedingungen der häuslichen Welt vorbeigehen bzw. als Einengung individueller Handlungsspielräume erfahren und mitunter gezielt unterlaufen werden. Dies steht im Widerspruch zu einer arbeitspolitischen Agenda, die die Alternativlosigkeit einer digitalen Transformation betont. Eine nachhaltige raum-zeitliche Flexibilisierung erfordert vielmehr, gemeinsam mit den Beschäftigten Optionen „mobiler Arbeit“ in reflexiver Auseinandersetzung mit der häuslichen Arbeitssituation zu entwerfen und Möglichkeiten der Kompetenzentwicklung (Selbstorganisation, Sozialintegration etc.) mit den Betroffenen zu erschließen.

Die zu hohe, bürokratisch verknöcherte Schwelle des Arbeitsschutzniveaus der „Telearbeit“ wurde im Pandemie-Modus unterlaufen. Corona wurde als Katalysator für eine neue mobile Arbeitswelt genutzt, die sich aber oft am heimischen Küchentisch abspielt. Es wird sich zeigen, inwieweit dieser Abbau bürokratischer Hürden flexiblen Arbeitens mit einer Erosion betrieblicher und privater Grundlagen der Wertschöpfung einher geht. Bei der Suche nach dem Besten aus der alten und der neuen Welt sind für die betrieblichen Gestalter die Quick-Wins der Deregulation über „mobile Arbeit“ sehr verlockend. Sie sollten hier aber genau überlegen, welche Formen des Gesundheitsschutzes bei autonomer Selbst-Organisation auch im betrieblichen Interesse sind.

Literatur

Armeli, N.; Hay, D.; Maschke, M.; Mierich, S.; Siebertz, A. (2020): Transformation in Zeiten der Corona-Pandemie: Monitor Digitalisierung in Betriebsvereinbarungen, Mitbestimmungsreport, No. 63, Hans-Böckler-Stiftung, Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.), Düsseldorf.

Boes, A., Kämpf, T., Langes, B., & Lühr, T. (2018). »Lean« und »agil« im Büro: Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten. Bielefeld: transcript Verlag.

Vogl, G.; Nies, G. (2013): Mobile Arbeit. Betriebs- und Dienstvereinbarungen. Analyse und Handlungsempfehlungen, Frankfurt/Main: Bund Verlag.

 

[1]     Der Beitrag basiert auf Ergebnissen im Verbundprojekt VenAMo – Verkehrsentlastung durch neue Arbeitsformen und Mobilitätstechnologien (Laufzeit: 09/2020 – 08/2023), gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).

 

Autor:innennotizen

Matthias Wörlen, Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet am Lehrstuhl für Sozioökonomik der Zeppelin Universität Friedrichshafen zu den Themen „Gute Arbeit“, „Innovationsfähigkeit“ und „Gesellschaftliche Nachhaltigkeit“. In seinen Forschungsprojekten interessiert er sich vor allem für die Frage, welche Regeln, Haltungen und Kompetenzen die sozial-ökologische Transformation befördern. Ergebnisse seiner Forschungstätigkeit hat er vielfach auf nationalen und internationalen Konferenzen sowie in Fachartikeln/Buchbeiträgen erfolgreich und öffentlichkeitswirksam publiziert.

Tobias Hallensleben, Sozialwissenschaftler (Arbeits-, Organisations- und Innovationsforschung) am Lehrstuhl für Sozioökonomik an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Mitarbeiter im Forschungsprojekt VenAMo – Verkehrsentlastung durch neue Arbeitsformen und Mobilitätstechnologien. Forschungsschwerpunkte: Innovationsfähigkeit & Reflexivität, Organisation & Subjektivität (insbes. Betriebliche Sozialisation), Lernen und Kompetenzentwicklung in Organisationen, Transformationsprozesse in postindustriellen Gesellschaften, Arbeit & Erschöpfung