Corona und die Soziologendämmerung: ein Blick aus dem Niemandsland der Wissensintegration

  1. Einführung – Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung

Das Leitmedium „Die Welt“, das zum Corona-Management auch kritische Berichte brachte und auch weiterhin bringt, hat kürzlich von der Grazer Initiative von Klaus Kraemer zur Aufarbeitung der Rolle der deutschsprachigen Soziologie mit Heinz Bude und Alexander Bogner berichtet[1],[2]. Das ist ein bemerkenswertes Mediensignal, dem eine breite Wirkung zu wünschen ist. Das kommentiere ich nun aus der Sicht eines ausgebildeten Soziologen und Managementpraktikers und ehemals praktischen und nun systemtheoretisierenden Mediziners. Es ist ein Blick aus dem institutionellen Niemandsland.

Aus dieser Sicht ist die Soziologie möglicherweise die erste akademische Disziplin, die ihre Beteiligung bei der Analyse und dem Management der Corona-Pandemie öffentlich wahrnehmbar (selbst)kritisch reflektiert (Kraemer 2023, Bude 2023), während in der Medizin wenig Derartiges erkannt werden kann (Schrappe et al. 2020). Damit wird die Soziologie ihrer primären Funktion der Gesellschaftsanalyse und -reflexion gerecht, die sie ja grundlegend hat. Weiter sollte sie mit ihren analytischen Instrumenten zum Verständnis der Dynamik der Pandemie mitwirken. Eine dritte Rolle, die in Krisen von der Soziologie zu erwarten ist, betrifft ihre Assistenzfunktion für die praktische Politik, wenngleich dieser sozialtechnologische Service noch vor nicht allzu langer Zeit äußerst kritisch gesehen wurde.

  1. Politik und Experten – ein Panikorchester?

Eine prominente assistierende Rolle beim Pandemie-Management hatte vor allem Heinz Bude. Bei der erwähnten Diskussion an der Grazer Universität stellte er einiges klar, allerdings tat er das mit unklarer Autorisierung und Motivation: Demnach hatte er von Anfang der Krise an das Ziel, die „Folgebereitschaft“ der Bevölkerung über Angst-basierte Kommunikation zu steigern. Bude als Experte zur theoretischen Emotionssoziologie schien dabei wohl eine kompetente Fundierung der Maßnahmen und der entsprechenden Kommunikation zu garantieren. Doch die Dosis macht das Gift! Anfangs, aber nicht im Laufe der Zeit, haben sich diese Beschwörungen halten lassen, aber allmählich nahm das Vertrauen in die Experten ab. Ein weiterer massenmedial stark verbreiteten Vorschlag von Heinz Bude war, dass Maßnahmenkritiker und Impfgegner in die semantische Nähe der Kategorie „Irrsinn“ zu rücken seien. Derartige Klassifikationen sind problematisch, wobei verwundert, dass sich hier nicht institutionelle Vertreter der Psychiatrie kritisch eingeschaltet haben. Bemerkenswert ist auch, dass Bude meint, die wissenschaftliche Basis sei zu Beginn der Pandemie simuliert worden. Was mögen die Modellierer dazu sagen?

  1. Kritik – Gesellschaft als kommunikatives Regelungssystem

Insofern die Gesellschaft nach Habermas und Luhmann im Wesentlichen als Kommunikationssystem zu sehen ist, sind derartige Äußerungen von Soziologen besonders kritisch zu werten, denn gerade Soziologen müssten wissen, welche Macht der Sprache zuzuschreiben ist, und dass dadurch – durch die Medien verstärkt – Spaltungen in der Bevölkerung befördert werden (Weitze 2023). Aus einer umfassenderen sozialkybernetischen Sicht hat sich also die Gesellschaft in der Krise durch die kommunizierten Schreckensszenarien rasch in paternalistische Regler und infantilisierte Regelobjekte differenziert. Das führte offensichtlich in der Folge in der Bevölkerung zur weiteren Differenzierung von (z.T. infantilen) Followern und – zunehmend ausgegrenzten – (z.T. pubertären) Skeptikern. So war beispielsweise die autoritative Behauptung, dass die Impfung nicht nur vor schweren Verläufen, sondern auch vor Übertragung schützt, nicht solide begründet. Die Folge für Menschen ohne gültigen Impfnachweis war allerdings, dass sie – teilweise bis heute – institutionell (und auch privat) vom Gesellschaftsleben exkludiert wurden. Derartige Differenzen von Vermutung und belastbarer Faktizität der Corona-Wissenschaft und den Wandel ihrer Erkenntnisse hätte auch Heinz Bude im Laufe der vier Jahre erkennen und hinterfragen können, da sie ja die epidemiologischen Prämissen seiner Argumentation ausmachten. Eine solche (Selbst-)Reflexion der epistemischen und disziplinären Grenzen der Corona-Wissenschaft unterblieb allerdings bisher ganz generell. Offensichtlich hatten und haben noch die autorisierten Akteure in Wissenschaft und Politik ein Selbstverständnis von der Art eines zweifelsfreien Gnostizismus, der als benevolenter Paternalismus der Bevölkerung sagt, wie es langgeht (Münch 2022). Dieses Expertendiktat hat bedauerlicherweise wesentlich mit dazu beigetragen, dass die Gesellschaft durch dieses Thema stark polarisiert wurde und offensichtlich auch noch bleibt (Münch 2023).

  1. Affektneutrale Aufarbeitung durch „integrierte Interdisziplinarität“?

Der Expertenkreis um Bude übersah wohl, dass Angst auch pathogen wirkt und Kollateralschäden – vor allem bei Kindern – erzeugt. Generell wurden beim Pandemie-Management negative psychosoziale Bedingungen und Folgen kaum berücksichtigt. Vielmehr beruhten die Überzeugungen der politisch-wissenschaftlichen Protagonisten auf der unreflektierten Annahme, dass die biodatentechnologisch basierte Corona-Wissenschaft valide ist. Dies hätte aber ein wissenschaftssoziologischer Blick, wie ihn Klaus Kraemer skizzierte, rasch korrigiert (Kraemer 2023, S. 20):

„Im Schockmoment der Krise zeigt sich die undisziplinierte Extradisziplinarität des Expertenstatus beispielsweise darin, dass Laborvirologen pädagogische Ratschläge für ein verantwortbares Alltagsverhalten geben, Mediziner Populärpsychologie betreiben, Philosophinnen und Ethiker vor der biomedizinischen Infektiosität des Virus warnen, Physikerinnen in eindringlichen öffentlichen Appellen die sofortige Schließung von Schulen und Kindergärten fordern, mathematische ›Komplexitätsforscher‹ die nichtintendierten Folgen von Eindämmungsmaßnahmen einfach ignorieren oder Soziologen Maskenempfehlungen aussprechen, Mutmaßungen über die biomedizinische Dynamik des zukünftigen Infektionsgeschehen anstellen und daraus konkrete politische Handlungsempfehlungen kausal ableiten.“

Dieses epistemische Chaos erfordert zur geordneten Wissensintegration eine „disziplinierte integrierte Interdisziplinarität“. Denn es zeigt sich: Epi-/Pandemien sind heterogene vielschichtige komplexe dynamische Systeme, deren Modellierung eine qualifizierte systemwissenschaftliche Kompetenz erfordert und darüber hinaus eine Integration des Wissens der Gesundheitswissenschaften (Medizin), Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften benötigt – die nötige, aber unzulängliche Kurvendiskussion der Daten-Wissenschaft ist unzureichend . Außerdem: der Mensch als situiertes Subjekt ist in der Corona-Wissenschaft abhandengekommen und findet nur als Element der Aggregat-Kategorie „Bevölkerung“, aber nicht als lebendes interagierendes Wesen mit Eigenwert und Eigendynamik Berücksichtigung.

  1. Perspektiven

Mit der Diskussion, die Klaus Kraemer eingeleitet hat und an der sich erfreulicherweise auch Heinz Bude beteiligte, ist ein wichtiger Anfang der Aufarbeitung in der Corona-Wissenschaft gemacht. Dennoch erwartet man von der Soziologie weiteres Engagement, vor allem in Hinblick auf die Analyse des Zusammenspiels der Subsysteme Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien, öffentliche Verwaltung usw., wofür sich ja durchaus spezielle Soziologien etabliert haben. Insofern in der Coronaphase ein Notstandsmanagement praktiziert wurde, ist auch die Analyse der Folgekrisen für die Demokratie eine Erwartung an die Soziologie.

Ein weiterer Bereich, bei dem aber dann die Medizin mitwirken müsste (die allerdings für Nachdenklichkeit kaum bekannt wurde), sind Phänomene sozialer Ungleichheit, die sich im Falle von Infektionen mit schichten- und milieuspezifischen Verteilungsmustern finden lassen, was eine differenziertere und spezifischere Gestaltung von Hilfe- und Schutzmaßnahmen erlauben würde. Public health wäre für diese Synopse zuständig, wobei Medizinsoziologie, Gesundheitssoziologie und Sozialmedizin zu einer soliden Sozialepidemiologie zusammengedacht werden müssten. Auch die Kompetenz der empirischen Soziologie wäre hilfreich, um die Pandemie-Dynamik besser zu verstehen (Schnell u. Smid 2020). Sinnvoll wäre es dabei auch, die unterschiedlichen fachspezifischen Epistemologien zusammenführen (Schmidt 2022).

Die Aussicht auf eine fachübergreifende Aufarbeitung Ist allerdings derzeit äußerst gering, da es in den Gesundheitswissenschaften, insbesondere in der Medizin, kaum Bewegung in diese Richtung gibt. Es bleibt somit ein gewisses Unbehagen in der Post-Corona-Kultur!

Literatur

Bude, H., 2023. Was ist soziologischer Sachverstand und wie sollte eine Soziologin ihn einsetzen? Entgegnung auf Klaus Kraemer. Soziologie: Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 52(2), S. 158–161

Kraemer, K. 2023. Was kann die Soziologie im Schockzustand einer Krise leisten? Eine Entgegnung auf Heinz Bude. Soziologie: Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 52(1), 7-25. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168- ssoar-90389-5

Münch R. 2022. Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen. Polarisierte Gesellschaft. Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Frankfurt/Main; New York: Campus.

Münch R. 2023. Polarisierte Gesellschaft. Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Frankfurt/Main; New York: Campus.

Schmidt, J.C. 2022. Philosophy of Interdisciplinarity. Studies in Science, Society, and Sustainability. London and New York: Routledge.

Schnell R, Smid M. 2020. Methodological problems and solutions in sampling for epidemiological COVID‑19 research. Surv Res Methods. 14(2), S. 123–129. doi: 10.18148/srm/2020.v14i2.7749.

Schrappe, M.; François-Kettner, H.; Gruhl, M.; Knieps, F.; Pfaff, H.; Glaeske, G. 2020. Thesenpapier 1.0 zur Pandemie durch SARS- CoV-2/Covid-19. Datenbasis verbessern – Prävention gezielt weiterentwickeln – Bürger- rechte wahren. MVF MVF 03/2020 13. Jahrgang 02.06.2020, S.53-63

Tretter, F. 2022. Wissensgesellschaft im Krisenstress: Corona & Co. Lengerich: Pabst Verlag.

Weitze, M.D. 2023. Corona-Kommunikation. Eine Krise in Wissenschaft, Politik und Medien. Berlin: Springer VS.

[1] https://www.welt.de/kultur/plus250658831/Corona-Aufarbeitung-Wir-haben-gesagt-wir-muessen-ein-Modell-finden-um-Folgebereitschaft-herzustellen.html

[2] https://www.youtube.com/watch?v=5j5WHi67-go

 

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