Einmal etablierte kapitalistische Märkte haben eine immanente Tendenz zur Selbstzerstörung, bedingt durch eines ihrer Wesensmerkmale – den Wettbewerb (Baur 2001: 98-127). In Abgrenzung zum neoklassischen Modell betonen soziologische Markttheorien, dass Märkte dynamisch sind und diese Dynamiken räumlich variieren können. Gleichzeitig haben Märkte eine Tendenz zur Ausdehnung im Raum (Globalisierung bzw. Internationalisierung) und zur Differenzierung. Der Treiber dieser Prozesse ist das Wettbewerbsverhalten von Unternehmen.
Sind zwei Produkte gleich, wählt ein rationaler Kunde immer das billigere Produkt. Die Folge ist ein Preiswettbewerb zwischen Unternehmen. Da dieser über kurz oder lang dazu führt, dass die Gewinne sinken und (zumindest bei manchen Produzenten) die Verkaufspreise unter die Herstellungskosten sinken, ist Preiswettbewerb immer eine Gefahr für den Hersteller, da er in potenziell in Konkurs treibt, d.h. Firmen müssen irgendwie reagieren. Es existieren nun zwei Reaktionsweisen.
Wie die Grafik illustriert, können Hersteller durch Kostensenkungen – z. B. durch Lohnsenkungen, Produktionsverlagerung in eine Region mit niedrigeren Arbeitskosten oder Prozessinnovationen (d.h. neue Produktions- und Verfahrensmethoden, die die Produktion intensivieren und rationalisieren) – versuchen, dasselbe Produkt immer billiger zu produzieren und anzubieten. Dies hat einerseits soziale Folgen, weil (durch die sinkenden Arbeitskosten) die soziale Ungleichheit und Armut steigt – in Deutschland und/oder anderen Ländern. Weiterhin treiben Unternehmen hierdurch die Globalisierung voran. (Das soll übrigens nicht heißen, dass Unternehmen „böse“ sind – sie tun, was sie tun. Es ist ja schließlich ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, wettbewerbsfähig zu bleiben – die politische Frage, mit der sich etwa die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft auseinandergesetzt haben, ist, wie man damit umgeht).
Andererseits haben Kostensenkungen auch Konsequenzen für die Unternehmen auf dem Markt: Die Konkurrenten, die in diesem Wettbewerbsprozess nicht mithalten können, werden früher oder später von diesem Markt verdrängt und gehen in Konkurs, sofern sie keine alternativen Produkte auf anderen Märkten anbieten können. Gleichzeitig besteht eine Gefahr, dass sich der Markt selbst zerstört: Bereits Karl Marx argumentierte (und auch dieser Gedanke wurde von den Vertretern der sozialen Marktwirtschaft aufgegriffen), dass die überlebenden Unternehmen Monopole oder Kartelle bilden, was ihnen zwar steigende Gewinne einbringt, aber eben genau dadurch, dass der Wettbewerbsmechanismus außer Kraft gesetzt wird. Gleichzeitig ermöglichen starke Marktpositionen einzelnen Unternehmen, die Arbeitnehmer auszubeuten, was früher oder zu erheblichen sozialen Konflikten bis hin zu Revolutionen führen kann (Baur 2001: 98-127; 153-172).
Es stellt sich daher die Frage, warum der Kapitalismus nun seit etwa 200 Jahren existiert. Ein Argument ist, dass der Staat dem Markt einerseits Grenzen setzt und die Aufrechterhaltung des Marktmechanismus sicherstellt, andererseits die sozialen Folgen des Marktes abfedert, u.a. durch den Sozialstaat (Offe 1972), weshalb sich an dieser Stelle soziologische Markt- und Sozialstaatsdebatte berühren.
Emile Durkheim (1992) verweist auf einen marktimmanenten Grund für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus: Unternehmen, die sich auf einem bestehenden Markt nicht durchsetzen können, versuchen, dem Wettbewerb auszuweichen, entweder indem sie Marktmacht aufbauen und mit ihrer Hilfe den Wettbewerb auf einem bestehenden Markt unterbinden (etwa durch Kartellbildung, die Verhinderung des Eindringens neuer Konkurrenten auf den Markt oder Preisabsprachen) oder indem sie auf andere Märkte ausweichen, d.h. neue Märkte schaffen.
Es existieren wiederum zwei Möglichkeiten, neue Märkte zu schaffen:
- Produktdifferenzierung, -verbesserung und -neuentwicklung: Unternehmen können Produkte weiterentwickeln, qualitativ verbessern oder neu entwickeln (Produktinnovationen), um eine Marktnische zu besetzen, auf der (noch) kein Preiswettbewerb stattfindet. Hierzu gehört auch, gesellschaftliche Bereiche, die bisher noch nicht marktfähig waren, in den Markt mit einzubeziehen (etwa eine soziale Dienstleistung, die bislang umsonst war, nun auf einem Markt für Geld anzubieten). Setzt sich ein Produkt erst einmal durch, ziehen die Konkurrenten nach, so dass es auch in diesem Produktbereich zu einem Preiswettbewerb kommt, weshalb weitere Produktentwicklungen erforderlich sind. Wettbewerb auf Märkten geht damit im Kapitalismus immer einher mit Wettbewerb um Innovationen – Marktentwicklung und technischer Fortschritt sind eng mit einander verwoben (Schumpeter 1926, Rammert 2008). Bestimmte neue Produkte können als Basistechnologien zu Leittechniken einer Epoche werden. Prominente Beispiele sind das Automobil (das neue Mobilitätsmuster erlaubt) und das Internet (das völlig neue Kommunikationsformen hervorbringt). Produktneuentwicklungen können die Verhältnisse verschiedener Märkte zueinander verschieben bzw. alte Branchen durch neue ersetzen (z.B. von der Kutsche über Bahn und Fahrrad hin zu Auto und Flugzeug). Umgekehrt können viele Produkte überhaupt erst auf Märkten abgesetzt werden, wenn ein bestimmtes Mindest-Technologieniveau erreicht wurde. So machen ohne Autos weder Benzin noch Reifen Sinn.
- Erschließung neuer Absatzgebiete: Eine Alternative ist, das Produkt in Regionen abzusetzen, in denen es bislang noch nicht abgesetzt worden ist, d.h. den Markt räumlich auszudehnen. In den vergangenen zwei Jahrhunderten dehnten sich Märkte vom lokalen Tauschhandel über regionale und nationale Märkte aus und sind zunehmend globalisiert. Dieser räumliche Expansionsmechanismus erfolgt dabei nicht gleichmäßig. Welche Strategie und welchen Standort ein Unternehmen wählt, hängt von den Charakteristika und der Zugänglichkeit verschiedener Regionen ab, aber auch den spezifischen Anforderungen des Unternehmens. Eine Rolle können etwa das Bildungsniveau der Bevölkerung, das lokale Lohnniveau oder die staatliche Infrastruktur spielen. Die Folge ist eine räumliche (mittlerweile internationale) Arbeitsteilung (Massey/Meegan 1982, Cooke 1989): Die Menschen in zentralen Regionen – insbesondere in den „global cities“ (Sassen 1994) – haben wesentlich bessere Lebenschancen als die in peripheren Regionen (Wallerstein 1986), weshalb die (politischen Akteure in den) Regionen einen Standortwettbewerb durchführen. Aufgrund der starken Wechselwirkung zwischen (räumlicher) Marktexpansion und anderen gesellschaftlichen Bereichen sind hinsichtlich der Fragen der Ursachen, des Verlaufs und der sozialen und ökonomischen Folgen dieses Expansionsprozesses soziologische Markt- und Globalisierungsdiskurse eng miteinander verwoben.
Zusammengefasst haben Wettbewerbsstrategien von Unternehmen v.a. drei Folgen: Sie erhöhen potenziell soziale Ungleichheit, sie treiben die Globalisierung voran, und sie fördern Differenzierung. Wie Theorien der Pfadentwicklung unterstreichen, ist dieser Prozess – einmal in Gang gesetzt – wieder schwer aufzuhalten. Da verschiedene Phasen der Marktentwicklung nicht beliebig aufeinander folgen können, beeinflussen tendenziell frühere Entwicklungsstadien spätere (Arthur 1988, Windeler/Schubert 2007, Meyer/Schubert 2007). Um es in Nassehis (2012) Worten auszudrücken:
Funktionale Differenzierung ist die funktionale Lösung für das Komplexitätsproblem, das mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung bewältigt wird.
Das hört sich in der Theorie nun Alles sehr klar an, ist aber für viele Menschen sehr schwer vorzustellen, was das in der Praxis tatsächlich bedeutet. Was also heißt „Differenzierung“?
Dies möchte ich in den nächsten Tagen am Beispiel eines Lebensmittels – des Joghurts – illustrieren. Um immer differenziertere Kundenwünsche befriedigen und qualitativ hochwertigere Produkte zu immer geringeren Preisen anbieten zu können, spezialisieren sich Milchproduzenten seit dem 2. Weltkrieg immer stärker, z.B. auf die Joghurtproduktion. Zuvor hatten Menschen über Jahrtausende hinweg Milch zu Joghurt und joghurtähnlichen Produkten verarbeitet, ohne dabei die Produktionsweise grundsätzlich zu verändern. Sie produzierten den Joghurt primär zu Hause für den Eigenbedarf. Hauptproduktions- und -konsumgebiete waren die Balkanländer, der Nahe Osten und der indische Subkontinent. In Mitteleuropa aß man dagegen eher die mit dem Joghurt verwandte „saure Milch“, sonst waren Sauermilchprodukte weitgehend unbekannt.
So kam es zwischen den 1950ern und 1970ern zu einem Bruch auf dem Markt. Seitdem beobachten wir eine Differenzierung in dreifacher Hinsicht, die sich zunehmend beschleunigt:
- Die Zahl der Arbeitsschritte pro Produktionsstufe nimmt immer mehr zu. Gleichzeitig wird jede einzelne Produktionsstufe immer komplexer, so dass die moderne Joghurtproduktion mehr der Chemieproduktion als dem Prozess der Eigenproduktion im Haushalt gleicht.
- Die Zahl der Produktionsstufen wurde immer größer – die Produktionskette verlängert sich, und gleichzeitig nimmt die Zahl der Spezialisten zu, d.h. Unternehmen werden immer stärker in ein immer komplexer werdendes Netz von Interaktionen mit anderen Organisationen eingebunden – Konkurrenten, Zulieferern, Abnehmern usw. (Windeler 2001)
- Parallel dazu differenziert sich die Produktionskette räumlich – Globalisierung ist so gesehen eine Ausprägung der Differenzierung. Der Produktionsprozess verläuft in immer mehr verschiedenen Produktionsstandorten, die Transportwege werden immer länger. Der Produktionsprozess verläuft in immer mehr verschiedenen Produktionsstandorten, die Transportwege werden immer länger.
Diese einzelnen Prozesse werde ich in den nächsten Tagen etwas ausführlicher erläutern. Bleibt die Frage, ob es Grenzen der Differenzierung gibt. Vermutlich ja – soziale, natürliche und biologische Grundlagen, aber auch das ist eine komplexe Fragestellung …
Literatur
Arthur, Brian (1988): Self Reinforcing Mechanisms in Economics. In: Anderson, P. (Hrsg.) (1988): The Economy as an Evolving Complex System. Reading (MA): Addison-Wesley
Cooke, Philip (1989): Localities. London et al.: Unwin Hyman
Durkheim, Emile (1992): Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Massey, Doreen/Meegan, Richard (1982): The Anatomy of Job Loss. London/New York
Meyer, Uli/Schubert, Cornelius (2007): Integrating Path Dependency and Path Creation in a General Understanding of Path Constitution. In: STI Studies 3. 23-44
Offe, Klaus (1972): Die Struktur des kapitalistischen Staates. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Rammert, Werner (2008): Technik und Innovation. In: Maurer, Andrea (Hrsg.) (2008): Handbuch der Wirtschaftssoziologie. Wiesbaden: VS-Verlag. 291-320
Sassen, Saskia (1994): Cities in a World Economy. Thousand Oaks/London/Neu-Delhi: Pine Forge
Schumpeter, Joseph A. (1926): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. München: Duncker & Humblot
Wallerstein, Immanuel (1986): Das moderne Weltsystem. Frankfurta. M.: Syndikat
Windeler, Arnold (2001): Unternehmungsnetzwerke. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
Windeler, Arnold/Schubert, Cornelius (2007): Technologieentwicklung und Marktkonstitution. In: Beckert, Jens et al. (Hrsg.) (2007a): 217-234