Nicht nur der Erfolg der Firma Müller-Milch, auch der Erfolg der Privatmolkerei J. Bauer GmbH & Co. KG[1] lässt sich mit der neoklassischen Theorie nicht erklären – allerdings aus völlig anderen Gründen als bei Müller. Die Firma Bauer hat nämlich in den ersten hundert Jahren ihrer Firmengeschichte keine Werbung gemacht – sich also aus Perspektive der Lehren des modernen Marketing geweigert, direkt mit ihren Kunden zu kommunizieren und sie so mit Informationen zu versorgen. Dennoch war sie in den 1980ern einer der Marktführer auf dem Joghurt-Markt.
So war die Molkerei Ende der 1980er mit 18 % Marktanteil bei Fruchtjoghurt und 30 % Marktanteil bei Diätfruchtjoghurt Marktführer (Süddeutsche Zeitung, 07.11.1987) und konnte diesen Marktanteil bis Mitte der 1990er sogar noch auf 22 % steigern (Lebensmittel-Zeitung, 15.09.1995). Zwar sind Marktanteile des Unternehmens mittlerweile gesunken, aber auch 2004 betrug Bauers Marktanteil bei Fruchtjoghurt noch 12,5% und lag damit nur knapp hinter dem Marktführer Ehrmann (12,8% Marktanteil) (Jensen 2005). Entsprechend schreibt die Süddeutsche Zeitung (07.11.1987):
Die Firma Bauer muß ein Alptraum sein für alle Werber und Marketingstrategen. Als sei es das Selbstverständlichste im Wirtschaftsleben, ist man ohne „Hilfsmittel“ zum Marktführer avanciert. Es hat hundert Jahre gedauert, bis die ersten Anzeigen erschienen und man Pressevertretern die Fabriktore öffnete.
Das Erfolgsgeheimnis der Firma ist die hohe Produktqualität – guter Geschmack und fast keine Zusatzstoffe, und das bei geringem Preis. Hans-Joachim Bruch, ein Mitglied des Unternehmens, sagte hierzu in einem Interview mit der Lebensmittel-Zeitung (15.09.1995):
Wir waren die ersten, die keine Bindemittel verwendet haben, keine haltbarkeitsverlängernden Mittel eingesetzt haben und jetzt ein Sortiment durchgängig nur mit natürlichen Aromen (keine naturidentischen!) produzieren.
Das Produkt spricht damit sehr verschiedene Verbrauchertypen an: Durch den geringen Preis wird es attraktiv für die preisbewussten Esspraktiker. Da wenige Zusatzstoffe verwendet werden, ist es etwas für Natur-Fans, und durch den guten Geschmack ist es etwas für moderne Gourmets.
Nur – wie um Alles in der Welt wissen das die Kunden?
Kommunikation mit dem Kunden über Qualitätskonventionen
Die Firma hat, wie gesagt, sehr lange keine Werbung gemacht, um ihr Produkt anzupreisen, und gemeint ist damit nicht nur: Werbung in Printmedien, Radio, Fernsehen oder über Werbeschreiben. Auch die Möglichkeiten einer werbewirksamen Verpackung wurden nicht genutzt: Qualitativ hochwertiger Joghurt wird in Deutschland per traditioneller Konvention in Glasbehältern vertrieben (z.B. Landliebe), Standardware dagegen eher in Plastikbechern (z.B. „gut & billig“). Nun verwendet Bauer aber keine Glas-, sondern Plastikbehälter, signalisiert folglich, dass es sich „eigentlich“ um ein „billiges“ Produkt handele.
Warum das trotzdem Sinn macht und zu wirtschaftlichem Erfolg führt, lässt sich mit der letzte Woche diskutierten „Ökonomie der Konventionen“ erklären:
Wie ich am Beispiel des Milchmarktes erläutert hatte, richten Zulieferer, Produzenten und Handel die komplette Wertschöpfungskette an sog. Qualitätskonventionen aus, d.h. sie organisieren die Produktionskette als Ganzes, so dass das Produkt symbolisch aufgeladen wird. Die Idee ist, dass der Kunde zwar keinen direkten Kontakt zum Hersteller hat, er aber indirekt über diese Symbole signalisiert bekommt, um welche Art von Produkt es sich dabei handelt – und zwar über das Produkt selbst, und nicht über die Medien.
In der bisherigen Forschung zur „Ökonomie der Konventionen“ wurde v.a. regional organisierte, traditionell-handwerkliche Herstellung von standardisierter Massenproduktion in globalisierten Produzenten-Zulieferer-Netzwerken unterschieden. Das Beispiel „Bauer“ verweist darauf, dass auch die standardisierte Massenproduktion (denn die Molkerei betreibt ja Massenproduktion) differenziert ist, d.h. dass auch hier verschiedene Qualitätskonventionen existieren.
Konkret betreibt der Hersteller sehr wohl Marketing, nur auf völlig andere Weise, als man annehmen würde: Bauer verwendet kaum Zusatzstoffe, was man sieht, wenn man die gesetzlich vorgeschriebene Warenkennzeichnung[2] (sozusagen die „Packungsbeilage“) liest. Dazu muss man diese natürlich verstehen, aber wenn man das tut, sieht man sofort, dass es sich um ein (im Sinne der Naturbelassenheit) qualitativ hochwertiges Produkt handelt. Damit ist das Marketing und die Produktion der Firma primär ausgerichtet auf Natur-Fans, also auf jene Verbrauchern, die Warenkennzeichnungen nicht nur verstehen, sondern auch regemäßig lesen. Da es sich bei diesem Verbrauchertyp oft um Mütter mit Kleinkindern (oder generell: um Familien) handelt, ist hier das Geld oft knapp (zumindest, wenn die Familie ins Ernährer-Hausfrau-Modell zurückfällt, weil dann das Einkommen des Mannes mehrere Personen ernähren muss). Damit gehört es zur besonderen Konsumkompetenz der Käuferin, nicht mehr Geld als nötig für ein gutes Produkt auszugeben, und schon gar nicht, für (aus der Perspektive dieses Verbrauchertyps) irgendwelchen unnötigen Firlefanz wie Verpackung oder Werbung. Auch dieses Bedürfnis nach Kompetenzillustration spricht die Firma mit der Art ihrer Warenpräsentation und dem Preis an – wodurch das Produkt dann auch wiederum für die preisbewussten Esspraktiker attraktiv wird. Bei den moderne Gourmets spricht das Produkt für sich selbst, wenn sie es erst einmal gegessen haben, und die Chance, einmal bei einem Natur-Fan eingeladen und das Produkt aufgetischt zu bekommen oder es empfohlen zu bekommen, ist durchaus vorhanden …
Spezialisierung der Massenproduzenten
Allgemeiner gesprochen kann man sagen, dass sich auch die massenindustriell produzierenden Molkereien spezialisieren und versuchen, die gesamte Produktionskette symbolisch aufzuladen, um verschiedene Verbrauchertypen anzusprechen. Wie die Grafik illustriert, sind dabei Produkttyp, Molkereityp und Typ des Handelsunternehmens lose gekoppelt. Um das Jahr 2000 existierten vier Grundtypen von Molkereien, die dem Preiswettbewerb unterschiedlich stark ausgesetzt waren, unterschiedlich mit dem Strukturwandel auf dem Joghurtmarkt umgingen, unterschiedliche Zielgruppen hatten, unterschiedliche Joghurttypen herstellten und entsprechend unterschiedlich stark handlungsfähig waren.
Beim ersten Molkereityp handelt es sich um Genossenschaftsmolkereien. Diese entstanden aus Zusammenschlüssen der Bauern. Sie garantieren den Bauern die Abnahme ihrer Milch sowie Mindestpreise, können aber Preisdruck nur schlecht an die Bauern abgeben. Gleichzeitig versuchten sie, durch Massenproduktion konkurrenzfähig zu bleiben. Diese Strategie ging nicht auf: Die meisten Genossenschaftsmolkereien produzieren Handelsmarken und No-Name-Produkte, die in Discountern und Supermärkten vertrieben wurden. Die von Genossenschaftsmolkereien bevorzugt produzierte Joghurtsorte ist Naturjoghurt. Da es bei Naturjoghurts kaum Qualitätsunterschiede gibt und die Konsumenten in der Regel nicht wissen, welche Molkerei eine Handelsmarke produziert, sind diese Produkte austauschbar und sprechen insbesondere den preisbewussten Esspraktiker an. Entsprechend müssen die Genossenschaftsmolkereien dem Preisdruck des Handels meist nachgeben. Da sie den Preisdruck nicht an die Bauern weiter geben können, ist der Selektionsdruck bei diesen Molkereien enorm groß (d.h. es gehen hier besonders viele Molkereien in Konkurs).
Im Gegensatz zu den Genossenschaftsmolkereien produzieren die anderen Molkereitypen Markenprodukte: Die jeweiligen Verbraucher bevorzugen dieses – und nur dieses – Produkt. Bietet ein Supermarkt das Produkt nicht ein, wechseln die Verbraucher häufig lieber den Supermarkt, als auf ein anderes Produkt auszuweichen. Diese Molkereien haben also gegenüber dem Handel eine wesentlich stärkere Verhandlungsposition als die Genossenschaftsmolkereien. Allerdings unterscheiden sie sich in ihrer Markenstrategie:
Manche kleine Molkereien produzieren spezifisch für eine Region. Der typische Verbraucher kauft dieses Produkt; weil es das Flair der Heimat hat; weil diese Milchprodukte häufig Milch aus der ökologischen Landwirtschaft verwenden; oder weil sie aus Prinzip regionale Produkte verwenden. Das Produkt spricht damit gleichermaßen Natur-Fans und moderne Gourmets an.
Die letzten beiden Molkereitypen setzen auf Produktvariation und -innovation sowie auf die Erweiterung der Absatzmärkte mittels Internationalisierung. Entsprechend ist die Innovationsrate auf kaum einem Markt so hoch wie auf dem Joghurtmarkt: Kein Monat vergeht, in dem nicht eine neue „Ecke des Monats“ oder ein neuer „LC-Drink“ auf den Markt kommt. Diese letzten Molkereitypen unterscheiden sich lediglich in der Rechtsform: Privatmolkereien wie die Molkerei Alois Müller stehen multinationale Unternehmen wie Nestlé gegenüber, die nicht nur Milchprodukte herstellen. Aufgrund ihrer Markenstärke zwingen diese Großunternehmen den Handel häufig, neben ihren Verkaufsschlagern gleichzeitig weniger gut verkäufliche Produkte in die Regale zu stellen. Je nach Marketingstrategie sprechen sie verschiedene Verbrauchertypen (bis auf den preisbewussten Esspraktiker, der ja nicht bereit ist, für Qualität zu zahlen).
Lose Koppelung
Insgesamt sieht man, dass die verschiedenen Stufen der Produktionskette auf modernen Massenmärkten über Qualitätskonventionen lose miteinander gekoppelt sind, weshalb sich hier eine spezifische Dynamik ergeben kann.
Für die Hersteller ergibt sich die Schwierigkeit, dass sich das Verbraucherverhalten schneller und nach anderen Kriterien ändern kann als die Produktion. Das Problem ist, dass sich Molkereien nicht nur spezialisieren, um ihre Produktion besser auf Kundenbedürfnisse auszurichten, sondern es gibt auch produktionstechnische Gründe hierfür: Die Produktion etwa von stichfestem und gerührtem Joghurt, von Frucht- und Naturjoghurt unterscheiden sich grundlegend und benötigen einen jeweils eigenen Maschinenpark. Gleichzeitig ist der Aufbau von Beziehungen zu bestimmten Zulieferern notwendig und langwierig. Wenn eine Molkerei nun statt dem bisher hergestellten Joghurtprodukt eine Variante des Produkts, ein anderes Joghurtprodukt oder gar ein anderes Milchprodukt herstellen will, dauert dies eine gewisse Zeit, bis die Produktionsanlagen umgestellt sind, und verursacht erhebliche Kosten – und erfordert spezifisches Wissen.
Differenzierung und Spezialisierung entwickeln sich also nicht beliebig, sondern pfadabhängig: Hat sich eine Molkerei erst einmal für eine bestimmten Produktionsprozess entschieden, kann sie diesen relativ gut kontinuierlich verbessern. Da alle Stufen des Produktionsprozesses miteinander interagieren, ist es aber schwer, auch nur einzelne Teile der Anlage auszutauschen. Wegen der erheblichen Kosten ist ein Wechsel der Produktionstechnik fast unmöglich. Hat also eine Molkerei einmal eine „falsche“ Spezialisierungsentscheidung getroffen oder ändert sich das Verbraucherverhalten zu schnell, hat sie wegen der versunkenen Kosten fast keine Möglichkeit mehr zu einem Pfadwechsel – und ist sehr schnell vom Konkurs bedroht.
Literatur
Jensen, Sören (2005): Der Polterpatriarch. In: manager magazin. Quelle: http://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,346791,00.html am 11. Mai 2005
Anmerkungen
[1] Und nein – ich habe nichts mit der Firma zu tun – ich lege Wert auf das fehlende „e“ in meinem Nachnamen. J
[2] Die Gesetze zur Warenkennzeichnung schreiben vor, dass die folgenden sieben Angaben des Herstellers auf Packungen von Milchprodukten stehen müssen: (1) Verkehrsbezeichung (Joghurt, Trinkjoghurt, Fruchtjoghurt usw.), (2) Mengenangabe in Gramm, (3) Fettgehalt in Prozent Fett im Milchanteil, (4) Art der Wärmebehandlung, (5) Mindesthaltbarkeitsdatum, (6) Zutatenliste in absteigender Reihenfolge der Gewichtsanteile und (7) Name und Anschrift der Molkerei.
… man sollte natürlich wissen, dass natürliche Aromatoffe aus Schimmelpilzen auf Sägemehl bestehen und mit der Frucht nichts weiter gemein haben als den intensiven Geschmack…
Na, immerhin sind es natürliche Schimmelpilze!