Neulich in Bern

Die Schweiz gehört im Allgemeinen ebenso wie Deutschland nicht zu den Ländern mit einer ausgeprägten sozialen Mobilität. Auch ist Bern im Speziellen nicht bekannt für seine avantgardistischen Programme zur Förderung benachteiligter Sozialmilieus. Sondern hier wie dort begründen soziale Bewegungen Veränderungen vor Ort, bergen Gestaltungsoptionen, die mehr oder weniger aggressiv in die Tat umgesetzt werden, oft auch scheitern.

Es wundert daher nicht, dass sich auch im idyllischen Bern ein Transparent findet, das so oder ähnlich seit den Bildungsstreiks im Jahr 2009 an jeder schweizerischen oder deutschen Universitätsfassade hängen könnte:

Transparent

In Bern prangt es im lange umkämpften Kulturzentrum „Reitschule“ neben aktuellen Veranstaltungsplakaten und Bannern von politischen Gruppierungen. Es fungiert für diesen Beitrag als Fundstück auf einer Reise und regt an zur näheren Betrachtung mit aktuellem Bezug.

Was verrät der Slogan und wohin führt er? Hermeneutisch lässt sich ein Zugang finden. (Vgl. für die Methode: Oevermann diverses oder zum Einstieg: Wernet (2000): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Opladen)

„Reiche Eltern“ stehen in Gegensatz zu armen Eltern. Wann und für wen kommt dem Reichtum der Eltern eine Bedeutung zu? Es muss sich um eine Bedeutung für die Kinder handeln, weil andernfalls der Elternstatus keiner Erwähnung wert wäre. Im engeren Sinne des Wortes „reich“ handelt es sich um einen Besitz an Geld, Vermögen, Einkommen. In welchem Zusammenhang ist diese Art von Reichtum relevant für Kinder? Dann, wenn die Kinder von dem Zustand profitieren oder daran leiden. Ein Vorteil ist denkbar im Zusammenhang mit Fürsorge, Versorgung und Eröffnung von Chancen. Dann also, wenn wertvolle Güter und Erfahrungen (Bildung, Gesundheit, materielle Sicherheit und weitere …) mit Geld erworben werden müssen. Von Nachteil könnte der Besitz sein, wenn er Ausdruck einer Haltung wäre. Etwa in dem Sinne, dass Reichtum von wesentlicheren Werten ablenke, verblende, eine Konsumhaltung präge, die einer emotionalen Zuwendung im Wege stünde.

Im weiteren Wortsinn kann auch Reichtum an Beziehungen, kultureller Erfahrung, habitueller Selbstsicherheit, an Talenten oder vieles mehr gemeint sein, wenn man mit Bezug auf Bourdieu zum Beispiel an die verschiedenen Kapitalsorten denkt. Dann wäre die nachteilige Auslegung nicht mehr naheliegend. Es ließe sich noch direkter als oben vom Reichtum auf einen Vorteil schließen, der aus sozialer Vernetzung, aus reichhaltiger Erfahrung etc. erwächst. Eine Sonderbedingung wäre ein Reichtum an Scheiternserfahrungen, der in eine depressive Spirale führen könnte. Extrem: Eltern, die reichlich in Krisen Überforderung erlebt haben, sind nicht in der Lage, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern. Das Extrem zeigt, wie künstlich diese Lesart ist. Man würde eine solche Aussageabsicht nicht mit der Formulierung „reiche Eltern“ beginnen. In dieser Diskrepanz wird die Konnotation der Vorteilhaftigkeit des Reichtums deutlich. Das macht nun im Umkehrschluss auch die vorteilhafte Deutung des Reichtums im engeren Wortsinn schlüssiger als die Annahme einer Nachteilsformulierung.

Was ist bisher gewonnen? „Reiche Eltern“ bringen ihren Kindern Vorteile, unabhängig davon, welcher Art dieser Besitz ist.

Wie könnte daher der Satz vor dem Hintergrund dieser Überlegungen weitergehen?

  1. Die Vorteile könnten nun benannt werden im Sinne von:
    1. „Reiche Eltern können ihren Kindern mehr Museumsbesuche ermöglichen als arme.“ – Lesart mit Bezug auf die Förderung der Entfaltungsbedingungen von Kindern.
    2. „Reiche Eltern können ihren Kindern mehr Nachhilfeunterricht bezahlen als arme“. – Lesart mit Bezug auf direkte Kosten von Bildung. Eine Schwäche (z.B. in Fremdsprachen) kann ausgeglichen werden, nicht aus eigener Kraft des Kindes, sondern weil die Eltern Geld besitzen, die nötige Hilfe zu bezahlen,
    3. Ein weiterer Vorteil könnte lauten: „Reiche Eltern kümmern sich stärker um ihre Kinder als arme.“ – Lesart mit Bezug auf den weiteren Wortsinn von Reichtum etwa als Haltung oder Fähigkeit.
  2. Eine weitere Fortsetzungsmöglichkeit ist, daraus eine Konsequenz für den Zustand der Eltern selbst zu ziehen: „Reiche Eltern sind glücklicher als arme.“ Die für den Sinnzusammenhang nötige Relevanz für die Kinder wäre dann ein indirekter Bezug vom Glück der Eltern zum Vorteil für ihre Kinder. Langfassung: „Reiche Eltern sind glücklicher und können deshalb besser auf die Bedürfnisse und Gefühlslagen ihrer Kindern eingehen, lassen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen, gehen gelassener mit Krisen um, sind nicht so schnell überfordert.“ – Diese Lesart deckt sich in der Konsequenz mit 1C, gibt aber mehr Anhaltspunkte für die Wirkungsfolge. Was sich in der obigen Lesart wie ein populäres Vorurteilt anhört, wird hier ausführlicher begründet: Nicht das Geld an sich nützt den Kindern, sondern seine positiven Folgen (Abwesenheit von Existenzangst z.B.) oder direkt der Reichtum an Erfahrung und habitueller Stärke.

Tatsächlich geht der Slogan aber weiter mit „… für Alle“. Die grammatische Konstruktion macht aus dem Beginn nun eine Forderung, weil kein vollständiger Satz folgt, es fehlt ein Verb. Damit treffen keine der in Erwägung gezogenen Lesarten zu. Vergebliche Interpretationsmühe? Nicht, wenn man die Reaktion des Lesers genauer verstehen will: Man lacht. Der Witz steckt gerade darin, dass die Forderung entweder unmöglich oder extrem herausfordernd ist. Unmöglich einzulösen ist sie, wenn mit dem geforderten Reichtum Haltungen, Fähigkeiten, Talente oder Erfahrungen der Eltern gemeint sind – also der Reichtum im weiteren Wortsinn. Denn diese lassen sich nicht fordern. Extrem ist sie, wenn finanzieller Reichtum gemeint ist, denn ihre Einlösung käme einer Revolution der Besitzverhältnisse gleich. Darin wirkt sie so überzogen, dass auch in dieser Variante die Unmöglichkeit dem Witz unterliegt.

Wohin zielt der Slogan dann also?

Es ist die Unmöglichkeit, die hier zum Gegenstand der gesellschaftlichen Kritik gemacht wird. Unabhängig davon, in welchem gesellschaftspolitischen Teilgebiet diese Forderung erhoben wird bzw. wurde – also mit Bezug auf den Bildungsstreik bzw. das Bildungsthema oder zum Beispiel auf die gesundheitliche Unversehrtheit von Kindern oder auf die Verbesserung der Betreuungseinrichtungen für unter 3-Jährige – es wird zum Ausdruck gebracht, dass die bisherige Lage derart unzureichend ist, so dass eine Verbesserung nur unter der Bereitschaft revolutionärer Veränderungen zu erreichen ist.

Für die Veränderungsrichtung ist Reichtum jedoch wesentlich: Es muss eine Lage hergestellt werden, die gleichbedeutend ist mit einer Situation, in der alle Kinder (Jugendlichen, junge Erwachsene) reiche Eltern haben. Worin besteht sie, woran ist sie zu erkennen? Wenn „Alle“ reiche Eltern haben, dann hat niemand existenzielle Sorgen (Lesart 2 oben), es gibt hinreichend finanzielle Mittel für direkte oder indirekte Förderung der Entfaltungsbedingungen der Kinder (Lesarten 1A und 1B oben).

Der politisch nächste Schritt, der auf Spruchbändern keinen Platz hat, sondern auf Flugblättern und in Parteiprogrammen ausformuliert würde, wäre dann eine Antwort auf die Frage: Auf welchem Weg kann eine solche Lage hergestellt werden, die einen Reichtum aller Eltern simuliert? Mit dem oben eröffneten Fächer an Lesarten ist im weiteren Wortsinn von Reichtum auch die Frage impliziert, welche Erfahrungsmöglichkeiten an die Stelle einer habituellen Stärke der Eltern (Glück, Gelassenheit etc.) treten müssen, wenn die biologischen oder sozialen Eltern diesen Reichtum nicht aufweisen.

Einen solchen kreativen Zugang, wie auf dem Spruchband verewigt, wünscht man sich im gegenwärtigen bundesdeutschen Wahlkampf. Denn die Losung könnte kaum besser passen zur Dominanz des Wahlkampfthemas „soziale Gerechtigkeit“, die Markus Dettmer und Cornelia Schmergal jüngst in der Zeitschrift Spiegel konstatiert haben (Heft 33/2013). Ihnen zufolge wird das Stichwort 60 mal im Programm der Grünen genannt, gefolgt von 40 Nennungen bei der SPD, den Linken und auch der CDU.

Das Thema ist heiß, es erregt die Gemüter und liefert auch im wohlstandsgesicherten Deutschland Zündstoff für Auseinandersetzungen um Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Befeuert wurde diese Zuspitzung durch die Umformulierungen des Entwurfs zum neusten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, die in der medialen Öffentlichkeit skandalisiert wurden und auch in der wissenschaftlichen Diskussion Bedeutung erlangt haben (vgl. z.B. Sozialmagazin, Heft 3-4/2013).

Was aber genau zu verstehen ist unter sozialer Gerechtigkeit und vor allem, wie diese dann zu stärken sei, daran könnte sich ein interessanter und wegweisender Disput entzünden, wenn nicht die Protagonisten aller Couleur so vorsichtig und allgemein formulieren würden wie am Sonntag im sogenannten Duell der Kanzlerkandidaten. Was in der regionalen Presse als Erfolg eingeschätzt wurde (z.B. in der Westfälischen Rundschau des östlichen Ruhrgebiets), lässt sich auch als langweilige Abfrage der Wahlprogrammkapitel beider Parteien sehen. Langweilig vor allem, weil ein Mantra der letzten Jahrzehnte wieder bemüht wird: Beide Seiten – christdemokratisch ebenso wie sozialdemokratisch – sehen in der Arbeit (gemeint ist Erwerbsarbeit) den Schlüssel zur Lösung der durchaus unterschiedlich gedeuteten Problemlagen. Für die eine ist die Erhöhung der Erwerbsarbeitsplätze der Grund für die wirtschaftlich gute Stellung Deutschlands in Europa, für den anderen ist der gespaltene Arbeitsmarkt zwischen Gewinnern und Verlierern gleichzusetzen mit einer gespaltenen Gesellschaft. Da ist sie wieder: die Arbeitsgesellschaft als Kern des Selbstverständnisses aus Sicht der obersten Volksvertreter.

Wenn aufklärender Journalismus im TV mehr nicht zu bieten hat, als diese Mantren zu aktivieren, dann sind vielleicht die Veranstaltungen mit leibhaftigen Politikern und Aktivisten klärender. Von diesen gibt es vor der Wahl eine Menge, die hier auch weiter Thema sein sollen.

Denn „soziale Gerechtigkeit“ ist nicht nur ein brisantes Stichwort im Wahlkampf, sondern auch für Forschung und Lehre bedeutsam, jedenfalls im Studium der Sozialen Arbeit. Also wird hier weiter auf dieser „Strasse“ gesucht und argumentiert. Eines der Ziele könnte dabei sein, eine genauere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln, die sich in der politischen Auseinandersetzung als scharf genug erweist, um Umsetzungswege zu überprüfen, ihre Angemessenheit an begründbaren Zielvorstellungen zu messen und Konsequenzen einschätzen zu können.

Strasse

Diese Gasse in der Berner Altstadt erhielt ihren Namen zu einer Zeit, als offenbar Gerechtigkeit und Recht in eins gesetzt wurden, denn dort befand sich der mittelalterliche Gerichtsort der Stadt. In diesem Beitrag soll sie symbolisieren, wo entlang die Blogreise gehen könnte, zumindest für den Anfang. Und weil das Gerechtigkeitsthema am unteren Ende der Existenzsicherung auch mit Armut zu tun hat, mag im Vorgriff ein Link gestattet sein auf eine Reportage, die diese Woche einige Male auf Euronews zu sehen ist: http://de.euronews.com/2013/09/02/armes-deutschland/

2 Gedanken zu „Neulich in Bern“

  1. Ich finde es immer sehr anregend, wenn autorinnen ihre hermeneutische vorgehensweise transparent machen – das eröffnet neue möglichkeiten für die eigene arbeit, sowohl was die präsentation eigener ergebnisse als auch die ausdeutung von textmaterial angeht. danke! dass der beitrag dann ausufert und sich etwas zu gewollt den deutschen wahlkampf vornimmt … geschenkt!

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