Ich soll streiken?

Zu Verantwortung und alten Stühlen

Ein Gastbeitrag von Lars Frers, Telemark

 

Information – Warnung zu möglichem Streik

[…] Sollte ein Streik stattfinden, so würde das folgende Konsequenzen haben:
* Unterricht und Sprechstunden fallen für die Studierenden aus, deren Dozierende im Streik sind.
* Mündliche und schriftliche Prüfungen fallen aus, wenn die verantwortlichen Dozierenden im Streik sind.
* Dozierende im Streik können keine Fragen zu Prüfungen beantworten. Sollte dies Auswirkungen auf die Studierenden haben, so wird dies im Nachhinein behandelt.
* Dozierende im Streik können keine Benotungsaufgaben übernehmen. Die Benotung  verspätet sich deshalb und wird nach dem Streik wieder aufgenommen. […]

Andere Mitarbeitende sollen keine Arbeitsaufgaben von streikenden Mitarbeitenden übernehmen. Statt dessen müssen Aufgaben später neu priorisiert werden. […]

Eine E-Mail mit diesem Inhalt, hier in meiner Übersetzung aus dem norwegischen Original, tauchte vor einigen Tagen in meinem Posteingang auf. Ich fühlte mich regelrecht betroffen und musste die E-Mail mehrfach durchgehen. Ich soll streiken? Und das hat all diese und noch eine ganze Reihe anderer Konsequenzen? Ein Streik an der Uni, durchgeführt von Dozierenden und nicht von Studierenden, mit ernsthaften und damit auch für viele unerwünschten Auswirkungen? Ja. Das ist möglich.

Hier im University College of Southeast Norway sind nach Auskunft eines lokalen Gewerkschaftsvertreters über 70 Prozent der Angestellten gewerkschaftlich organisiert. Das ist keine Ausnahme und an anderen Institutionen des norwegischen Universitäts- und Hochschulsektors ähnlich. Dies gibt den Gewerkschaften ein aus deutscher Perspektive kaum nachvollziehbares Gewicht – und zwar nicht nur in offiziellen Verhandlungen zu Arbeitszeit, Gehältern und rechtlichen Fragen, sondern auch in Bezug auf das Erleben des akademischen Alltags. Auch hier im Lande gab es ein Wachstum befristeter Beschäftigungsverhältnisse in den letzten Jahrzehnten.[1] Auch hier gibt es mittlerweile entsprechende politische Initiativen, diese Prozesse umzukehren und die wissenschaftliche Laufbahn wieder planbarer zu machen. Es ist also nicht alles rosig. Der Trend zu Finanzierung des Regelbetriebs durch Drittmittel beispielsweise ist hier wie nahezu überall spürbar und für alle Nachrückenden im Wissenschaftsbetrieb ein ständiger Begleiter im Alltag. „Wir“ wissen alle, dass sich die Welt der Wissenschaft geändert hat, halten fast wie selbstverständlich Ausschau nach nationalen und internationalen Ausschreibungen und fallen vor der Goldenen EU auf die Knie, in der Hoffnung, einen Blick auf den ach so fernen Horizont 2020 zu erhaschen.

Die Verantwortung dafür liegt, wie auch schon in vorigen Beiträgen aus der Initiative beschrieben, bei jedem von uns allein. „Wir müssen nur wollen“, wie es im gleichnamigen Lied heißt. Es ist egal, welche Herkunft „wir“ haben, welche Netzwerke uns an diesen oder jenen Ort verfrachtet haben, ob es uns leicht fällt, mit Unbekannten Kontakt aufzunehmen – wollen müssen wir alle alleine. Wer nicht will, ist draußen. Und wer will, muss wollen und zwar wirklich, mit Haut und Haar. Denn ein Herumlavieren ist nicht möglich und gnadenlose Arbeitsethik erscheint als notwendige Voraussetzung, ohne die nichts geht. So schreibt beispielsweise Carol Rambo selbst in einer kritischen Auseinandersetzung mit der akademischen Welt über ein Vorbild: „This person is exceedingly creative, has an indomitable work ethic, the best ‘people skills’ of perhaps anyone I know personally, and a high level of emotional intelligence.“ (Rambo 2016: 13-14) Es reicht nicht, außerordentlich kreativ zu sein, es reicht nicht, herausragend im Umgang mit Anderen zu sein. Die nicht nieder zu zwingende Arbeitsethik erst macht den guten Menschen zum/zur guten Wissenschaftler*in. Dieser Druck ist auch hier spürbar, aber diesem Druck begegnet Widerstand. Dieser Widerstand ist einerseits gewerkschaftlich organisiert, aber andererseits auch alltagsweltlich erfahrbar: Man soll nicht zu viel arbeiten. Manchmal erlebe ich diese Mentalität als regelrecht absurd. Wie kann es sein, dass Flure um 15:30 Uhr schon fast leer sind? Stempeln sich die Leute hier innerlich ein und aus? Wir sind doch keine Fabrikarbeiter*innen? Ich arbeite jetzt bald im vierten Jahr auf einer festen Stelle hier und ich hatte keine einzige offizielle instituts- oder fakultätsinterne Besprechung, die nicht um 17 Uhr vorbei gewesen wäre. Die Besprechungen, die zwischen 16 und 17 Uhr aufgehört haben, kann ich an einer Hand abzählen. Wollen die Leute nicht arbeiten? Nein, so nicht. Sie arbeiten gerne. Wie sie sollen. Sie arbeiten aber nicht wie sie gerade noch können – ohne Familienleben, ohne freiwilliges Engagement außerhalb der Universität, jedes Zeitfenster nutzend, mit Ausnahme der Stunden, die notwendig sind, um die angeschlagene körperliche und geistige Gesundheit einigermaßen aufrecht zu erhalten. Das weiß ich. Aber so bin ich nicht in das akademische Leben sozialisiert worden. Die müssen doch wollen. Die müssen doch mehr wollen!

Sich und die eigene akademische Arbeit nicht alleine zu verantworten ist in gewisser Weise kaum fassbar. Es ist genauso irritierend wie entlastend. Vor diesem Hintergrund erscheint der geringe Organisationsgrad in der deutschen Wissenschaft verständlich. Abstrakt weiß ich es individuell besser. Ja, ich engagiere mich schließlich dann und wann für genau diese Entlastung, für diese Abgabe von Verantwortung. Aber ein Teil von mir hat gelernt, anders zu fühlen. Ich muss ja nur wollen.

Um zusammenzufassen: wie von Peter Ullrich beschrieben gibt es ein bis zum Zerreißen gedehntes Spannungsfeld, dass sich unter der Überschrift „Konfliktfähigkeit und Anspruchsniveaus – Herausforderungen in der Organisation des wissenschaftlichen Prekariats” treffend analysieren lässt. Aus meiner Sicht als akademischer Emigrant, den es in ein Land mit hohem gewerkschaftlichem Organisationsgrad verschlagen hat, zeigt sich dies in für mich überraschender Weise. Einerseits wird die Verinnerlichung von Verantwortung verteilt und so externalisiert. Die soziale und psychische Belastung für die Einzelnen ist somit geringer und man kann Abende damit verbringen, Ideen zu entwickeln, anstatt sich Sorgen zu machen. Andererseits ermöglicht diese Verteilung von Verantwortung auch Professionalisierungen. Dadurch dass ungefähr drei Viertel meiner Kolleg*innen Gewerkschaftsmitglieder sind, dass sich dort jemand um mich kümmert, ja sogar Gehaltsverhandlungen an meiner statt führt, werden Hierarchie- und Interesseunterschiede und die dazugehörigen Konflikte in eine organisierte Form überführt, die sowohl die Leitungsebene als auch mich selbst vor einer Vermischung von Person und Funktion schützt.


Eine ähnliche Wirkung – also die Trennung von persönlichem Zusammenarbeiten und Leiten bzw. Überwachen – wird auch durch die Zentralisierung von Leitungsfunktionen auf Institutsebene erzielt. Im Unterschied zu den eindeutig feudalen Verhältnissen im Lehrstuhlsystem, sind die Verhältnisse in Departmentsystem eher bürokratisch. Das macht einige Wege länger und kann seine eigenen kafkaesken Effekte haben, meine bisherigen Erfahrungen mit Departmentstrukturen sowohl im nordischen als auch im angloamerikanischen Raum machen deutlich, dass der Grad des individuellen Ausgeliefertseins von nachrückenden Wissenschaftler*innen geringer ist. Dieser Effekt wird durch die verbreitete und oftmals vorgeschriebene externe Begutachtung von Masterarbeiten und Dissertationen noch verstärkt und erzeugt so Puffer, die in den direkten Abhängigkeitsverhältnissen des Lehrstuhlsystems fehlen. Auch hier gibt es natürlich persönliche und fachliche Konflikte, die sich immer wieder vermengen. Aber die Auswirkungen insbesondere für Nachrückende sind in der Regel weniger dramatisch und lassen sich leichter abfedern. Soweit ich das beurteilen kann, haben Graduiertenkollegs und -schulen in Deutschland zu ähnlichen, positiven Effekten geführt. Aber dort gibt es wiederum ein Problem, das aus der Gleichzeitigkeit von organisierter Promotion in Programmen und der Existenz des wissenschaftlichen Mittelbaus im Lehrstuhlsystem ergibt: Wer im Programm und gemeinsam mit anderen promoviert hat besseren Zugang zu gemeinschaftlichen Ressourcen und ist zumindest in gewissem Grad weniger ausgeliefert. Gleichzeitig aber gibt es auch weniger feudal-professorale Verantwortung für die Schaffung eines Karriereanschlusses über informelle Kontakte der Doktoreltern nach der Promotion oder Postdoc Zeit.

In Deutschland existieren zwei grundsätzlich verschiedene Strukturen parallel. Eine davon stammt aus dem Mittelalter. Zieht man noch andere Aspekte des departmentalen Systems mit in Betracht (Tenure Track, größere wissenschaftliche Selbstständigkeit im Verhältnis zu Promovierten im befristeten Mittelbau, Entlastung von Professuren in Bezug auf Aufgaben in Ökonomie und Personalleitung, die eigentlich von einem professionellen Management statt von zeitlich überforderten Professor*innen durchgeführt werden könnten, usw.), so erscheint mir die Beschränktheit und Machtversessenheit der etablierten deutschen Lehrstuhlinhaber*innen und die Unwissenheit der politischen Eliten sowie deren Angst vor professoralem bzw. universitärem Widerstand gegen Privilegienabbau als Erklärung der fortwährenden Existenz des Lehrstuhlsystems.

 

Vorschläge für Hashtags zum Weiterdiskutieren auf Twitter und Facebook: #SozBlog #GuteArbeit #GAidW #PrekäreWissenschaft #Exzellenzinitiative

 

Lars Frers, Dr. phil., ist Professor für Gesellschaftswissenschaften am University College of Southeast Norway (USN). Frers hat Erfahrungen aus der Institutsleitung und als Mitglied des Forschungskomitees des USN. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Methoden, Raum-Materialität-Mobilität, Sinn(e) und soziale Kontrolle

 

[1]

Wobei hier die sogenannte Vierjahresregel (Forkersforbundet https://www.forskerforbundet.no/Documents/faktaark/Faktaark_2013-04_Fireårsregel_stat.pdf) gilt, nach deren Ablauf Angestellte ein auch faktisch einklagbares Recht auf feste Anstellung haben, so das Kettenverträge innerhalb einer Institution sich nicht in ähnlicher Weise verlängern können wie in Deutschland, insbesondere weil Postdoc und Promotionsstellen in der Regel mitzählen.

 

Literatur

Rambo, Carol. 2016. “Strange accounts : Applying for the department chair position and writing threats and secrets “in play”.” Journal of Contemporary Ethnography. 45 (1):3-33.

Autor: Initiative "Für Gute Arbeit in der Wissenschaft"

Im Sommer 2014 haben sich Soziologinnen und Soziologen zusammengefunden, um sich für “Gute Arbeit in der Wissenschaft” zu engagieren. Es entstand ein Offener Brief an die DGS, in dem die Fachgesellschaft aufgefordert wurde, sich mit den Beschäftigungsbedingungen im eigenen Fach auseinander- und für gewisse Mindeststandards guter Arbeit einzusetzen sowie diese in ihren Ethikkodex aufzunehmen. Ein weiteres zentrales Anliegen der Initiative ist es, die Mitbestimmung des Mittelbaus in den Gremien der DGS zu stärken. Die Anliegen der Initiative werden derzeit in der DGS verhandelt, im Rahmen des nächsten DGS-Kongresses organisiert die Initiative die erste Mittelbauversammlung der DGS. Website der Initiative

Ein Gedanke zu „Ich soll streiken?“

  1. Besonders interessant am Artikel finde ich die Schilderung des persönlichen Spannungsfelds zwischen „Konfliktfähigkeit und Anspruchsniveaus“. Unsere Leistungsgesellschaft begünstigt sicher zusätzlich eine Erhöhung des persönlichen Anspruchsniveaus. Am Ende muss es natürlich jeder für sich selbst entscheiden, ich finde jedoch auch Wissenschaftler dürfen sich trauen zu streiken und sich Konfliktfähigkeit erlauben. Denn die Alternative bedeutet vielleicht zunehmende Frustration oder Aufreibung im vorhandenen Spannungsfeld, womit langfristig auch keinem geholfen ist.

Kommentare sind geschlossen.