Als der Ost-Berliner Philosoph Peter Ruben Anfang der 1980er Jahre zunächst unter Revisionismus-Verdacht und schließlich in ein SED-Parteiausschlussverfahren gerät, wendet er sich mit einem Artikel an die Deutsche Zeitschrift für Philosophie, der den Titel „Das Arbeitskonzept und die materialistische Dialektik. Bemerkungen zu einem Meinungsstreit“ trägt. Diese Verteidigung gegen die Vorwürfe seiner wissenschaftlichen Gegner sollte vor dem Untergang der DDR nicht mehr erscheinen. Über die näheren Beweggründe dieser Zensur äußert sich schließlich Manfred Buhr, Leiter des Zentralinstituts für Philosophie in Ost-Berlin in einem internen Briefwechsel: Ruben verschiebe die „Angelegenheit“ und mache aus der Sache einen „Meinungsstreit“. Unabhängig davon, dass die Veröffentlichung der Ruben-Replik einer von Buhr wohl insgeheim befürchteten Blamage der DDR-Philosophie gleichgekommen wäre, ist diese Aussage auch deshalb entlarvend, weil sie veranschaulicht, dass es in der Causa Ruben – einem der letzten „Schauprozesse“ in der DDR – gerade nicht um wissenschaftliche, sondern um politische Fragen ging. Ruben hatte sich eingemischt und seine Kompetenzen als Mitarbeiter der Abteilung „dialektischer Materialismus“ weit überschritten, indem er etwa nach wissenschaftlichen Kooperationen mit Ökonomen oder Kommunikationswissenschaftlern suchte, damit aber das dogmatische Schema materialistischer Weltanschauung sowie die Arbeitsteilung am Zentralinstitut unterminiert. Schmerzlich zu Bewusstsein kam dies der DDR-Philosophie, als Hans Jörg Sandkühler im Westen eine Sammlung von Aufsätzen Rubens („Arbeit und Dialektik“) herausgab, aus deren Zusammenhang die Entwicklung einer eigenständigen Konzeption objektiver Dialektik erkennbar wurde. Der einerseits um seine wissenschaftliche Karriere besorgte, andererseits mit großen politischen Realitätssinn um die Verhältnisse in der DDR ausgestattete Manfred Buhr wusste um die Brisanz von Rubens mit der einschlägigen marxistisch-leninistischen Lehrbuchliteratur nicht mehr zu bändigenden Denken, dem in der Folge klare objektive Grenzen gesetzt wurden: Ruben wurde mit Reise- und Publikationsverbot belegt und damit als öffentlicher Philosoph in der DDR erledigt.
Was hat diese Geschichte aus der Wissenschaft eines nahen und doch so fernen Staates mit dem 39. Kongress der deutschen Gesellschaft für Soziologie zu tun? Blickt man auf die Beiträge der Eröffnungsveranstaltung in der Göttinger Lokhalle, so ließe sie sich möglicherweise als eine erhellende Parabel auf die Probleme lesen, mit denen sich die Soziologie heutzutage herumschlägt.
Der geringste Punkt ist in diesem Zusammenhang jene Marginalisierungserfahrung, die Ruben nach der „Wende“ durchmachen musste und die insbesondere Bettina Gaus in ihrem Hauptvortrag über das Erstarken einer neuen Rechten insbesondere – aber nicht nur – in Ostdeutschland ansprach: Die Aufhebung des Publikationsverbots bezahlte Ruben (und mit ihm viele andere DDR-WissenschaftlerInnen) mit dem Verlust seiner beruflichen Stellung. War er in den letzten Jahren der DDR nach einer Intervention vieler westdeutscher linker WissenschaftlerInnen wenigstens noch materiell abgesichert, stand in seinen letzten Berufsjahren die Arbeitslosigkeit – ein Umstand, der jedoch keineswegs für Verbitterung sorgte: Vielmehr machte sich Ruben in den folgenden Jahren um die Erinnerung an jene DDR-Philosophie verdient, mit der er so häufig über Kreuz lag.
Ein wichtiger Aspekt ist hingegen die in dem Parteiausschlussverfahren nicht geführte Auseinandersetzung, ob es sich bei der Causa Ruben denn um einen wissenschaftlich zu begründenden Meinungsstreit oder eine politische Frage handele. Unter den besonderen gesellschaftlichen Bedingungen war den WissenschaftlerInnen in der DDR bewusst, dass das, was sie taten und schrieben immer zuallererst eine politische Relevanz hatte: Die Frage nach materialistischen Dialektik hatte den Status einer Staatsräson und konnte insofern niemals auf einen bloßen Meinungsstreit innerhalb einer „scientific community“ heruntergebrochen werden. Unter den Bedingungen der westdeutschen Hochschulautonomie, die den DDR-Universitäten nach 1989 selbstverständlich übergestülpt werden sollte, verkehrt sich diese Priorität selbstverständlich. Nicht nur Soziologinnen und Soziologen haben heute den Eindruck, dass das, was sie sagen und schreiben zuallererst an die unmittelbare Kollegenschaft adressiert ist. Dieser Umstand sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich auch auf dem Boden der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ agierende FachwissenschaftlerInnen keineswegs aussuchen können, ob sie unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus, den Helmut Schelsky einst als eine „wissenschaftlich-technische Zivilisation“ bezeichnet hat, wissenschaftlich oder politisch reden. Auf diesen Punkt hat der Soziologe Ulrich Beck bereits in seiner Mitte der siebziger Jahre erschienenen Dissertation „Objektivität und Normativität“ verwiesen: Wissenschaftliche Sachaussagen verwandeln sich – so Beck – im politischen Raum in normative Wertaussagen, weil sie ganz unabhängig von der Intention ihrer wissenschaftlichen Urheber als solche verstanden werden. Dies wirft für Soziologinnen und Soziologen auch in prinzipiell demokratisch verfassten Gemeinwesen die Schwierigkeit auf, dass sich Vokabulare notwendig vermischen, eine öffentliche Stellungnahme im Sinne einer „reinen“ Soziologie also nicht möglich ist. Es erscheint insofern konsequent und folgerichtig, dass Armin Nassehi seinen „Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit“ in Zeiten, in denen auch die Wissenschaften immer mehr in politische Turbulenzen geraten, Ulrich Beck gewidmet hat.
Ein dritter Punkt, für den sich die Causa Ruben als erhellend erweisen könnte, betrifft die Konkurrenz, der sich die Deutsche Gesellschaft für Soziologie durch die Gründung der Mannheimer „Akademie“ seit einiger Zeit ausgesetzt ist. Aktuell wird diese Diskussion von der DGS als eine Alternative zwischen Theorienpluralismus und Methodenmonismus geführt. Die DGS-Vorsitzende Nicole Burzan hat in ihrem akademischen Eröffnungsvortrag einen guten Überblick über den Stand der Diskussion in der Fachdisziplin gegeben und die wissenschaftstheoretischen sowie forschungspraktischen Argumente für diese Positionen durchdekliniert. Zugleich war aber auch dieser Vortrag Ausdruck einer insgesamt verfahrenen Situation des Faches, in der sich der gordische Knoten der widersprüchlichen disziplinären Identität der Soziologie im schlechtesten Fall „wissenschaftspolitisch“ durch die Neuberufungen der nächsten Jahre lösen könnte – dann allerdings sicherlich zu Lasten der von der DGS angestrebten Pluralität des Faches. Burzans Verweis auf die Theorienvergleichsdebatte der siebziger Jahre zeigt überdies eine Wiederholung der Debatten in bundesrepublikanischen Soziologie seit den fünfziger Jahren – angefangen vom eindeutig politisch gemeinten „Bürgerkrieg“ zwischen „Remigranten“ und „Dabeigewesenen“ bis hin zum nur unzureichend ausgetragenen Meinungsstreit zwischen „positivistischer“ und „dialektischer“ Sozialwissenschaft.
Die Beiträge, die Peter Ruben in den späten siebziger Jahren insbesondere in der Westberliner Zeitschrift Sozialistische Politik (SOPO) veröffentlichte, verdeutlichen, dass er diese Diskussionen im Westen nicht nur in groben Linien wahrgenommen, sondern in seinem Programm dialektischer Philosophie und Wissenschaftstheorie hierfür bereits Lösungsvorschläge erarbeitet hat. Dass diese Vorschläge notwendig an die DDR-Diskussion und die dort geführte Debatte um das Verhältnis Analytik und Dialektik gebunden bleiben, haben einen Abbruch dieser Debatten auch im Westen mitbegünstigt. Ein Programm dialektischer Philosophie, in dem nicht nur Hegel mit Marx, sondern auch Marx mit Husserl und Husserl mit Frege überholt wurde – und zwar ohne sie jeweils abzuhängen –, war in der DDR schlicht politisch nicht darstellbar. Ob Ruben selbst mit diesem Programm einen gordischen Knoten durchschlagen hat, ist insofern nie diskutiert worden. Was aus heutiger Sicht bleibt, sind eine Fülle von wissenschaftsphilosophischen und -theoretischen Überlegungen, in denen sich ein bisher in seinen Konsequenzen für die Sozialwissenschaften noch unzureichend durchdachtes praxistheoretisches Konzept von „Wissenschaft als allgemeine Arbeit“ (so der Titel eines Aufsatzes in der SOPO) herauskristallisiert. Nicht nur weil Ruben sich weigerte, diese Konzeption in die von seinen ärgsten philosophischen Konkurrenten vertretenen Alternativen „Systemdenken“ (Georg Klaus) bzw. „positive Wissenschaft“ (Herbert Hörz) aufzulösen, ließe sich hier etwas über den auf dem Feld der Wissenschaftssoziologie insbesondere von den „Science-and-Technology-Studies“ wieder ins Spiel gebrachten Praxisbegriff lernen – und zwar ohne diesen zu einer „black box“ naturwissenschaftlichen Arbeitens zu verdichten oder im Rahmen von zeitgenössischen Systemtheorien oder Rational Choise-Konzeptionen aufgehen zu lassen.
Möglicherweise bieten die zeitgenössischen Fragen der Soziologie also eine Gelegenheit, sich vom Denken Peter Rubens überholen zu lassen ohne abgehängt zu werden. Mag es in einem für uns historisch und geistig weit entfernten „politischen System“ entstanden sein, so ist sein Werk nicht mehr als einen Mausklick von uns entfernt: http://www.peter-ruben.de/