Letzte Woche war ich zu Vorträgen bei einem Juristenverein und bei einem Rotarier-Club eingeladen: die Demokratie, die Korruption, die Zukunft. Eine der Erfahrungen, die jeder macht, der zuweilen einen Vortrag für ein allgemeineres Publikum hält (aber im Grunde gibt es ähnliche Erfahrungen durchaus auch in engeren wissenschaftlichen Kontexten): Man erzählt dies oder das über die Gesellschaft da draußen, und wenn man der Soziologie als Krisenwissenschaft gerecht wird, dann sind es ja nicht nur Freundlichkeiten, die man über diese Welt mitzuteilen hat, ganz im Gegenteil. Manchmal bei der ersten, spätestens bei der zweiten Diskussionsanfrage geht es häufig schon nicht mehr um die Analyse, sondern um die Therapie: „Sie haben die Sachlage geschildert, aber ich habe Vorschläge vermisst…“ – „Was soll man jetzt tun?“ – „Wie kommen wir aus der Krise wieder heraus?“
Als Rednerin oder Redner gerät man immer ein bisschen in Verlegenheit. Man könnte natürlich die Kompetenz für eine zu entwickelnde Gesellschaftsprogrammatik von sich weisen, im Einklang mit der alten Wertfreiheitsthese. Soziologie beschränke sich auf die Analyse, der Rest sei politisches Programm und nicht Sache der Sozialwissenschaft. Auf der anderen Seite klingt einem im Ohr, dass die Soziologie sich immer auch als soziotechnische Gestaltungsinstanz empfohlen hat, besonders in den Zeiten ihrer Hybris in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: ein paar Studien und Projekte noch, und der Verbesserung der Gesellschaft in allen ihren Dimensionen stünde nichts mehr im Wege.
Auf jeden Fall wäre das Publikum enttäuscht, wenn man jeden Versuch zur Problembewältigung strikt von sich wiese. Besonders Techniker, die sich im Publikum befinden, sind verständlicherweise auf Problemlösung programmiert: Man muss schauen, dass man die Maschine so konstruiert, dass sie läuft; und sie verstehen es überhaupt nicht, wenn man nicht einmal den Versuch unternähme, ein paar Vorschläge zur Optimierung der sozialen Maschinerie beizusteuern. Auch für Juristen ist eine Analyse bloß der Vorspann zum eigentlichen Spiel, nämlich in weitergehenden Interpretationen und Erwägungen zu einer Entscheidung zu gelangen. Sie können mit einer Haltung, die sich damit zufrieden gibt, höchste Komplexität konstatiert zu haben, nichts anfangen: Am Ende muss das „Urteil“ stehen. Und auch die Zuhörergruppe mit dem gesunden Menschenverstand will Antworten: Wenn die Soziologie gar nichts zum „guten Leben“ zu sagen hätte, wozu wäre sie dann gut?
Solchen dringenden Weltverbesserungsbestrebungen eine komplette Absage zu erteilen ist schwer. Was also ist zu tun?
Erstens kann man sich verhalten wie die Ökonomen oder die Politikwissenschaftler, im Sinne von: Angestrebte Ziele sind so selbstverständlich, dass man sie als Konsens voraussetzen kann, und die erforderlichen Maßnahmen, diesen Konsens zu realisieren, lassen sich aufzählen.[1] Ökonomen liefern regelmäßig handfeste Ratschläge ab (auch wenn diese nicht immer stimmen), und Politikwissenschaftler erwecken ebenso den Eindruck zu wissen, was etwa für eine demokratiepolitische Aufrüstung in dürren Zeiten Not tut. Aber bei dieser Zielkonsensunterstellung (die man im besten Falle so formulieren kann: zu wissen glauben, was Ergebnis eines herrschaftsfreien Diskurses wäre) tut sich natürlich die Gefahr auf, dass man ex cathedra verkündet, was in Wahrheit einer persönlichen Bewertung entspringt.[2]
Zweitens gibt es die Wenn-Dann-Strategie: Wenn man X erreichen will, dann muss man Y tun. Damit hat man X nicht als Norm oder Ziel gesetzt, sondern nur als mögliche Zielhypothese vorgelegt – oder man hat wenigstens tentative empirische Belege dafür, dass die Mehrheit der Menschen X würde realisieren wollen. Ein solches Statement bleibt dennoch auf der Ebene der instrumentellen Vernunft, auch wenn klar ist, dass in Anbetracht der gesellschaftlichen Komplexität selbst solche Ratschläge sich gewisser normativer Färbungen nicht werden enthalten können.
Drittens bietet die Szenarien-Strategie eine Erweiterung der zweiten Variante: Man könnte in die folgenden drei (oder zwei oder fünf) unterschiedlichen Richtungen marschieren, dies sei eine kollektive und/oder individuelle Entscheidung. Je nachdem, wie diese Entscheidung ausfalle, welche Ziele also angestrebt werden sollen, müssten dann diese oder jene Maßnahmen umgesetzt werden. Allerdings ist damit zu rechnen, dass unweigerlich irgend jemand aus dem Publikum nachfragt, welche der Strategien nun, alles in allem, die beste sei.
Viertens die Strategie der Subjektivierung: Der Redner kann klarmachen, dass Antworten hinsichtlich therapeutischer Optionen sich nicht auf Wissenschaftlichkeit im engeren (erkenntnistheoretischen) Sinne berufen können, aber dass er bereit sei, seine persönlichen Vorstellungen (als Staatsbürger, Intellektueller, Betroffener, Mitbürger) darzulegen, durchaus als ein sachverständiger Zeitgenosse, der sich mit den Zusammenhängen möglicherweise ein bisschen intensiver beschäftigt hat als andere. Immer unter dem Vorbehalt: Andere mögen andere Ziele haben.
Manchmal kann man die Strategien auch mischen oder komplementär zueinander einsetzen – und fraglich ist ohnehin, ob sich die Zuhörerschaft jeweils ganz klar darüber ist, was der Redner gerade macht oder sagt. Der Drang, sich klare Botschaften herauszukitzeln, ist stark, und das Bestreben, jenen Satz herauszuhören, der in das eigene Wissens- und Urteilsgerüst passt, ist beinahe übermächtig. So wird man immer wieder einmal die Erfahrung machen, dass irgendein Diskutant einen peripheren Halbsatz zur eigentlichen Vortragsbotschaft hochstilisiert – und dass man selbst einigermaßen verwundert ist, was man denn so alles gesagt haben soll. Aber das ist eine der zentralen Weisheiten der Wissenssoziologie: Jeder hängt Informationen, die er bekommt, irgendwo in das Gerüst seiner vorhandenen Wissensbestände ein. Und man kann nur hören, was man hören kann.
Man kann bekanntlich nicht nicht kommunizieren. Aber ob man kommunizieren kann, ist keineswegs selbstverständlich.
[1] Es ist freilich eine recht optimistische Variante von Sozialwissenschaft, die hier unterstellt wird; denn in Wirklichkeit ist die Bereitstellung solcher Rezepturen auch dann nicht so einfach, wenn man sich über die Ziele einig ist. Man muss das simple Ziel-Mittel-Schema zumindest dadurch ergänzen, dass auch die Mittel keine neutralen Variablen sind, sondern mit wertenden Implikationen versehen werden müssen. Und jenseits dieser einfachen Fälle fangen erst die nichtintendierten Effekte, die Risikoabschätzungen und derlei Unschönheiten an.
[2] Eine Spielart der Konsensunterstellung ist auch die Berufung auf unerschütterliche Instanzen oder Vorbilder. Sie müssen allerdings als derartige Autoritäten wirken, dass jeder Widerspruch gegen den Konsens, der unter Verweis auf die unbestreitbare Qualifikation und Affirmation des Vorbildes unterstellt wird, erstickt würde. Als brauchbar für diesen Zweck erweist sich beispielsweise ein Nobelpreisträger, der gewisse Notwendigkeiten eingemahnt hat – gerade Nobelpreisträger aus dem Bereich der Naturwissenschaften werden gerne als „Gurus“ eingesetzt, die über alles (vor allem über philosophische oder sonstige „letzte Fragen“ des Menschseins) Auskunft geben sollen.