Krieg, Kriegsgesellschaft, Zeitenwende

Beitrag 5: Wann führen Kriege zu einer gesellschaftlichen Transformation, und wann nicht?

Im Beitrag 4 wurde Herbert Spencers Theorie des „Militant Type of Society“ vorgestellt. Demnach führen Kriege zu einer gesellschaftlichen Transformation. Triebkraft derselben ist der Mobilisierungswettlauf. Denkt man sich zwei gleiche Gesellschaften im Krieg, dann gewinnt die Gesellschaft, die mehr Soldaten und Arbeitskräfte, aber auch Motivation und Loyalität gegenüber dem Staat motiviert. Eine Mobilisierung kann effektiv nur zentral gesteuert werden. Zur Durchsetzung zentraler Steuerung bedarf es eines starken Staates mit einer tendenziell diktatorischen Spitze. Es gewinnt die Partei, die am längsten den Mobilisierungswettlauf durchhält. Das ist der Kern eine Kriegsgesellschaftstheorie nach Herbert Spencer.

An dieser Stelle ist eine Differenzierung vonnöten. Längst nicht jeder Krieg induziert eine gesellschaftliche Transformation. Wir können verschiedene Typen der gesellschaftstransformativen Kraft von Kriegen unterscheiden:

Große, langdauernde, tendenziell totale Kriege führen zu einer gesellschaftlichen Transformation – „Kriegsgesellschaft“

Der klassische Ort dieses Typus sind die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die weitgehend Spencers „Militant Type of Society“ entsprechen. Historisch tritt in der Moderne eine Kriegsgesellschaft erstmals während der französischen Revolution in Erscheinung, ausgelöst durch den Interventionskrieg Österreichs und Preußen 1792 gegen das revolutionäre Frankreich. Außerhalb Europas findet man kriegsgesellschaftliche Transformationen in Japan und China vor allem zwischen 1931 und 1945. Als extreme Fall einer Kriegsgesellschaft schlechthin, zumindest mobilisierungsmäßig, Paraguay erwähnt, das 1864 bis 1870 gegen Argentinien, Brasilien und Paraguay im Krieg stand und dabei das Gros seiner kriegsfähigen männlichen Bevölkerung verlor (C. Gurk, Das Land ohne Männer, in: Süddeutsche Zeitung vom 07. 07. 2020). Nach dem Zweiten Weltkrieg kann man Nordkorea, Vietnam oder Kuba als Kriegsgesellschaften betrachten. Auch Israel, das sich seit der Staatsgründung von 1948 von seinen Nachbarn bedroht fühlte und in Kriege verwickelt war. Aktuell entspricht der Krieg Russlands gegen die Ukraine weitgehend dem Typus eines großen, langdauernden, tendenziell totalen Krieges, dessen Ende noch nicht absehbar ist.

Als paradigmatischer Fall einer kriegsgesellschaftlichen Transformation kann der Erste Weltkrieg gelten, weil er diesem Idealtypus am nächsten kommt.

Kriegsgesellschaftliche Transformation ohne manifeste Kriege – „antizipierte Kriegsgesellschaft“

Auch ohne einen manifesten Krieg kann es zu einer kriegsgesellschaftlichen Transformation kommen. In Erwartung eines „großen“ Krieges, sei es in defensiver oder offensiver Absicht, können sich kriegsgesellschaftliche Transformationen herausbilden. Josef Stalin hat 1929 in Erwartung eines baldigen Angriffs kapitalistischer Mächte auf die Sowjetunion die damalige Perspektive der sowjetischen Führung in folgende Worte gekleidet: „Wir hängen fünfzig oder hundert Jahre hinter den fortschrittlichen Völkern der Erde zurück. Wir müssen das in zehn Jahren nachholen … oder die anderen werden uns zerschmettern“ (zit. nach Isaac Deutscher, Stalin – Eine politische Biographie, Reinbek 1962). Nun erst wurde die Sowjetunion zu einer zentral gesteuerten Gesellschaft mit einer totalitären Diktatur, wogegen während der Periode der Neuen Ökonomischen Politik 1921 bis 1927/29 ein gewisse politische Pluralität innerhalb der Kommunistischen Partei sowie eine Marktwirtschaft gegeben waren. Innerhalb von zehn Jahren fand die Sowjetunion industriell den Anschluss an die „fortgeschrittenen Völker“.

Auch im „Dritten Reich“ setzte unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die Mobilisierung für den Krieg ein mit einer sukzessiven Zunahme zentraler Steuerung (vgl. M. A. Diehl, Von der Marktwirtschaft zur nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Die Transformation der deutschen Wirtschaftsordnung 1933-1945, Stuttgart 2005).

Kriege ohne gesellschaftliche Transformation – „kriegführende Zivilgesellschaft“

Das idealtypische Gegenstück einer Kriegsgesellschaft ist die „reine“ Zivilgesellschaft, ohne Kriege, ohne äußere Bedrohung, also eine Zivilgesellschaft im Frieden. So in den 1990er Jahren, als Deutschland „von Freunden umzingelt“ war (so der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe). Doch Zivilgesellschaft und Krieg schließen sich nicht aus, denn nicht jeder Krieg führt zu einer kriegsgesellschaftlichen Transformation. Z. B.  wurde die Kriegsführung der USA im Irak und Afghanistan dem Militär als zuständiger professioneller Organisation übertragen, ohne dass sich die gesellschaftlichen Strukturen veränderten.

Triebkraft der kriegsgesellschaftlichen Transformation ist der Mobilisierungswettlauf. Es gibt Konstellationen, unter denen der Mobilisierungswettlauf nicht zustande kommt und daher auch eine kriegsgesellschaftliche Transformation ausbleibt. Sind die Kräfteverhältnisse sehr ungleich, kommt kein Mobilisierungswettlauf zustande und damit auch keine gesellschaftliche Transformation.

Ein anderer Faktor ist die Dauer des Krieges. Kriegführende Staaten haben in der Regel für den Fall der Fälle vorgesorgt und sich mit Waffen und Munition bevorratet. Die sog. deutschen Einigungskriege 1864 gegen Österreich und Preußen gegen Dänemark, 1866 Preußen gegen Österreich und 1870/71 Preußen und die verbündeten deutschen Staaten gegen Frankreich dauerten nur Monate und wurden früh in einer großen Schlacht entschieden. Die Kriege wurden aus den Arsenalen geführt, die bereits angehäuft waren. Auch hier kam es zu keiner gesellschaftlichen Transformation.

Anders im Ersten Weltkrieg. Die Marneschlacht Anfang September 1914 vor Paris hätte den Krieg für die eine oder andere Seite entscheiden können. Da sie aber von deutscher Seite abgebrochen wurde und sich die Fronten verfestigten, dauerte der Krieg noch weitere vier Jahre. An einem Tag der Marneschlacht wurde so viel Munition verbraucht wie im gesamten deutsch-französischen Krieg 1870/71. Eine fundamentale Umstellung der gesellschaftlichen Organisation für den Krieg, also eine kriegsgesellschaftliche Transformation, erwies sich als zwingend notwendig.

Kriegsbeteiligung ohne eigene Streitkräfte – „Zivilgesellschaft im Krieg“

Vom Typus einer kriegführenden Zivilgesellschaft ohne gesellschaftliche Transformation zu unterscheiden ist eine Zivilgesellschaft, die an einem Krieg beteiligt ist, ohne selbst aktiv mit eigenen Streitkräften Krieg zu führen. Die Beteiligung besteht dann vor allem in der Lieferung von Waffen und Munition, also in der Unterstützung der Mobilisierung einer Kriegspartei. Ein solcher Fall war z. B. die Unterstützung der USA für das Krieg führende Großbritannien durch das Leih- und Pachtgesetz 1941, bevor die USA durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbour am 07. Dezember 1941 selbst kämpfende Kriegspartei wurden. Diesen Typus nenne ich Zivilgesellschaft im Krieg. Es ist der Typus, dem aktuell im russischen Krieg gegen die Ukraine die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Staaten zuzuordnen sind. Eine Zivilgesellschaft im Krieg durchläuft keine „große“ Transformation, die Basisstrukturen wie Markt und Demokratie bleiben gleich. Wohl aber können sich die institutionellen Arrangements verändern, z. B. in Gestalt verstärkter staatlicher Steuerung der Wirtschaft oder der Stärkung der politischen Spitze.  Das setzt voraus, dass die politischen Akteure den Status einer „Zivilgesellschaft im Krieg“ realisieren und  nicht weiter im Modus einer reinen Zivilgesellschaft agieren (vgl. die Ampel-Regierung in Deutschland).

Gesellschaft ohne Kriegsbeteiligung und äußere Bedrohung – „Reine Zivilgesellschaft“

Der Typus der „reinen“ Zivilgesellschaft ist das Gegenstück der Kriegsgesellschaft. Sie ist idealerweise gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Krieg, Kriegsbeteiligung und äußerer Bedrohung. Ein Beispiel dafür sind die USA in den 1930er Jahren, die keinerlei äußerer Bedrohung unterlagen und sich einer strikten Neutralitätspolitik befleißigten. Als ein weiteres Beispiel können Deutschland und andere westeuropäische Staaten in den 1990er Jahren gelten, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion jede äußere Bedrohung entfallen war, jedenfalls scheinbar. Entscheidend ist die Interpretation der Situation. In der Zeit bis 2020 agierten die westlichen Länder weitgehend im Modus einer „reinen“ Zivilgesellschaft, obwohl die Kriege der Sowjetunion gegen Tschetschenien, gegen Georgien, gegen die Ukraine nach dem Krim-Annexion und Syrien auch andere Interpretationen zugelassen bzw. nahegelegt hätten.

Charakteristisch für eine reine Zivilgesellschaft ist die Vernachlässigung des Militärs, das ohne äußere Bedrohung ja objektiv nicht oder nur sehr eingeschränkt benötigt wird. Z. B. war das US-amerikanische Heer 1940 nur 275.000 Soldaten stark und stand damit an 20. Stelle in der Welt, noch hinter den Niederlangen (Ian Kershaw, Wendepunkte, Stuttgart 2009, S. 251). Die Bewaffnung stammte größtenteils noch aus dem Ersten Weltkrieg. Andere Indizien sind der Rückbau militärischer Infrastruktur für Kriegssituationen (z. B. von Bunkern für die Zivilbevölkerung in Deutschland seit den 1990er Jahren) oder verstärkte interne Konflikte, da man sich nicht von außen bedroht fühlt.

Nicht jede Diktatur und Planwirtschaft sind dem Typus der Kriegsgesellschaft zuzuordnen

Große, langdauernde, tendenziell totale Krieg führen zu einer diktatorischen Spitze und einer zentral gesteuerten Wirtschaft, aber nicht jede Diktatur und Planwirtschaft sind dem Typus einer Kriegsgesellschaft zuzuordnen. Diktaturen können auch ohne Einfluss von Kriegen entstehen, z. B. in Gestalt von Militärputschen etwa als Reaktion auf eine (gewählte) linke Regierung wie in Chile 1973. Diktatur und Planwirtschaft können nur dann als kriegsgesellschaftlich gelten, wenn sie durch die Dynamik großer, langdauernder, tendenziell totaler Kriege entstehen.

Auch autoritäre Regimes wie in Russland vor dem Krieg gegen die Ukraine oder China können nicht per se als Kriegsgesellschaften gelten. Wohl aber sind sie dem Typus einer Kriegsgesellschaft strukturell ähnlich und daher auch für Kriege strukturell besser aufgestellt als westliche Demokratien.

 

Im folgenden Beitrag 6 werde ich sieben Basistheoreme der Kriegsgesellschaftstheorie vorstellen.

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