Die Große Transformation reloaded? Polanyis Erbe und die Krisen des 21. Jahrhunderts

Warum das 21. Jahrhundert mehr als eine grüne Wende braucht

Transformation ist zum Modewort geworden: grün, digital, gesellschaftlich, politisch. Es klingt nach Aufbruch, nach dem Schmetterling, der der Raupe entschlüpft. Doch Transformation bedeutet nicht zwangsläufig Fortschritt – sie kann auch Verlust, Machtverschiebung und Krisenerfahrung heißen. Schon der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi beschrieb Mitte des 20. Jahrhunderts die „Große Transformation“, die mit der Durchsetzung der kapitalistischen Marktordnung einherging. Heute erleben wir erneut einen umfassenden Wandel: die Umwälzungen durch Digitalisierung und Klimawandel, die Erosion der liberalen Demokratie und die Dysfunktionalität des Finanzsystems. Die zentrale These: Die aktuelle Transformation folgt nicht einem sozial-ökologischen Pfad, sondern zeigt jene Muster, die Polanyi einst freilegte. 

Einleitung

Grüne Transformation, digitale Transformation, gesellschaftliche Transformation, die Transformation der Arbeitswelt, der Energie- und Produktionssysteme: Der Transformationsbegriff hat Hochkonjunktur und könnte das Buzzword des 21. Jahrhunderts werden.

2015 griffen die Vereinten Nationen den Begriff mit der Formulierung der Sustainable Development Goals (SDGs) prominent auf. Es war die Reaktion der UN auf die unübersehbaren Herausforderungen unserer Zeit: Eine globale Agenda zur nachhaltigen Transformation der menschlichen Gesellschaften. Zuvor hatte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 2011 in Deutschland einen „Gesellschaftsvertrag für eine große, sozial-ökologische Transformation“ vorgeschlagen. Gemeint war im Wesentlichen der Umbau von Energie- und Wirtschaftssystemen sowie ein Wertewandel hin zu nachhaltigeren Gesellschaften.

Den Begriff der „Große Transformation“ prägte ursprünglich der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi mit seinem 1944 veröffentlichten Hauptwerk The Great Transformation. Hierin untersuchte Polanyi die sozialen und wirtschaftlichen Prozesse, die mit der Etablierung der Marktwirtschaft im 19. Jahrhundert verbunden waren – und die Auswirkungen, die damit für Mensch und Natur einhergingen. Mit seinem Werk trug Polanyi wesentlich dazu bei, die Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung zu verstehen, insbesondere im Hinblick auf die Einbettung der Gesellschaft in den Markt und der Rolle des Staates bei der Regulierung des Marktes. Die Lektüre von The Great Transformation schärft unseren Blick für die Auswirkungen fundamentaler Systemveränderungen und die treibenden Akteure des Transformationsprozesses.

Bevor das Thema Nachhaltigkeit in den Vordergrund rückte, war „Transformation“ in den Sozialwissenschaften vor allem auf politische Systeme bezogen. So formulierte Wolfgang Merkel (2010) drei Leitfragen zur Untersuchung von Transformationsprozesse: Was wird transformiert (Regierung, Staat, System)? Wie verläuft der Wandel (Form, Geschwindigkeit, Etappen)? Wer sind die prägenden Akteure? Diese Perspektive ist auch für aktuelle Debatten fruchtbar, wie noch zu lesen sein wird.

Transformation meint soweit mehr als ein „positives“ Bild des Wandels, wie es die Metapher der Raupe und des Schmetterlings nahelegt. In Anlehnung an die Definition von Karl-Heinz Hillmann lässt sich Transformation verstehen, als die – oft mit Konflikten und Krisen verbundene – tiefgreifende Umwandlung einer Gesellschaft und Kultur in ein neues soziokulturelles Gesamtsystem. Insofern bedeutet Transformation eine soziokulturelle Zäsur, die oft eine neue Epoche einläutet (Hillmann 2007: 906f.).

Mit Blick auf die gegenwärtige Situation im 21. Jahrhundert ergeben sich zwei Thesen:

  1. Die Gesellschaften des Globalen Nordens befinden sich in einem Transformationsprozess, der sich mit hoher Geschwindigkeit über mehrere Dekaden entfaltet.
  2. Dieser Transformationsprozess, der vielfach als sozial-ökologische Wende etikettiert wird, zeigt vielfach eine andere Dynamik, als den nachhaltigen Umbau der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme: eine fortgesetzte Kommodifizierung ökologischer und sozialer Belange unter den Bedingungen einer rasant fortschreitenden sozial-ökologischen Krise.

Die Große Transformation nach Karl Polanyi

Polanyi beschrieb die Große Transformation als ein Desaster, das mit dem Scheitern des freien Marktes begann und in die Barbarei des Zweiten Weltkrieges mündete. Polanyi verdeutlicht dies am Zusammenbruch der (vier) „Grundpfeiler der Zivilisation des 19./20. Jahrhunderts“ (Polanyi 2021 [1944]: 19ff.). (1) Die Einführung freier Märkte als grundlegendes Prinzip der Wirtschaft bedeutete eine fundamentale Veränderung. Mit ihr einher ging die Kommodifizierung, also dem „zur Ware werden“, von Gütern die nur auf einer Fiktion beruhen, wie Arbeit, Boden und Geld (ebd. 70, 102-112, 164). Ein Menschenleben wurde fortan unterteilt in produktive Arbeitsstunden, für die ein Lohn bezahlt wurde – egal, wie spärlich dieser auch ausfiel – und unproduktive Untätigkeit. Natur und Umwelt waren nicht mehr bloß Lebensraum für Wesen und Pflanzen, sondern konnte hieraus ein Ertrag, die sogenannte Bodenrente, über Verkauf, Vermietung oder Verpachtung gewonnen werden (ebd. 243-250). Geld wurde schließlich zum allgemeinen Symbol für die Kaufkraft. Wer Geld hatte, konnte Zinsen, also einen Ertrag für seine Kaufkraft, und damit mehr Geld erzielen. Die Kommodifizierung bedeutete, dass Menschen und Natur in die Logik der Marktwirtschaft integriert wurden. Damit transformierte sich fundamental ihre Bedeutung (ebd. 145, 224-226). Am Ende entstand für Polanyi ein neuer Typus Mensch, ein Individuum, eingebettet in eine „Marktgesellschaft“ (ebd. 180f.). Im Laufe dieses Prozesses wurden die bis dato vorherrschenden Handlungsprinzipien Reziprozität, Redistribution und Subsistenz vom Leitmotiv des Gewinnstrebens abgelöst (ebd. 70-87). Die sozialen Beziehungen wurden verstärkt in Wirtschaftsbeziehungen eingebettet und die Gesellschaft selbst ein Anhängsel des Marktes. Diese Veränderung, begleitet von Industrialisierung und Urbanisierung, stellte für einen erheblichen Teil der Bevölkerung eine soziale und kulturelle Entwurzelung dar (ebd. 67f., 145f.). Die Transformation beinhaltete die zunehmende Umstellung der Produktionsstruktur von ländlicher Feudalwirtschaft auf urbane Industrie. In kurzer Zeit zogen die Menschen auf der Suche nach Arbeit in die Städte, was die zwischenmenschlichen Beziehungen, die dörflichen, großfamiliären und nachbarschaftlichen Strukturen, fundamental veränderte. Begleitet von Rezession und Inflation entstand eine neue Klasse von ökonomisch „Überflüssigen“ (ebd. 123, 147-155) – also Menschen, die unter den veränderten Produktionsbedingungen nicht gebraucht wurden. (2) Die sozialen und politischen Systeme des beginnenden 20. Jahrhunderts waren dem Tempo der Veränderung, die immerhin über einige Jahrzehnte ablief, nicht gewachsen (ebd. 65, 128, 142, 323). Dies führte die jungen liberalen Staaten schrittweise in die Krise, was im Erstarken der demokratiefeindlichen Bewegungen Ausdruck fand (ebd. 51-55). Die Reaktion bezeichnete Polanyi als Gegenbewegung, beziehungsweise Selbstschutzmechanismen der Gesellschaft. So interpretierte Polanyi Sozialismus und Faschismus als Antwort auf die entfesselten Kräfte des Marktes (ebd. 182-187, 289-293, 314-322). Das Gefühl existentieller nationaler Bedrohung ließ in Europa die Säbel rasseln. (3) Im Bereich der internationalen Beziehungen geriet das Kräftegleichgewicht zwischen den tonangebenden Großmächten in Europa ins Wanken (ebd. 38-43). (4) Im Zuge des militärischen Wettrüstens mussten die Staaten die Geldumlaufmenge erhöhen und lösten sich vom Goldstandart und damit jener ökonomischen Ordnung, die zu dieser Zeit das Bindeglied zwischen den Nationalstaaten darstellte (ebd. 41-51, 323).

Dimensionen der Großen Transformationen im 21. Jahrhundert

Polanyi analysierte die industrielle Revolution als technische Grundlage der Great Transformation. Heute zeigt sich ein wesentlich schnellerer, globaler technischer Wandel, der ebenfalls zentrale Lebens- und Arbeitsbereiche transformiert und neue soziale Ungleichheiten erzeugt. So steht die technische Transformation im 21. Jahrhundert zwar im Zeichen der Umstellung auf nachhaltigere Energiesysteme und Produktionsweisen. Zugleich ist die technische Dimension gekennzeichnet durch die umfassende Digitalisierung der industriellen Produktion. Industrie 4.0 und KI-Systeme ersetzen nicht nur Routinearbeiten, sondern zunehmend komplexe Tätigkeiten wie Übersetzung, Kalkulation, Korrespondenz oder kreative Arbeit. Ein Beispiel soll die enorme Dynamik veranschaulichen: Bei der Einführung von Chat-GPT 1 im Juni 2018 bestand das Sprachmodell aus 117 Millionen Parametern und war das Arbeitsergebnis von 30 Jahren Forschung und Entwicklung. Die Version Chat-GPT 3 verfügte nur zwei Jahre später bereits über 175 Milliarden Parameter, der Version GPT 5 verfügt aktuell über 635 Milliarden Parameter. Laut Open AI ist die Zahl der Nutzer:innen in nur drei Jahren auf rund 700 Millionen gestiegen. In der digitalen Transformation liegt zweifellos enormes Potential, um den globalen Herausforderungen der Zeit zu begegnen. Gleichzeitig trifft diese technische Umwälzung – wie so viele vor ihr – auf eine Welt mit ungleichen Ausgangsbedingungen. Diese technischen Innovationen verändern nicht nur die Arbeitswelt, sondern perpetuiert Machtverhältnisse. Der Zugang zu den neuen Werkzeugen, wie Datenbanken und den leistungsstärksten Sprachmodellen, ist entscheidend bei der Frage, wer Märkte und Arbeitsprozesse am effektivsten gestalten kann. Welche Auswirkungen verspricht die digitale Transformation für den technisch und ökonomisch führenden Globalen Norden und welche für den strukturell benachteiligten Globalen Süden? 6 der 10 größten transnationalen Konzerne, die die digitale Transformation wesentlich gestalten, sitzen in den USA, dazu jeweils einmal in China, in Südkorea, in Taiwan und in Japan. Auch wenn sich das globale Machtgefüge ein Stück weit verschoben hat, ist die Gefahr hoch, dass den Ländern Afrikas und Lateinamerikas ein neues Kapitel der Abhängigkeit droht.

Was bei Polanyi in der Form noch keine Rolle spielte, waren die ökologischen Grenzen der planetaren Belastung. Die globale Dimension der Umweltauswirkungen und die Geschwindigkeit der ökologischen Veränderungen sind beispiellos in der Menschheitsgeschichte. In etwas mehr als einem Jahrhundert ist die globale Lufttemperatur um mehr als 1,2 Grad angestiegen. Der deutlichste Anstieg war dabei, laut Umweltbundesamt, in den vergangenen 40 Jahren zu verzeichnen. In dem Zeitraum hat sich der Passagierflugverkehr mehr als verfünffacht (Forschungs-Informations-System 2018) und die CO2-Emissionen haben sich seither nahezu verdoppelt (Statista 2024). 2024 war bis dato das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Die globale Durchschnittstemperatur lag 1,5 Grad über dem vorindustriellen Referenzzeitraum. Klimaexpert:innen warnten jüngst vor eine globalen Erderwärmung um drei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau bis 2050. Demnach könnte der Anstieg in den kommenden 25 Jahren genauso stark ausfallen, wie in den vergangenen 150 Jahren (DLF 2025) Der Klimawandel befeuert das Artensterben, Ernteausfälle in Folge von Trockenheit und Bodenerosion und damit Hungerkrisen. Dadurch drohen steigende Armut und Konflikte um knapper werdende Ressourcen, wie sauberes Trinkwasser, bewohnbaren Boden, Lebensraum und -chancen (Umweltbundesamt 2014; United Nations 2024). Der Klimawandel ist auch eine Klassenfrage, denn die Auswirkungen sind ungleich verteilt: Das oberste Prozent der Bevölkerung verursacht 16 Prozent der Emissionen (Oxfam International 2023), während sozial schwächere Gruppen, vor allem im Global Süden, am stärksten von den Folgen betroffen sind. Der Kontinent, der sich am schnellsten erwärmt ist Europa. Der Klimawandel bedroht die Nahrungsmittel- und Wassersicherheit sowie die Gesundheits- und Öko- und Wirtschaftssysteme (tagesschau 29.09.2025). Auch in Europa werden sich sozial schwächere am schlechtesten gegen die Folgen absichern können. Mit der Agenda 2030 strebten die Vereinten Nationen einen grünen Umbau der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme an. 187 der 193 UN-Mitgliedsstaaten haben sich der Umsetzung der SDGs verpflichtet. Allein in Deutschland wurden über 200 kommunale Nachhaltigkeitsstrategien zur lokalen Umsetzung der sozial-ökologischen Transformation erarbeitet (Agenda 2030). In der Folge hat sich beispielsweise in der EU der Anteil der Erneuerbaren Energien seit 2005 verdoppelt (tagesschau 29.09.25). Trotz des Engagements und einiger Erfolge fällt die Bilanz jedoch bisher ernüchternd aus. Demnach ist die Weltgemeinschaft weit davon entfernt, die 17 selbstgesteckten Ziele bis 2030 zu erreichen (BMZ 2023). In der Praxis werden vor allem die Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und Wirtschaftswachstum sichtbar. Auch ist die globale Verantwortung ungleich verteilt. Passend dazu lehnen die USA, der Staat mit den weltweit zweithöchsten Kohlenstoffemissionen, unter der Regierung Trump die Ziele für eine sozio-ökologische Transformation ab. Die UN-Agenda macht eine globale politische Steuerung erforderlich, doch nationale Interessen und die fehlende Verständigung innerhalb der Weltgemeinschaft hemmen die Umsetzung sozial-ökologischer Transformationsprojekte.

Politisch ist das 21. Jahrhundert bisher vor allem durch Instabilität und Machtverschiebungen geprägt. Die Vereinten Nationen wirken angesichts der globalen Kriege und Krisen überfordert. Der Handlungsspielraum der Weltorganisation wird derzeit zudem durch eine tiefe Vertrauenskrise eingeschränkt. Was wir seit einigen Jahren auf der Ebene der internationalen Beziehungen erleben, deutet auf die schleichende Ablösung der liberalen Weltordnung nach 1989 hin (Lucarelli 2022). Die USA, die Supermacht des 20. Jahrhunderts und Schutzmacht des Westens, haben – wesentlich durch das unberechenbare Handeln der Trump-Administration – außenpolitisch das Vertrauen verloren und sind selbst innenpolitisch instabil geworden. Gleichzeitig steckt das liberale Demokratiemodell westlicher Prägung in der Krise. Autoritäre Regime und Weltanschauungen sind auf dem Vormarsch. Neben den äußeren Herausforderungen durch autoritäre Systeme werden die liberalen Staaten von innen heraus durch demokratiefeindliche Massenbewegungen und eine rechtspopulistische Kultur bedroht – angeführt von einem transnationalen Netzwerk nationalistischer und oligarchischer Kräfte. Der Kulturkampf der transnationalen Neuen Rechten richtet sich (auch) gegen das Projekt einer sozial-ökologischen Transformation und den liberalen Staat als Regulationsinstanz.

Die Probleme des liberalen Staates reichen in das 20. Jahrhundert zurück und liegen begründet in dem unzureichend eingelösten Versprechen des demokratischen Wohlfahrtskapitalismus von sozialer Gerechtigkeit. Die Verheißungen der Globalisierung von Demokratie, Fortschritt und Wohlstand haben sich bislang nur für einen Teil der Weltbevölkerung erfüllt. Trotz beachtlicher Erfolge in der Armutsbekämpfung waren 2024 weltweit 1,1 Milliarden Menschen von extremer Armut betroffen (UNDP 2024: 1). Ausgerechnet in den Staaten des Globalen Norden und damit jenen Ländern, in denen überwiegend die Gewinner:innen der Globalisierung leben, sind die neuen Rechten auf dem Vormarsch. Ein anhaltendes und sogar noch zunehmendes Problem bleibt die Verteilung des wachsenden materiellen Reichtums. Laut Oxfam haben die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen seit 2020 verdoppelt. Gleichzeitig sind fast fünf Milliarden Menschen ärmer geworden (Oxfam Deutschland 2024). Über die vergangenen fünf Jahre konnten Superreiche ihre Vermögen, ungeachtet von Pandemie, Inflation und Krieg, weiter enorm vermehren. Die SDGs setzen auf Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung, doch die Marktlogik unterminiert diese Ziele häufig. So bewegen wir uns heute auf eine globale Vermögensverteilung zu, die in etwa jener zum Vorabend des ersten Weltkrieges ähnelt (Chancel/Piketty 2021: 3025). Im Unterschied zu der von Polanyi herausgestellten Great Transformationen ist der gegenwärtige Prozess geprägt durch die Allgegenwärtigkeit digitaler Märkte und eine enorme Geschwindigkeit des Waren- und Finanzhandels. Ein Beispiel, Mitte September 2025 stieg das Vermögen des Oracle-Gründers Larry Ellison für wenige Stunden um über 100 Milliarden US-Dollar. Grund hierfür war der sprunghafte Anstieg der IT-Aktie der. Für kurzen Zeit verdrängte Ellison dadurch Tesla-Chef Elon Musk von Thron der Superreichen (tagesschau 2025).

Die Transformation hat schließlich eine sozio-kulturelle Ebene durch die Kommodifizierung immer weiterer Lebensbereiche und gesellschaftlicher wie ökologischer Schlüsselinstanzen. Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung und der damit verbundenen wirtschaftlichen Öffnung ist der Kapitalismus bis nahezu jeden Winkel des Planeten vorgedrungen. Private und staatliche Investitionen aus den Industrie- und Schwellenländern, allen voran aus den USA und China, sicherten sich im großen Stil strategische Agrarflächen vorzugsweise im Globalen Süden, aber auch Osteuropa war hiervon betroffen (Bommert 2017). Vor dem Hintergrund der faktischen Endlichkeit vieler Rohstoffvorkommen (v.a. Boden, Wasser und fossiler Energien) ist die Verschiebung der extraktivistischen Grenzen zu beobachten, also der Räume, in denen im großen Stil natürliche Ressourcen abgebaut werden. Das Interesse an der Erdölförderung bedroht die letzten unberührter Schutzgebiete aktuell etwa im ecuadorianischen Amazonasregenwald oder dem Meeresboden vor der Küste Brasiliens. In den vergangenen Jahrzehnten gerieten weltweit lebensnotwendige Stoffe, wie Wasser, ins Visier von Privatinteressen. Unter der vermeintlichen Absicht des Umweltschutzes werden Kohlenstoffemissionen gehandelt und damit Umweltverschmutzung zur Ware gemacht. Die „Landnahme“ (Dörre 2016) von nichtkapitalisiertem Terrain ist aber nicht nur extern, auf bisher unerschlossene Räume, sondern auch intern, auf das menschliche Innere auszumachen. Die Expansion betraf daher auch zwischenmenschliche Intimbeziehungen und das Innenleben (Illouz 2007). Die Plattformisierung von Liebesbeziehungen und das Outsourcing sozialer Interaktionen, wie der Pflege, illustrieren dies. Im Zuge der Neoliberalisierung von gesellschaftlichen Belangen wurde die Logik der Allgemeinheit durch das Prinzip der Singularität ersetzt (Reckwitz 2017: 11). Traditionelle Parteien und Gewerkschaften erlebten, als Institutionen gesellschaftlichen Zusammenschlusses, einen massiven Bedeutungsverlust, während die Zurschaustellung vermeintlich individueller Lebensentwürfe boomt. Bereits Polanyi zeigte, wie die Marktlogik soziale, kulturelle und ökologische Strukturen durchdringt. Diese Dynamik ist im Grund ungebrochen, zeichnet sich jedoch in der gegenwärtigen Transformation durch die digitale Dimension und den globalen Charakter der Kommodifizierung aus.

Fazit

Wie also ist die (Große) Transformation im 21. Jahrhunderts zu bewerten? Die eingangs vorgestellten Leitfragen von Wolfgang Merkel helfen, die Thesen zu reflektieren und den Prozess einzuordnen:

Was transformiert sich? Wir erleben derzeit weniger die erfolgreiche Umsetzung einer sozial-ökologischen Agenda als vielmehr eine Blockade und teilweise Umkehrung der Nachhaltigkeitstransformation. Die Halbzeitbilanz der SDGs fiel bereits ambivalent aus. Schwer wiegt zudem der Austritt der USA aus dem Pariser-Klimaabkommen und die Absage der Trump-Regierung an die UN-Agenda 2030. Aber auch der im September 2025 angekündigte Kurswechsel in der Energiepolitik der Schwarz-Roten-Bundesregierung droht die Klimaziele auszubremsen. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz führen zu einer rasanten Veränderung von Arbeit und Arbeitsbeziehungen. Rund 60 Prozent der Arbeitsplätze im Globalen Norden werden sich verbessern oder verschwinden sagte jüngst die IWF-Chefin Kristalina Georgieva (tagesschau 14.10.2025). Wächst im Zuge der neuen technologischen Revolution, wie einst von Polanyi in der ersten Großen Transformation beschrieben, die Klasse der ökonomisch „Überflüssigen“? Hinzu kommt eine wachsende Ungleichheit der globalen Einkommens- und Vermögensverteilung. Immer deutlicher werden hierbei die Spannungen zwischen sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen (Dörre et al. 2022: 319ff.). Zugleich deutet der Aufstieg autoritärer Regime und Bewegungen auf eine politische Transformation, die liberale Demokratien unter Druck setzt. Aus Sicht des Globalen Norden transformiert sich die bestehende Weltordnung und die Kräfteverhältnisse nach 1989, was fundamental mit dem Aufstieg der BRICS-Staaten, allen voran China zusammenhängt.

Wer treibt die Transformation? Transformation ist kein naturwüchsiger Prozess, sondern wird wesentlich durch herrschende Kräfteverhältnisse vorangetrieben. Die Dynamik der neoliberalen Globalisierung verdeutlicht, wie sehr Klassenstrukturen, Kapitalmacht und ungleiche globale Verflechtungen den Charakter des Wandels bestimmen. Hervorzuheben ist dabei die Rolle von Tec-Oligarchen, wie Peter Thiel, die an der transnationalen Vernetzung rechtskonservativer Kräfte arbeiten und gleichzeitig das ideologische Gerüst für die MAGA-Bewegung in den USA bilden. Der Schulterschluss zwischen den Tec-Oligarchen wie Elon Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg – drei der zehn reichsten Männer des Planeten – und der Trump-Regierung ist nicht zufällig. Für ihre Gefolgschaft beim Umbau der US-Demokratie garantiert Ihnen Trump weitgehend ungehinderte Einkommenskonzentration und Deregulierung. Die Absage der Trump-Regierung an den Klimaschutz erklärt sich auch aus dem enormen Energiebedarf der IT-Unternehmen, die damit wiederum ein Treiber der Klimakrise sind. So verbrauchen Google und Microsoft im Jahr 2023 (jeweils über 24 TWh) mehr Energie als Staaten wie Jordanien (20 TWh) mit seinen 11 Millionen Einwohner:innen oder Ghana (20 TWh) mit 33 Millionen Menschen (EIA 2025; Statista 2025).

Wie vollzieht sich die Transformation? Der Transformationsprozess entfaltet seit Mitte der 1970er Jahre eine beschleunigte Dynamik der Veränderung. Mit der neoliberalen Phase der Globalisierung haben sich Waren- und Finanzhandel enorm beschleunigt und damit auch der Co2-Ausstoß. Der Siegeszug des Neoliberalismus hat einen neuen Menschentypus hervorgebracht, mit dem die Singularität und Einzigartigkeit zur Mode geworden ist – mit einem entsprechenden konsumintensiven Lebensstil (Brand/Wissen 2017). Das Ende der polyzentrischen Weltordnung läutete eine neue Etappe ein. Der Aufstieg der BRICS-Staaten, allen voran Chinas und die Ambitionen der Volksrepublik als Supermacht des 21. Jahrhunderts, illustrieren die Verschiebung der internationalen Kräfteverhältnisse. Der Bedeutungsverlust der internationalen Institutionen der liberalen Weltordnung (nach 1945 bzw. 1989) deuten ebenfalls eine Neuordnung an. Aus Sicht des Globalen Nordens erscheint die Transformation im 21. Jahrhundert im Gewand einer multiplen Krise: Die Digitalisierung verändert den Charakter von Arbeit und Lebensweise radikal. Gleichzeitig spitzt sich die Klimakrise rasant zu, soziale Ungleichheiten verschärfen sich und die Grenzen des Wachstumsmodells, das bislang eine Art Gesellschaftsvertrag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellte, scheinen erreicht.

Auch über 80 Jahre nach der Veröffentlichung von Karl Polanyis Great Transformation erlaubt ein analytischer Blick durch die Brillengläser Polanyis, die multiplen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts als Teil eines langfristigen und umfassenden Veränderungsprozesses zu verstehen. Vielleicht liegt hierin die besondere Relevanz des Werks, indem der Autor die Dynamiken und Kräfte hinter den umfassenden Umwälzungen im 19. und 20. Jahrhundert herausarbeitet und einzelne Entwicklungen, wie die Sozialgesetzgebung in England im ausgehenden 18. Jahrhundert, in einen größeren Zusammenhang verortet.

Auch wenn sich gewisse Parallelen zur Great Transformation von Polanyi erkennen lassen, so zeichnet sich der gegenwärtige Transformationsprozess durch seinen eigenständigen Charakter aus. Neben der Gleichzeitigkeit der Prozesse sticht vor allem die globale Dimension und das rasante Tempo der Veränderung heraus. Dabei ist zu betonen, dass es sich um keinen abgeschlossenen Prozess handelt. Mit Polanyi gesprochen, befinden wir uns inmitten von Bewegung und Gegenbewegung. Der Aufstieg des Rechtspopulismus kann mit Polanyi, in Anlehnung an den Faschismus des frühen 20. Jahrhunderts, als ein Aspekt im Großen Transformationsprozess erklärt werden (Gorski 2019: 506). Die linke Gegenbewegung, in Anlehnung an den frühen Sozialismus, ist hingegen noch nicht eindeutig auszumachen, wenn sie auch in Teilen der Gewerkschafts- und Klima- und LGBTQ-Bewegungen schemenhaft zu erkennen ist.

Noch ist offen, in welches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem die Transformation mündet. Damit die aktuellen Transformationsprozesse als sozial-ökologische Wende gelten können, bedarf es einer Umkehrung der bisherigen marktwirtschaftlichen Logik, wie sie Polanyi in The Great Transformation analysierte. Gerade deshalb kommt es darauf an, Transformation nicht allein den Dynamiken von Märkten und Machteliten zu überlassen. Ein normativer und praktischer Fluchtpunkt ist der Ansatz der Just Transition: Er verbindet ökologische Verantwortung mit sozialer Gerechtigkeit und fordert politische Gestaltung, die auch Fragen der Teilhabe und Anerkennung einbezieht. Hierin liegt das Potential die sozial-ökologischen Krise zu entschärfen. Wenn die „Große Transformation“ unserer Zeit nicht zu einer autoritären oder rein marktgetriebenen Entwicklung führen soll, dann muss Just Transition zum Maßstab werden, an dem sich politische Projekte und gesellschaftliche Gestaltung messen lassen.

 

Grundlage des Essays war ein Vortrag, den der Autor am 30. Juni 2025 auf der Fachtagung „Transformationssoziologie konkret“, ausgerichtet von der Schader Stiftung und der RWTH Aachen, gehalten hat. Für Anmerkungen zum Text danke ich Uta Karstein und Hans-Jürgen Burchardt. Der Essay wird in leicht gekürzter Form ebenfalls im Jahrbuch der Schader Stiftung veröffentlicht.

Quellen

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