Die Größenordnung und Tragweite des sozialen und technologischen Wandels, der sich in den letzten ca. zwei bis drei Jahrzehnten zugetragen hat, übersteigt in mehreren Dimensionen diejenige aller vergleichbaren Phasen früheren Wandels; in manchen den kumulativen Effekt bzw. Entwicklungsertrag der voranliegenden 150 Jahre. So ist beispielsweise der Wert des globalen Sozialprodukts zwischen 1820 und 1985 um 22 Billionen US$ gestiegen, in den darauf folgenden 25 Jahren aber um sage und schreibe 30 Billionen. Auch die durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen sind in dieser Phase rapider gewachsen als je zuvor. Berechnet in konstanten US Dollars, lagen diese 1870 (also etwa 50 Jahre nach Beginn des Zeitalters des modernen Wirtschaftswachstums) bei 870 US$. In den nächsten 110 Jahren sind sie um gut 5.000 Dollar gestiegen (auf 5.949 US$ in 1980), haben dann aber in nur 30 weiteren Jahren um nochmals 3.500 Dollar zugelegt (auf 9.514 US$ in 2009). Die globale Mittelschicht wird bei konservativer Schätzung heute auf knapp das Doppelte der Weltbevölkerung von 1820 taxiert – auf ca. 1.8 Milliarden Menschen, von denen knapp die Hälfte (800 Millionen) erst nach 1990 in die „consumer class“, wie sie auch genannt wird (weil sie im Unterschied zu den „global poor“ über diskretionäre Einkommen verfügt), aufgestiegen ist, und wenn die Trends der zurückliegenden Jahrzehnte sich fortsetzen, dann könnte sie 2020 bereits 3 Milliarden Menschen umfassen. Zum Vergleich: 1820 war, legt man einen Standard von kaufkraftbereinigt weniger als 2 Dollar pro Tag an disponiblem Einkommen zugrunde, 90 Prozent der Weltbevölkerung absolut arm. Ähnlich spektakulär verlief die Entwicklung in anderen Bereichen, insbesondere in der Wissenschaft und im Bildungssektor. Konnte bis Anfang der 1970er Jahre noch jede zweite Person weder lesen noch schreiben, so liegt der betreffende Wert heute bei unter 20 % der Erwachsenen. Ursache der Entwicklung ist der massive Ausbau der Elementarbildung, deren Teilnehmerzahlen gerade im letzten Jahrzehnt gemäß Unesco regelrecht „explodiert“ sind. Aber auch das sekundäre und das tertiäre Bildungswesen haben enorm zugelegt. Um nur ein Beispiel aus dem tertiären Bereich zu nennen: Die Population der Hochschulstudenten, die 1970 bei knapp 30 Millionen lag, hat sich bis 2000 mehr als verdreifacht (auf ca. 100 Millionen). Das ist eine beträchtliche Steigerung. Aber dann schwoll sie binnen lediglich 7 Jahren um nochmals 50 Millionen an (auf 152.5 Millionen in 2007), und eine Abflachung der Aufwärtsbewegung ist nicht in Sicht. Gemessen an der Zahl publizierter Artikel, die zwischen 1980 und 2009 von 450.000 auf 1.500.000 pro Jahr gestiegen ist, verzeichnete auch das Wissenschaftssystem eine Expansion, die, absolut gesehen, eine Beschleunigung des Wissenszuwachses markiert, für die es historisch keine Parallele gibt.
Man könnte so fortfahren. Die Weltbank schreibt in ihrem jüngsten Entwicklungsbericht, nie zuvor habe sich die Lage der Frauen so rasant und tiefgreifend „verbessert“ – Fortschrittsskeptiker mögen das Wort im Geiste durch „verändert“ ersetzen – wie in den letzten 40 Jahren. Nie zuvor gab es einen so steilen Rückgang der Fertilitätsraten, nie einen größeren Urbanisierungsschub, nie eine größere Ausweitung des Zugangs zu Massenmedien (bei gleichzeitig enorm gewachsener Medienvielfalt), nie mehr Mobilität usw. Räumlich konzentriert das Gros dieses Wandels sich auf Weltgegenden außerhalb des entwickelten Westens. Dort wurden vielerorts binnen kurzer Zeit eine Reihe von Schwellenwerten überschritten, die modernen Lebensverhältnissen, wie sie zuvor mit wenigen Ausnahmen (wie z.B. Japan) nur im Westen verbreitet waren, erstmals auf breiter Front zum Durchbruch verholfen haben. Teilweise handelt es sich bei den betreffenden Wandlungen um die beschleunigte Ausbreitung vertrauter Phänomene (wie z.B. Prozesse der Landflucht und Urbanisierung; der Umstellung des Wirtschaftsgeschehens auf den sekundären und den tertiären Sektor; der Wohlstandsmehrung; des demographischen Wandels; der Inklusion ins Bildungswesen; der Einforderung und Ausweitung politischer Partizipationsgelegenheiten; des Aufbaus von Forschungs- und Entwicklungskapazitäten usw.), teilweise um Entwicklungssprünge (in der Transport- und Kommunikationstechnologie, aber auch z.B. in der Biotechnologie), die Übergänge zu qualitativ neuartigen Verhältnissen markieren, weil sie Möglichkeiten der Vernetzung von Sozialräumen und der Umgestaltung der Sozial- und Naturverhältnisse geschaffen haben, die in dieser Form einzigartig sind.
Der globale Durchbruch moderner Lebensverhältnisse, wie ich ihn vorstehend stichwortartig skizziert habe,ist ein Novum von welthistorischer Bedeutung, das wissenschaftlich noch kaum verarbeitet ist. Er markiert die Heraufkunft einer „anderen Welt“, einer Welt, die uns in vielerlei Hinsicht vertraut ist, sich zugleich jedoch radikal von ihren Vorläufern unterscheidet. Wenn ich recht sehe, dann findet dieser Wandel in den Analysen und Reflexionen des soziologischen mainstreams bislang nicht die ihm gebührende Beachtung. Dabei spricht einiges dafür, dass er in der Summe seiner Einzelerscheinungen, womöglich auch in seinen Konsequenzen, alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt.
Zur Erfassung des genannten Wandels bietet sich das Konzept der globalen Moderne an. Es folgt der (und stützt die) Annahme, dass die Entwicklung einer globalen Soziologie, die die gesamte Welt als einen singulären, wenn auch in vielerlei Hinsicht ununeinheitlichen und segmentär in Nationalstaaten differenzierten Sozialraum fasst, unter heutigen Bedingungen sowohl zeitgemäß als auch möglich ist. Der Begriff selbst findet seit geraumer Zeit Verwendung in der Soziologie, aber bislang geschieht das meist ad hoc und unsystematisch. Gemeinsam mit meinem Kollegen Misha Petrovic arbeite ich daran, ihn theoretisch tieferzulegen und zu einem analytischen Bezugsrahmen auszuarbeiten, der eine Vielzahl von in der Globalisierungsliteratur meist separat behandelten Prozessen bündelt und dadurch in ihren Wechselwirkungen verständlich macht. Zugleich dient er uns zur Kennzeichnung einer eigenen Phase moderner Entwicklung, deren Beginn wir grob auf das Millennium (plus/minus etwa 20 Jahre) terminieren.
Ausgangspunkt meiner eigenen Konzeptualisierung ist Parsons‘ Unterscheidung von Gesellschaft, Kultur, Person und Verhaltensorganismus. Sowohl der deduktive Modus ihrer Herleitung als auch die inhaltlichen Bestimmungen, die Parsons den Komponenten seines Schemas gibt, müssen wohl als überholt gelten. Was gleichwohl für das Schema spricht, ist dessen heuristische Fruchtbarkeit. Es hat nämlich den Anschein, als sei es besser als die zur Zeit im Angebot befindlichen Alternativmodelle geeignet, der Komplexität des globalen Wandlungsgeschehens gerecht zu werden. In dieser Funktion eines Suchschemas zur Kartographierung des Feldes verwende ich es. Modernisierung erscheint dann als ein vierdimensionaler Prozess, der grundlegenden Wandel in allen vier Dimensionen beinhaltet, wobei die Wandlungsprozesse in den einzelnen Dimensionen wechselseitig miteinander verschränkt sind.
Hält man sich an dieses Schema, dann lassen sich stichwortartig folgende grundlegendeTrends der Modernisierung identifizieren, von denen angenommen wird, sie stellten allgemeine Merkmale von Modernität dar:
(1) Modernisierung der Gesellschaft(= eines von mehreren sozialen Systemen): Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme
(2) Modernisierung der Kultur: Rationalisierung; Kontingentsetzung und Reflexivität sozialer Ordnung; Wertverallgemeinerung
(3) Modernisierung der Person: Individuierung; Herausbildung reflexiver Identitäten und multipler, aktivistischer Selbste
(4) Modernisierung des Organismus: Disziplinierung und (Selbst-)Perfektionierung des menschlichen Körpers
Gesetzt den Fall, das Schema bietet einen brauchbaren Ansatzpunkt für modernetheoretische Analysen, dann sollten die für die einzelnen Dimensionen des Modernisierungsgeschehens herausgestellten Strukturmuster universelle Entwicklungstrends, Konstanten der Modernisierung benennen, die sich überall abzeichnen, wo moderne Arrangements vormoderne Strukturmuster ablösen, und sie sollten umso stärker zur Geltung kommen, je mehr Modernes sich in den Vordergrund schiebt. Globale Moderne hieße dann, dass die Transition zur Modernität so weit vorangeschritten ist, dass moderne Strukturmuster der ganzen Welt unausweichlich ihren Stempel aufdrücken. Diese Strukturmuster sind zugleich verantwortlich für den beispiellosen Expansionismus des gegenwärtigen Zeitalters – nicht nur in der Wirtschaft, sondern in nahezu allen Teilbereichen der Gesellschaft, deren Komplexität unterschätzt und deren Dynamik verniedlicht wird, wenn man sie als „kapitalistisch“ fasst. Niemand dürfte das klarer gesehen haben als Niklas Luhmann.
Die hier nicht näher zu belegende These ist, dass Entwicklungen der genannten Art sich in der Tat weltweit abzeichnen. Eine weitere These ist, ich hatte es schon angedeutet, dass der globale Durchbruch moderner Sozialverhältnisse ein relativ rezentes Phänomen ist. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf Begriffe wie Hoch-, Spät- oder Postmoderne, die seit einigen Dekaden durch die europäischen und nordamerikanischen Gazetten geistern. Nimmt man eine globale Perspektive ein und orientiert man sich an den im 20. Jahrhundert geläufigen Indikatoren für Modernität, dann scheint es nämlich nur wenig übertrieben zu sagen, die Transition zur Moderne befinde sich in gewisser Weise noch am Anfang, weil moderne Strukturmuster in großen Teilen der Welt erst jetzt auf breiter Front Wurzeln zu schlagen beginnen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die genannten Begriffe als Ausdruck einer bemerkenswert parochialen Sichtweise. Denn abgesehen von ihrem analytisch ohnehin zweifelhaften Wert, konnte man, wenn überhaupt, dann nur in Europa und Nordamerika auf die Idee kommen, man befände sich inmitten einer Phase des Übergangs zu einem neuen, nachmodernen Zeitalter. Wer so denkt, denkt die gesamte Welt vom Westen her, behandelt den Westen als Nabel der Welt und den „Rest“ als sozialtheoretisch vernachlässigbare Größe.
Das hat seit langem Tradition und ist insofern keine Besonderheit dieses speziellen Diskurses. Gleichwohl ist es nicht frei von Ironie, dass er just zu einem Zeitpunkt aufkommt, da die Welt, im Westen weithin unbemerkt, sich modernisiert wie nie zuvor und damit die Grundlagen für die Vorherrschaft des Westens und für den epistemologischen Primat, den er sich lange Zeit nicht ganz zu Unrecht selbst bescheinigt hatte, wahrscheinlich unwiederbringlich erodiert. Nicht an der Schwelle zu einem postmodernen Zeitalter, wohl aber zu einem postwestlichen Zeitalter befanden wir uns im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Und wenn nicht alles täuscht, dann ist diese Schwelle mittlerweile überschritten. Wir bleiben modern, aber in Zukunft werden wir „anders“ modern sein, und die Parameter dieses Andersseins werden nicht (mehr alleine) „wir“ bestimmen, sondern zunehmend die „Neuen“, die „Anderen“, die sich auf viele Orte in allen Teilen der Welt verteilen. Das kann, wer die Entwicklung von Asien aus betrachtet, leichter sehen, weil dort die Zahlen und Statistiken, die sich überall abrufen lassen, durch die gelebte Wirklichkeit des Alltags eine erfahrungsgestützte Evidenz gewinnen, die ihnen in (West-)Europa einstweilen noch abgehen mag. Aber sie betrifft auch Europa, und dass man sie nicht sieht, macht sie nicht weniger real. Grund genug also, sich mit ihr zu befassen.
Dafür möchte ich hier werben: Liebe Kollginnen und Kollegen, erweitert Euren Beobachtungshorizont, befreit Euch von den geistigen Fesseln des Eurozentrismus und des methodologischen Nationalismus, interessiert Euch nicht nur für Europa und für Deutschland, sondern für die Welt.