Von der populären Kultur zum populären Wissen (Schluß)

Im letzten Teil (3) habe ich argumentiert, dass die massiven Veränderungen der Kommunikationsstrukturen ebenso massive Folgen für die Struktur des gesellschaftlichen Wissens haben, die ich mit dem Begriff des „populären Wissens“ charakterisieren möchte. Für den Blog möchte ich Überlegungen weiterführen, die ich an anderer Stelle schon begonnen habe. Dem Thema wird auch ein kleines Rundgespräch gewidmet, das im September in Tübingen stattfinden wird.
Der Begriff des populären Wissens schließt an meinen Überlegungen zur „populären Religion“ an (Knoblauch 2009). Er darf jedoch nicht als eine Übertragung aus dem „System“ der Religion verstehen (obwohl ich sie für noch immer sehr „kulturbedeutsam“ halte). Denn die These der populären Religion besteht ja gerade darin, dass religiöses Wissen immer weniger von den auf Religion spezialisierten Institutionen verwaltet, vermittelt, ja möglicherweise kaum mehr entscheidend von ihnen geprägt wird. Vielmehr zeichnet sich in der religiösen Kommunikation eine Ablösung von den institutionellen Strukturen ab, wie sie in allgemeinerer Form als (natürlich keineswegs vollständige) Umstellung von einer „diskursiven“ zu einer „dialogischen Kommunikationsstruktur“ skizziert wird. Wie aber ebenso schon erwähnt, ist es mit der „Dialogizität“ dieser Kommunikationsstruktur keineswegs so weit her, wie man hoffen könnte. Ich denke, dass man sie besser durch den Begriff des „populären Wissens“ bezeichnen könnte.

Populäre Kultur

Obwohl das „Populäre“ (in der Nachfolge des „Volkstümlichen“ bzw. der „Folklore“) vor allem mit den „Cultural Studies“ in den Mittelpunkt des sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt und ein beliebter Gegenstand intellektueller Diskurse ist, musste ich in meiner Arbeit an der „Populären Religion“ feststellen, dass der Begriff einer entschiedenen Revision bedarf. Vor der Kontrastfolie der bekannteren, bisherigen theoretischen Konzepte möchte ich deswegen auf die neuen Aspekte des Populären hinweisen
Seine wesentliche Prägung hat der Begriff einmal aus der kritischen Theorie erfahren, die das Populäre als ein Produkt der „Kulturindustrie“ ansieht: Die Anwendung der rationalen und entfremdenden Methoden auf die Produktion von sinnhaften Gütern der Kultur ist verbunden mit einer Standardisierung, Verflachung und Irreführung (als „falsches Bewusstsein“) auf der Seite der Konsumenten, der auf der Seite der „bewusstseinsindustriellen“ Produzenten Gewinnmaximierung und manipulative Techniken gegenüberstehen (Kausch 1988). Religion und auch ihre „okkulten“ Formen (wie etwa die von Adorno [1957] untersuchte Astrologie) dienen hier lediglich als Verbrämung eines eigentlich von der rationalisierten Industrie fremdgesteuerten Lebens.
Dieses Konzept des Populären wird zum anderen von den Cultural Studies geprägt, die daran jedoch wesentliche Änderungen vornehmen (Winter, Mikos 1999). Für die Cultural Studies ist Kultur ebenso Teil der ökonomischen Produktion, trägt aber zur Aufrechterhaltung der dominanten Ideologie“ (Fiske 2001: 28) bei. Allerdings werden diese Bedeutungen von den Rezipienten keineswegs einfach übernommen, sondern „decodiert“: Sie werden durch die in den jeweiligen sozialen Klassen bestehenden Praktiken auf je besondere Weise angeeignet. Diese Praxis der Aneignung führt dazu, dass Formen des „populären Wissen“ entstehen, die zwar auf das „offizielle“ Wissen bezogen bleiben, dieses aber aus ihrer Perspektive umdeuten, die auch Quelle eigener Wissensbestände ist.
Auch wenn die Cultural Studies die Möglichkeiten differenter Aneignungen dessen, was medial vermittelt wird, einräumen, so bleiben sie dennoch entschieden an einem Modell orientiert, das Ähnlichkeiten zur „diskursiven Kommunikationsstruktur“ aufweist. Sie führt, grob gesagt, dazu, dass die institutionell spezialisierte Institutionen sozusagen „monopolartig“ die Wissensvermittlung kontrollieren, besonders scharf formuliert in Althussers (für die Cultural Studies so einflussreichen) „ideologischen Staatsapparaten“ (Knoblauch 2010: 230ff.). In der Tat wirken die formal stark organisierten Institutionen der Massenmedien (neben den Zugangskontrollen zu Wissen in Institutionen) als soziale Kontrollen für die Wissensvermittlung – wie nicht nur an der Zensur, sondern auch am „Bildungsauftrag“ erkennbar wird.
Neben die institutionell organisierten Zugangskontrollen und die Massenmedien treten allerdings, wie erwähnt, nunmehr netzwerkartige Kommunikationsstrukturen. Weil diese Strukturen die als Wissen genutzten Informationen nicht mehr scharf regulieren, kommt es deswegen zur ebenfalls schon erwähnten einer Öffnung des Zugangs zu Wissen. Der durch die Verbreitung der Technologie schrumpfende „Information Gap“ zwischen arm und reich führt dazu, dass immer mehr Menschen Zugang zum unterschiedlichsten Wissen haben. Da dieses Wissen weitgehend über technische Abläufe zugänglich ist, nimmt dieser Zugang zwar Züge einer technischen „Interaktion“ an, die nur begrenzt die Hoffnung auf eine Verstärkung der Dialogizität erfüllt. Das Wissen zeichnet sich vielmehr durch das aus, was ich – im Unterschied zur „populären Kultur“, die einer „Expertenkultur“ und ihren spezialisierten Institutionen gegenübergestellt ist – als populäres Wissen bezeichnen möchte.

Populäres Wissen
Während sich die populäre Kultur „dominante Kultur“ der herrschenden Klassen und der etablierten Institutionen bzw. Systeme definiert, zeichnet sich das populäre Wissen dadurch aus, dass auch das institutionell spezialisierte Wissen prinzipiell für alle zugänglich ist. Wir haben es also mit einer Entgrenzung des institutionalisierten Wissens zu tun. Auf diesen Aspekt des Populären weisen erstaunlicherweise systemtheoretische Autoren hin (Huck/ Zorn 2007). Erstaunlich ist dies, weil die Systemtheorie ja darauf besteht, dass die gegenwärtige Gesellschaft durch die „funktionale Differenzierung“ in verschiedene Systeme der Kommunikation und damit des institutionalisierten Sonderwissens geprägt ist (vgl. den Kommentar). Das Populäre ist nun für Huck und Zorn genau dasjenige, was diese differenzierungstheoretische Begrenzungen überschreitet hinweg: Es ist das Scharnier zwischen dem Menschen als (außersozialem) psychischen und organischen System auf der einen Seite und den funktional differenzierten Systembereichen auf der anderen Seite.
Was das bedeutet, haben wir schon mit Blick auf die Wissenschaft und die Wissensgesellschaft angesprochen. Denn in dem Maße, wie die Wissenschaft ihr Wissen allzugänglich macht (etwa über Open Acces-Zeitschriften oder Massive Open Online Courses), löst sich die Bindung des Wissens von den institutionellen Strukturen: Wer immer will, kann sich nun über medizinische Fachprobleme informieren, und auch die soziologische oder philosophische Diskussion steht nicht nur jeder offen, sie kann auch in unterschiedlichen gängigen Formen geführt werden. Aus der Perspektive der Institutionen, die das Wissen tragen, könnte man diese Entgrenzung des Wissens auch als „Entstrukturierung“ beschreiben: Wissen löst sich nicht nur von der personalen Bindung an bestimmte Personen, Professionen und deren „Kompetenzen“. Mit dieser Lösung von Personen und Institutionen löst sich das wissen auch von institutionell geregelten Sequenzen des Wissenserwerbs. Es kommt deswegen zu einer Autodidaktisierung des Wissenserwerbs, deren Umfang, Form und Folgen in meinen Augen bislang viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und mit der Lösung von Personen werden auch die institutionellen Wissens-Ordnungen mit ihren zeitlichen – altes und neues Wissen – und räumlichen – „Grundlagen“, „Aufbau“ und „Anwendung“ – Dimensionen. Besonders die Auflösung der zeitlichen Dimension erzeugt eine sozusagen automatische „Dauerinnovation“: wenn es keine Rolle spielt, was schon als Wissen vorhanden war, ist Neuheit garantiert.)
Aufgrund der All-Verfügbarkeit „Information“ (die in der Nutzung zu Wissen transformiert wird) bezieht sich die Entgrenzung zwar nicht auf die Informationsstrukturen (deren „kommunikative Figuration, wie Andreas Hepp (2012) betont, besondere Beachtung verdient), wohl aber auf die Inhalte. Weil sich die Inhalte nicht von den Formen trennen lassen, kommt auch zu einer Entgrenzung der Formen. Das bedeutet nicht nur, dass akademische Veranstaltungstypen populär werden (man denke nur an die steile Karriere des „Seminars“, das sich seit den 1980er zu einer gesellschaftsweit verbreiteten Form entwickelt hat), sondern auch zur Aufnahme populärer Kommunikationsformen in der Wissenschaft: man denke nur an das Poster, die rasante Ausbreitung der (an die Comedy angelehnten) Science Slams, des Blog oder der Powerpoint-Präsentation (Knoblauch 2013). Man darf vermuten, dass die dramatische Evaluationswut dazu führt, dass auch die klassischen kommunikativen Gattungen der wissenschaftlichen Kommunikation der Forderung nach „Gefallen“ („like“) folgen müssen. Weil dem Gefallen eine durch die bloße Subjektivität begründete Präferenz (der alten Form „Otto? Find ich gut“) zugrunde liegt, erscheint dieses Gefallen auch mit Blick auf institutionalisierte Prozesse immer seltener als begründbar oder „kritisierbar“.)
Das führt uns auf die Rolle der Subjektivität des populären Wissens. Denn beim populären Wissen spielt zwar die (in verschiedener Hinsicht) weite mediale Verbreitung nach wie vor eine große Rolle, doch bleibt diese nicht mehr massenhaft, sondern ein „networked individualism“ (Castells 2009). Die „Nutzer“ sind nicht nur die Endpunkte und „Adressaten“ ihrer je eigenen Geräte; sie sind auch diejenigen, die von den Geräten zu den vorformatierten Entscheidungen gezwungen werden („Veröffentlichens“ im Blog; „Kaufen“ bei Amazon, „Like“ bei Facebook). Auch wenn die Nutzer durch die technisierten Kommunikation somit „subjektiviert“ werden, so bleiben diese Subjekte doch nicht leer: Sie suchen sich nicht nur das in einem so großen Detail heraus, was sie so persönlich interessiert, formulieren, was sie meinen oder zeigen, was sie sind, so dass man von einer „Psychologisierung“ des Sozialen reden kann. Wie etwa Boris Traue in seinen Analysen von You-Tube-Videos zeigt (2012), schaffen sie auch die Inhalte dessen, was kommuniziert wird, auf eine so subjektiv-kreative Weise, dass diese psychologische Innenwelt nicht nur weithin sichtbar zum Ausdruck kommt, sondern sich in Kommunikationsgemeinschaften stabilisiert, die sich in interaktiven Medienformaten bildet.
Die neue Rolle des Subjekts weist auf einen weiteren Aspekt des populären Wissens hin. Es ist die Tendenz zur Entgrenzung zwischen Privatem und Öffentlichem, die uns ja schon eingangs beschäftigt hatte (Imhof/Schulz 1998). Was noch vor wenigen Jahren als intimstes Geheimnis galt (etwa die sexuellen Geschmäcker, die religiösen Erfahrungen oder der eigene Bauchnabel) ist in einer enorm kurzen Zeit für eine riesige Menge an Menschen potentiell zugänglich – in Worten, als Bild oder gar als Video. Dabei weisen die informationstechnischen Möglichkeiten über das Panoptikon auf ein Synoptikon, wie es von Zygmunt Bauman erahnt wurde: nicht nur die Regierungsbehörden, alle haben Zugang zu allem und überwachen damit alles.

Entgrenzung und Grenzarbeit
Allerdings bedeutet schon die „Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit“ möglicherweise keine postmoderne Auflösung der Grenzen, sondern eine Verschiebung, Verlagerung, vielleicht sogar Vervielfältigung der Grenzen. Wenn die „Veröffentlichung der Person“ an die Stelle der Öffentlichkeit tritt, wie Han (2012: 59) vermutet, ist eine Intensivierung der Verrechtlichung der Person zu befürchten. Zudem kann man schon absehen, dass die spezialisierten Institutionen die Tendenzen zur Entgrenzung keineswegs widerstandslos hinnehmen. Vielmehr führt die wachsende Akzeptanz des Populären zu Konflikten an den Grenzen, die aufgegeben werden, wie auch den Stellen, an denen neue Grenzen gezogen werden. Dabei ist zu erwarten, dass die die spezialisierten Institutionen die Jurisdiktion über das von ihnen verwaltete Wissen zu verstärken suchen: So begegnen die wissenschaftlichen Disziplinen den von allen Seiten gestellten Anforderungen nach Offenheit, Verständlichkeit, Nutzen nach außen, Trans- und Interdisziplinarität mit einer zunehmenden Kanonisierung (Lehrbücher, Handbücher, curriculare Strukturen) sowie einer internen Auffächerung in immer mehr Subdisziplinen mit ihren eigenen Sprachen, Zeitschriften und Tagungen. Dazu gehört übrigens in meinen Augen jene Form der Didaktisierung, die die Vermittlung nach einem asymmetrischen Sender-Empfänger-Modell zuschneidet, das das Wissen der Kritik entzieht und damit auf eine Weise verdinglicht, die weniger dem Verständnis der „kritischen“ Wissenschaft als den Anforderungen der „Wissensgesellschaft“ entspricht.

Literatur

Adorno, T. W. (1957): The stars down to earth: The LA Times astrology column. A study in Secondary Superstition. Jahrbuch für Amerikastudien 19-88.
Castells, M. (2009): Communication Power. New York: Oxford University Press.
Fiske, J. (2001): Die britischen Cultural Studies und das Fernsehen, in: R. Winter, L. Mikos (Hg.), Die Fabrikation des Populären. Bielefeld, 17-68.
Gerhards, Jürgen (2001): Der Aufstand des Publikums. Zeitschrift für Soziologie 30,3, 163-184.
Hepp, Andreas (2013): The communicative figurations of mediatized worlds. Arbeitspapier 1 “Kommunikative Figurationen”. Bremen. http://www.kommunikative-figurationen.de/fileadmin/redak_kofi/Arbeitspapiere/CoFi_EWP_No-1_Hepp.pdf
Huck, C. , Zorn, C. (Hg.) (2007): Das Populäre der Gesellschaft. Zur Einleitung. In: Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden, 7-41.
Kausch, M. (1988): Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massenmedien. Frankfurt am Main.
Knoblauch, Hubert (2009): Die populäre Religion. Frankfurt am Main und New York.
Knoblauch, Hubert (2013): Powerpoint, Communication, and the Knowledge Society. Cambridge.
Rammert, Werner (2006): Die technische Konstruktion als Teil der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, in Dirk Tänzler, Hubert Knoblauch und Hans-Georg Soeffner (Hg.): Zur Kritik der Wissensgesellschaft, Konstanz: UVK
Traue, Boris (2012): Kommunikationsregime, in: Reiner Keller, Hubert Knoblauch und Jo Reichertz (Hg.): Kommunikativer Konstruktivismus. Wiesbaden: 257-274.
Winter, R., Mikos L. (Hg.) (1999): Die Fabrikation des Populären: Der John Fiske -Reader. Bielefeld: Transcript-Verlag, 17-68.

8 Gedanken zu „Von der populären Kultur zum populären Wissen (Schluß)“

  1. Lieber Herr Knoblauch,

    die Beschreibung der Symptome möchte ich nicht in Abrede stellen. Trotzdem möchte ich eine kleine Gegenthese aufstellen. Die Bildung dessen, was Sie als „populäres Wissen“ bezeichnen, entsteht nicht trotz sondern aufgrund der funktionalen Differenzierung. Jeder muss sich heute auf einen bestimmten Wissensbereich soweit spezialisieren, dass er in der Lage ist mit diesem Wissen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das führt dazu, dass sich nicht jeder auf dasselbe spezialisieren kann. Nichts desto trotz kann es trotzdem Freude machen sich mit bestimmten Themen oder Tätigkeiten zu beschäftigen ohne dass man das auf demselben Niveau tut, wie die Profis – zumeist in der Freizeit. Was allerdings nicht heißen muss, dass man auf diese durchaus Expertenniveau erreichen kann.

    Das Internet macht es heute sehr leicht, sich Zugang zu bestimmten Wissensbeständen zu verschaffen und fördert damit zumindest die Möglichkeit, dass immer mehr Menschen immerhin eine Art semiprofessionelles Wissen erreichen können. Auf der anderen Seite kann die autodidaktische Aneignung von Wissen auch dazu führen, dass es zu gravierenden Abweichungsverstärkungen zwischen Laien und Experten kommt. Dass kann die Autorität der Experten gefährden, was sich besonders bei Kommunikation außerhalb der institutionalisierten Kanäle, z. B. via Internet, bemerkbar macht. Interessant finde ich Ihre Überlegung, dass die Subjektivierung gerade durch den Entzug einer institutionalisierten Kontrolle Kritik unmöglich macht. Subjektivierung als Autoritätsgefährdung. Die Folge ist natürlich noch stärkere Institutionalisierung um eine kontrollierte Wissensvermittlung zu gewährleisten, was sich z. B. an der stärkeren Verschulung des Studiums zeigt. Funktionale und organisationsinterne Differenzierung schreitet also, getrieben durch die Populärkultur, immer weiter voran. So besteht zwar die Möglichkeit, dass jeder durch autodidaktische Wissensaneignung zum Experten werden kann. Praktisch wird das eine sehr seltene Ausnahme bleiben, weil die Latte durch institutionelle Barrieren immer höher gehängt wird.

    Die Frage ist, wo zieht man die Grenze zwischen Laien und Experten? Hier könnte der Grad der Subjektivierung ein wichtiges Kriterium sein, wenn diese mit vorhandener oder fehlender Kritikfähigkeit assoziiert wird. Wenn durch die Subjektivierung der Wissensbestände die eigene Position, ja sogar die eigene Person, der Kritik entzogen wird, dann könnte dies die Einstellung der Laien markieren. Hier wird die Beschäftigung mit bestimmten Themen oder Tätigkeiten zur Konstruktion personaler Einzigartigkeit verwendet. Entsprechend schlecht gehen die Personen mit Kritik um. Professionalisierung zeichnet sich auf der anderen Seite durch ein Bewusstsein, dass die Wahrnehmung einer bestimmten spezialisierten Rolle nicht primär der eigenen Imagepflege dient sondern der Wahrnehmung einer sozialen Funktion, aus. Kritikfähigkeit wird zu einem wichtigen Erfordernis für die professionelle Ausübung einer Funktion. Wer jede Kritik sofort persönlich nimmt, ist nur bedingt für die Ausübung einer hochspezialisierten Tätigkeit geeignet, weil es dazu gehört anzuerkennen, dass es noch andere Personen gibt, die genauso gut qualifiziert sind und damit auch in der Lage sind bei Problemen berechtigte Kritik zu äußern, die helfen kann die eigene Rolle besser auszuüben. Die Annahme einer solchen Kritik kann man auch als Lernen bezeichnen.

    Das Beharren auf Subjektivität wäre also ein Kriterium für Laienhaftigkeit während das Absehen von der eigenen Person ein Kritierum für Professionalität sein könnte. Gerade bei der professionellen Ausübung einer Funktion kann es nicht nur um facebookhaftes Liken gehen. Dabei spielen noch ein paar andere funktionsbezogene Kriterien eine Rolle. Die Resultate der Funktionsausübung können dann nicht mehr jedem gefallen. Das gilt es dann beidseitig vom Träger der Leistungsrolle und vom Klienten auszuhalten. Nichts desto trotz wird es beständig Versuche geben die Grenze zwischen Laien und Experten von der Laienseite her zu durchbrechen und die Autorität der Experten infrage zu stellen. Freier Informationszugang unterstützt diese Entwicklung noch. Hinsichtlich wissenschaftlichen Wissens kommt es z. B. zu einer Diffundierung des Wissens in die Umwelt und die Laien können zu den Experten aufholen (gesunkene Kulturgüter). Die Ironie dabei ist, dass die Möglichkeiten wissenschaftliche Autorität infrage zu stellen gerade durch die Verbreitung in die außerwissenschaftliche Umwelt gefördert werden. Entsprechend kommt es zu Schließungstendenzen durch noch stärkere Institutionalisierung, auch durch Beschränkungen des Zugangs zu bestimmten Wissensbeständen oder einfach indem man gar nicht erst die Öffentlichkeit sucht.

    So kann populäres Wissen die oben beschriebene Scharnierfunktion erfüllen. Aber nicht trotz sondern wegen funktionaler Differenzierung. Mehr noch, populäres Wissens forciert die Abweichungsverstärkung zwischen Laien und Experten und treibt auf diese Weise die funktionale, organisationsinterne und personale Differenzierung immer weiter voran. Sie beschreiben es am Ende selbst, die Entgrenzung trägt zur einer immer präziseren Grenzarbeit bei. Das sind Anzeichen für fortschreitende funktionale Differenzierung. Ob das allerdings zu einer Verrechtlichung führt, erscheint doch etwas zweifelhaft. Hier sind zunächst organisationsinterne Konfliktlösungsmöglichkeiten gefordert. Das kann nicht alles an den Staat ausgelagert werden ohne diesen zu überfordern.

    1. Lieber Beobachter der Moderne,
      es ist sicherlich richtig, dass das, was sie „funktionale Differenzierung nennen, Augsangspunkt für die Ausbildung des populären Wissens ist (ich bin, was die „Funktionalität“ der Differenzierung angeht, nicht ganz so überzeugt und rede deswegen lieber von „institutioneller Spezialisierung). Allerdings kommt die Ausbildung des populären Wissens dann (in Ihrer Begrifflichkeit) einer „Entdifferenzierung“ gleich. (Auch hier verwende ich Anführungszeichen, denn Darstellung der Moderne als einer bloßen Differenzierung stellt in meinen Augen eine etwas vereinseitigte historische Betrachtung dar, können wir doch etwa im Bereich der Religion „ganzheitliche“ Bewegungen schon während seit Anbeginn der Epoche beobachten, die als Moderne bezeichnet wird.) Deswegen werden auch die Unterschiede zwischen „Laien“ und „Experten“ wie auch zu den Professionen problematisch – übrigens gerade in dem Bereich der „Öffentlichkeit“ (man denke nur an die gegenwärtigen Probleme des professionellen Journalismus). Hier geht es denn auch nicht einfach um eine Scharnierfunktion. Zwar übernimmt (wie ich vermute) das, was ich als populäres Wissen bezeichne, die Rolle, die das „Allgemeinwissen“ bzw. der „Common Sense“ spielte, doch trifft dies auf den keineswegs ohnmächtigen Widerstand derjenigen, die spezialisiertes Wissen beanspruchen, so dass wir es mit Konflikten zu tun haben, die nicht zur „Präzisierung“, sondern zur Fragmentierung, Pluralisierung oder interpretativen (i.e. kommunikativen) Verlüssigung der Grenzen beitragen kann. Hier endete die Debatte um die Postmoderne, späte Moderne, zweite Moderne usw. Und hier setzt meines Erachtens auch die Aufgabe an, die sich für „Beobachter der Moderne“ stellen – eine Aufgabe, die zwar theoretische Optionen (etwa in Form von Alternativen zu Modellen der „funktionalen Differenzierung“) beinhaltet, indes empirische Evidenz erfordert. (Gerade für die jüngeren Entwicklungen scheint mir dabei der einbezug zeitgeschichtlicher Überlegungen förderlich – allerdings, soweit ich sehe, als Desideratum).
      Beste Grüße und einmal mehr: Dank für Ihre Beiträge!
      Hubert Knoblauch

      1. Lieber Herr Knoblauch,

        ja, es kommt sicherlich darauf an, was man unter Differenzierung versteht. Hier die Unterschiede zwischen der allgemein – auch systemtheoretischen – Lesart gegenüber meiner darzustellen, würde den Rahmen sprengen. Darum wird sich mein nächster Blog-Beitrag drehen. Mein obiger Text kann auch nur eine grobe Skizze sein, die bei der Diskussion von Einzelphänomen noch präzisiert werden müsste. Von Fall zu Fall würde sicher die Diagnosen Entdifferenzierung, Fragmentierung und Pluralisierung zu treffen. Ich würde aber die Alternative „Präzisierung“ auch nicht ausschließen. Die Fälle Religion und Massenmedien stellen sich etwas schwieriger dar. Hinsichtlich Religion kommt es aus meiner Sicht darauf an, wie weit man den Begriff Religion fasst. Die Vielfalt religiöser Erfahrungen beschränkt sich heute nicht mehr nur auf institutionalisierten Formen, was man noch klassisch mit organisierten Religionen verbindet. Ich denke hier z. B. an Hobbies (Extremsportarten, Sportclubs, Fanclubs von Sportvereinen oder Popstars, Computerspieler-Communities u. ä.). Was ich an Goffman und Collins so spannend finde, sind ihre Versuche im Anschluss an Durkheim dem Heiligen bis in die profansten Alltagssituationen nach zu spüren. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Verwertbarkeit des geschriebenen Wortes sehe ich das Problem – allerdings noch keine Lösung. Dass die Ergebnisse von zum Teil jahrelanger Arbeit nicht angemessen honoriert werden, ist zweifellos ein Problem.

        Mit Moderne ausschließlich funktionale Differenzierung in Verbindung zu bringen, halte ich für eine zu enge Bestimmung des Begriffs. Leider ist bei der Luhmann Rezeption hauptsächlich das hängen geblieben und möglicherweise ist es auch das, was Luhmann sagen wollte. Mein eigenes Verständnis schließt allerdings noch andere Aspekte mit ein, die ich allerdings nicht in der gebotenen Tiefe ausführen kann. Leider habe ich dazu noch nichts geschrieben. Wer meinen Blog liest kann es vielleicht erahnen. Es betrifft vor allem die Stellung des Menschen. Die Abgesänge auf die Moderne halte ich allerdings für verführt. Mein Eindruck ist eher, dass wir noch gar nicht richtig in der Moderne angekommen sind, sondern uns immer noch im Übergang von der Vormoderne zur Moderne befinden – also in einer Art liminalen Phase im Sinne von Victor Turner. Das könnte viele der Krisenerscheinungen erklären, die gerne der Moderne zugeschrieben werden.

        Viele Grüße

  2. ich bin mir ja nicht so sicher ob man mit einer so normativen Definition (Selbstkritikfähigkeit möchte ich Metas Ausführungen einmal nennen) weiterkommt, ober ob die klassische Perspektive, dass Expertise vor allem etwas zugeschriebenes, das über legitimationsapparate aufrechterhalten wird bedeutet (im Extremfall bei Professionen, die das Wissen systematisch kontrollieren).

    Richtig ist sicherlich dass der Zugang zu diesen Wissensbeständen nun scheinbar leichter möglich ist, die Frage ist ob hierbei auch die Systematik des Wissens übernommen wird oder ob es bei „Beer Mat Knowledge“ (wie es Collins in seinem Buch „Expertise“ nennt bleibt). Seine Unterscheidung von
    Alltagswissen – Beer Mat Knowledge – Interactional Knowledge – Contributory Knowledge halte ich im übrigen für eine schöne Erweiterung des Schütz-schen Modells…

      1. @juxtaposed

        Mein obiger Entwurf war zunächst relativ spontan runtergeschrieben, der aber beim zweiten Blick ganz gut zu meinen bisherigen Überlegungen zum Thema Kritik passen. Ich sehe es weniger als eine normative Definition. Vielmehr speist sie sich eher aus praktischen Erwägungen (siehe Abschnitt VIII hier: http://goo.gl/XpX4B3 ). Das wiederspricht aber nicht der Annahme, dass Expertise eine Zuschreibung ist. Ich mache das bloß nicht von irgendwelchen Legitimationsapparaten abhängig. Ich schließe da eher an Luhmanns Begriff von fachlicher Autorität an, die dann zugeschrieben wird, wenn man regelmäßig auf fachliche Fragen sachdienliche Antworten gegeben kann – oder eben auch sachdienliche Kritik. Dafür kann man nicht auf Legitimationsapparate zurückgreifen sondern muss aus sich selbst schöpfen. Man erarbeitet sich dann einen entsprechenden Ruf unter Kollegen. Dieser Begriff von fachlicher Autorität lässt sich zudem auch mit meinen eigenen Erfahrungen im Positiven wie im Negativen ganz gut vereinbaren. Kritikfähigkeit ist für mich aber nicht das einzige Kriterium, an dem ich Professionalität festmachen würde.

        Welche Profession kontrolliert das eigene Wissen systematisch – außer vielleicht Geheimdienste? Den Eindruck, dass Autorität über Legitimationsapparate zugeschrieben wird, halte ich m. E. nicht für zutreffend. Hier ist es häufiger das fehlende Wissen über das anschlussfähige Verhalten in einer Klientenrolle. Beim Recht geht es ja zum Beispiel schon so weit, dass das Wissen so spezialisiert ist, dass man die Wahrnehmung der Klientenrolle an einen Vertreter, den Rechtsanwalt, abgeben muss. In anderen Fällen, bei denen man die Wahrnehmung einer Rolle nicht delegieren kann, werden Coaches in Anspruch genommen.

        1. Liebe/r juxtaposed,
          Natürlich ist die Legitimation nur ein Aspekt der Sicherung des Wissens; die andere ist, bekanntermaßen, die schiere Institutionalisierung, mit der ja auch die Ausbildung von Rollen zusammenhängt. Und natürlich wird jede Institution, die ihre Wissensvermittlung spezialisiert, dieses Wissen dann auch kontrollieren (wie im Artikel http://www.bpb.de/apuz/158653/wissenssoziologie-wissensgesellschaft-und-wissenskommunikation) ausgeführt).
          Genau bei der seit den 1960er Jahren problematisierten Definition der Rolle (die mit der „interpretativen Wende“ zusammenhängt; männlich, weiblich, Lehrer etc.) zeigt sich aber das Problem ja auch sehr deutlich – übrigens gerade auch bei den Coaches, wie Boris Traue in seiner Arbeit zu diesem Thema ja sehr schön gezeigt hat.
          Beste Grüße
          Hubert Knoblauch

  3. Lieber Hubert Knoblauch,

    es freut mich, dass Sie in umsichtiger Weise die strukturelle Veränderung des Wissens darstellen, ohne dabei das Potenzial neuer Kommunikationstechnologien, bzw. die Erwartungen die in der Öffentlichkeit und in anderen Fachdisziplinen an das Social Web formuliert werden, zu überschätzen.

    Vielen Dank für Ihre Beitragsserie.

    Gruß
    Michael Karbacher

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