Mein Plädoyer für mehr Nachdenklichkeit bei dem Einsatz und der Auswertung von Interviews (siehe letzter Blog) sollte kein Aufruf sein, in der Zukunft das zu machen, was die Alten vor 40 Jahren gemacht haben (back to the roots). Sondern es ging mir darum, gemeinsam darüber nachzudenken, ob die heute (fast flächendeckend) anzutreffenden Interviews noch das erreichen, was sie einmal erreichen sollten. Das tun sie nämlich aus meiner Sicht nicht mehr.
Wenn das so wäre, dann wäre es wichtig zu überlegen, wie die Interviews unter den aktuellen Bedingungen das erreichen können, was sie erreichen sollen. Angesichts der teils gravierenden Folgen, die sozialwissenschaftliche Studien (auch für die Interviewten) haben, ist eine methodologische Gedankenlosigkeit unangebracht. Doch was war das Ziel der frühen Qualitativen Sozialforschung? Hier eine kurze Zusammenfassung, die auch den Wandel sichtbar werden lässt.
Die qualitative Sozialforschung ist in den 1970er Jahren (nicht nur) in Deutschland mit dem Anspruch angetreten, dem Subjekt zu seinem Recht zu verhelfen, seiner Weltsicht, seinen Hoffnungen und seine Befürchtungen einen Ausdruck zu geben. In Frontstellung zur quantitativen Sozialforschung, die sich allein für das Äußere des Subjekts interessierte, hielt es die qualitative Sozialforschung für wichtig und notwendig, die Binnensicht der Subjekte zu berücksichtigen, wollte man deren Agieren verstehen und erklären.
Der qualitativen Sozialforschung ging es also um den Sinn der Subjekte – wobei allerdings von Anfang an zwei Richtungen darüber miteinander stritten, was mit ‚Sinn’ eigentlich gemeint ist bzw. sein soll. Die eine, die eher verstehend orientierte Richtung, ging davon aus, dass das Handeln der Subjekte nur dann verstanden und erklärt werden kann, wenn das sinnhafte (bewusste) Tun der Handelnden dabei maßgeblich erfasst und berücksichtigt wird. Dieser subjektive Sinn war es, den es zu ermitteln galt, weil nur so das Verhalten der Subjekte adäquat verstanden werden kann.
Einer anderen, eher kritisch orientierten Richtung der Sozialforschung, ging es zwar auch um die Sinnhaftigkeit von Handeln, aber sehr viel mehr um die Erreichung eines sinnvollen Lebens und um die Aufhebung von Entfremdung. Ziel dieser Art der qualitativen Forschung war nicht nur die Sinnhaftigkeit des Handelns der Subjekte zu erkennen, sondern auch zu fordern, dass mehr Sinn im Leben der Subjekte sein solle. Die bestehenden Verhältnisse wurden entsprechend kritisiert und es galt, diese entweder zu überwinden oder das Leiden daran zu therapieren.
Beide Richtungen der qualitativen Sozialforschung wandten sich anfangs der gesamten Komplexität menschlichen Handelns zu (Gestik, Mimik, Haltung, Situierung, Sprechen etc.), mussten jedoch bald feststellen, dass die Medien der Fixierung dieses Handelns (also die damaligen Methoden der Datenerhebung) nicht das gesamte komplexe Handeln fassen konnten, sondern nur bestimmte Ausschnitte: Also vor allem das, was sich mittels der damaligen Aufzeichnungsmedien (=Tonbänder) festhalten ließ. Zwar wurde anfangs auch vereinzelt versucht, die Situation als ganze, z.B. mittels analoger Kameras, abzubilden, das stellte sich jedoch bald als sehr schwierig und nicht handhabbar heraus – eine Einschätzung, die sich angesichts neuer digitaler Aufzeichnungs- und Transkriptionsmedien aktuell ändert.
Da die Tonbandgeräte nur Töne und hier vor allem nur den sprachlichen Teil des kommunikativen Handelns festhalten konnten, wurden die Verschriftlichungen des Sprechens, also Texte, zum zentralen Datum qualitativer Forschung. So wurde in der qualitativen Sozialforschung schon sehr früh kommunikativem Handeln auf Text reduziert, was keineswegs identisch ist, sondern sich bedeutsam unterscheidet. Für viele Sozialwissenschaftler wurde die Welt zum Text und die qualitative Sozialforschung geriet vielen zur Textwissenschaft. Nach dieser Etablierung des Textes als entscheidendes Datum und der maschinellen Tonaufzeichnung als zentrales Datenfixierungsmedium, konzentrierte sich die Sozialforschung auf diese Verfahren der Datenerhebung und der Datenauswertung – und dünnten die Komplexität der Situation und die der Kommunikation drastisch aus.
Sozialforschung und Medienentwicklung durchdrangen einander – wobei letztere ganz massiv die Art und den Inhalt der Sozialforschung änderte. Dabei geriet der ‚Sinn’ der Subjekte immer mehr aus dem Blick der Sozialforschung – nicht immer zum Vorteil der qualitativen Forschung. Auch das Interview änderte sich. Statt vor einem Interview erst einmal eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen (was Zeit kostet) und dann dem Gegenüber das Erzählen zu überlassen (was noch mehr Zeit kostet), fragt die Forschung immer öfter fokussiert nur noch das, was sie interessiert – für die subjektive Weltsicht und damit für ein angemessenes Verstehen bleiben weder Zeit noch Ort. Das mag effektiv sein, aber sicher nicht sinnadäquat.
Vor allem öffnet sich der befragte Mensch nicht mehr gegenüber einem Forscher, einer Forscherin, der/die an seiner Sicht der Welt interessiert ist, sondern er nutzt sein Gegenüber, um strategische Identitätsarbeit zu leisten. Insofern spielen beide das gleiche Spiel.
Sehr geehrter Herr Reichertz,
nach der Lektüre einiger Ihrer Blogbeiträge möchte ich sie nun scharf kritisieren – ich hoffe, Sie verstehen das als konstruktive Kritik. Ich stimme zwar einigen Ihrer Schlussfolgerungen zu, doch die Argumentation und die Rhetorik Ihres Textes scheint mir fehlgeleitet zu sein.
1. Sie denken zu sehr an große Organisationen. Die meisten beforschten Gruppen haben nicht die (intellektuellen?) Ressourcen, Interviews gezielt zu manipulieren, da sie deren Methodik nicht durchschauen. Das gilt auch für viele kleinere Organisationen, NPOs usw. – und verstärkt bei „indirekten“ Methoden wie Diskursanalyse und anderen linguistisch geprägten Auswertungsmethoden, die in den letzten Jahren oft auch von Sozialwissenschaftlern genutzt / beherrscht werden. Sicherlich lügen Befragte Personen heute wie früher (gerade auch das Großmütterchen, das seine Lebensgeschichte erzählt und vorher schon 20 mal den Enkeln erzählt hat). Aber das kann man keinesfalls als gezielte Manipulation verstehen, ich war bisher im Gegenteil regelmäßig schockiert, nach wie kurzer Zeit Interviewpartner ihre rassistischen und sexistischen Meinungen sagten (obwohl ich das normalerweise gar nicht gefragt hatte).
2. Sicherlich gibt es qualitative Scharlatanerie (Wie die Frage: „Diskriminieren Sie ausländische Schüler?“) – aber insgesamt würde ich sagen, die Methoden der Sozialwissenschaften haben sich seit den 70ern enorm entwickelt – hier darf man nicht die wenigen „Genies“, deren Werke zu recht die Zeit überdauert haben als Maßstab nehmen (was Sie m.M. nach tun).
3. Ein Problem für die akademische Soziologie ergibt sich m.M. vor allem, wenn das Vorgehen nicht Transparent ist – ansonsten weiß man schon, was man von Arbeit A, die Leitfaden B genutzt hat, zu halten hat (gerade bei fokussierten Interviews). Man sollte also eher anklagen, dass qualitative Forscher bis heute die Transparenz nicht ernst genug nehmen. Die Möglichkeiten, Transparenz zu schaffen sind aber in letzter Zeit ebenfalls enorm gestiegen.
4. Die oben erwähnten „Scharlatane“ der qualitativen Forschung haben oft ganz eigene Interessen / Agendas, für deren Zweck sie die Sozialwissenschaften Instrumentalisieren (z.B.: Doktortitel für die Karriere abstauben, eigene Interventionsprogramme oder politische Meinungen legitimieren etc.). Die von Ihnen kritisierten „Fokussierten Interviews“ haben dann auch in „pragmatischeren“ Fächern (etwa Marketingforschung) weit mehr Gewicht als in der Soziologie. Diese Entwicklung ist der (unerwünschte?) Nebeneffekt einer Aufwertung der Sozialwissenschaft als gesellschaftliches Steuerungs- und Legitimationsinstrument. Das kann man kritisieren oder bedauern. Es macht aber die bisherigen methodischen Standards nicht obsolet, sondern führt höchstens dazu, dass Forscher sich nicht an die Standards halten.
6. Insgesamt stimmte ich Ihnen zu, dass höhere Reflexion und vor allem rigorose Qualitätsstandards in der qualitativen Forschung sinnvoll wären. Dazu könnte vieles gehören, u.a. mehr Transparenz durch mehr Beigaben im Internet, stärkere Qualitätskontrollen auch bei Buch- und Sammelbandveröffentlichungen usw. Ich glaube aber, Ihre hier verfasste Kritik projiziert v.a. die Spezialprobleme der Forschung in ressourcenstarken Großorganisationen auf die gesamte Sozialforschung – unzulässiger weise. Und vor allem die „kulturpessimistische“ Rhetorik halte ich für unangemessen, da sich die qualitativen Methoden m.M. im Vergleich zu früher deutlich verbessert haben.
7. In Bezug auf die Kommentare zu Ihren Artikeln möchte ich anmerken: Methodenkombinationen sind keineswegs immer überlegen. Aus kombinierten Methoden emergieren oft ganz neue Schwachstellen. Beispielsweise wird bei kombinierten Qualitativen und Quantitativen Methoden die qualitative Forschung oft so manipuliert, dass sie sich auf testbare Hypothesen eindampfen lässt, was viele Stärken des qualitativen Forschens untergräbt. Auch TB-Interview Kombinationen sind nicht immer überlegen, da die Interviewpartner, die man kennt, auch besser wissen, was der Forscher wissen will, sich an dessen Wortwahl angepasst haben (Problem, wenn man z.B. wissen will, ob die andere „Ostzone“ oder „DDR“ sagen, „Ausländer“ oder „Einwanderer“ sagen etc.). Ich wurde bisher jedes mal beim 1 Bier oder 1 gemeinsamen Essen gefragt: Worüber forscht du eigentlich? Man muss also von Fall zu Fall zwischen Methodenmix und reinem Interview entscheiden. Das widerspricht Ihren Aussagen nicht, wohl aber den Aussagen einiger Kommentatoren!
mfg,
Marius Meinhof
Die Bewertung der verschiedenen Methoden und ihre Kombination scheint mir an das grundlegende Verständnis gebunden zu sein, was Sozialfoschung ist und sein kann.
Mit Interviews kann versucht werden die Erfahrungsdimension der Menschen zu verstehen. Das Sinn- und Werterleben, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Menschen- und Selbstbild können möglicherweilse offen gelegt und analysiert werden.
Die individuelle Rezeption kollektiver Deutungsmuster könnte so erforscht werden.
Aber mehr als über die individuellen Sinnstrukturen (und deren kollektive Einbettung) hat man dann aber immer noch nicht erfahren.
Man steht vor mannigfachen Schwierigkeiten:
– Wurde der Interviewer bewußt angelogen?
– Wurde die Wirklichkeit angemessene erinnert? Oder gab es Verzerrungen (z.B. self-serving-bias oder Funktionen des autobiografischen Gedächtnisses)?
– Wie unterscheider der Analyst zwischen Lüge und unbewußter Verzerrung?
– Interessiert den Analysten die Realität jenseits des individuellen Sinnerlebens überhaupt? Und wenn ja, welches Narrativ ist dann das richtige?
Wie gesagt, wenn nur das „verstehende Interview“ im vordergrund steht, dann mag auch heute noch ein interveiw ausreichen (zumindest wenn man sich der Verzerrungen bewußt ist).
Interessiert aber eine Wirklichkeit jenseits des individuellen Erlebens, dann bedarf es noch anderer Daten.
Ein Beispiel zur Illustration: Interviewe ich Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan stationiert waren, wird am Ende der Forschung mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit ein Bild stehen von einem ungewollten aber doch humanitär notwendigen Einsatz. Die Bundeswehr als Truppe idealistischer Humanisten.
Bereits die Artefaktanalyse würde ein anderes Bild ergeben (Beispiel Wandel der Taschenkarte). Eine diachroner Vergleich der eingesetzten Einheiten (Struktur und Anzahl) würde auch auf eine andere Qualität des Einsatzes hinweisen.
Eine Beobachtung (so sie denn überhaupt möglich wäre) würde wohl nochmal das Bild verändern (darauf schließe ich jetzt mal anhand vorhandenen Videomaterials).
Will ich also nicht die Sinnstrukturen von Kriegern rekonstruieren, sondern z.B. Sozio- und Psychogenese des „Soldaten der Zukunft“, dann reichen Interviews ganz sicher nicht mehr aus. (So sie denn überhaupt jemals ausgereicht haben).
Was mir nur völlig unklar ist: wenn Interviews aktuell wenig zur Erkenntnis beitragen, was ist dann der Vorschlag? Wie soll es weitergehen?
„Was mir nur völlig unklar ist: wenn Interviews aktuell wenig zur Erkenntnis beitragen, was ist dann der Vorschlag? Wie soll es weitergehen?“
Zum einen sollte man sehr viel genauer bestimmen, für welche Aufgaben Interviews geeignet sind. Und für vieles sind sie sehr gut geeignet. Für vieles Andere aber nicht. Und man sollte bei der Datenerhebung weniger die darstellenden Methoden einsetzen, dafür mehr die registrierenden (Tonband, Kamera, Beobachtung) und die einsammelnden (Artefakte). Bei der Datenauswertung sollte man vorsichtig im Umgang mit inhaltsanalytischen Verfahren sein, die das Dargestellte zusammenfassen und verdichten. Statt dessen sollte man die Brauchbarkeit hermeneutischer Verfahren prüfen, die immer auch das Dargestellte als Interaktionsprodukt begreifen und entsprechend interpretieren.
Könnten Sie den Unterschied zwischen darstellenden und registrierenden Erhebungsmethoden im Hinblick auf den weiteren Verlauf (Interpretation & Darstellung der Ergebnisse) der Forschung schärfen?
In meinem Verständnis ist er wesentlich geringer als Ihre Gegenüberstellung impliziert. Vielleicht sogar so gering, dass er gar keinen Unterschied macht.
Zumindest für den Fall hermenuetischer Verfahren, wie z.B. der dokumentarischen Methode, die ja auf den sich dokumentierenden Sinn in den Darstellungen abzielen.
Das per Kamera festgehaltene Material bedarf doch genauso der Interpretation wie das Transkript der Gruppendiskussion. Aus dem scheinbar unterschiedslosen Registrieren der Kamera wir doch durch den analytischen Zugriff der Forscher auf die Aufnahme ebenso ein auf intersubjektiver Interpretation beruhender Weltzugang wie bei Interview-Verfahren.
Vielleicht verstehe ich aber auch faslch, welche Art von Interviews Sie meinen. Es scheinen sehr unsensible, vom Kontext des zu Erklärenden sozialen Phänomens und seiner „Trägergruppen“ vollkommen losgelöste Befragungsformen zu sein. Ich wüsste nur nicht, welche Methodlogie diese Art von Befragungen zulässt oder gar bevorzugt.
Die Unterscheidung zwischen darstellenden und registrierenden Verfahren der Datenerhebung ist sehr sinnvoll und auch trennscharf. Mit ersten sind die Verfahren gemeint (vornehmlich das Interview), die Menschen auffordern, ihre Erinnerungen, Erfahrungen, Deutungen und Wertungen für den Wissenschaftler/in darzustellen. Das Ergebnis dieser Verfahren sind also Darstellungen von Bewusstseinsinhalten der Befragten. Ob diese mit der ‚Wirklichkeit’ (was immer das sein soll) übereinstimmen, kann niemand sagen.
Mit registrierenden Verfahren sind all jene Verfahren gemeint, welche soziale Interaktion und Kommunikation im ihrem Verlauf (zeitgleich) aufzeichnen. Auch wenn diese Verfahren in der Regel nicht die Komplexität der Situation erfassen können, sind die Ergebnisse dieser Verfahren keine selektive Bewusstseinsinhalte, sondern selektive Spuren der Ereignisse.
Was die Situation aber etwas komplizierter macht, das ist, dass jedes darstellende Datum (also jedes Interview) immer auch etwas registriert – nämlich den Verlauf der Interview-Kommunikation. Mann kann also eine Interview immer auf zwei Weisen interpretieren: einmal (und das ist der Alltag der Sozialforschung) im Hinblick darauf, was jemand sagt – z.B. dass etwas Bestimmtes geschehen sei. Im zweiten Schritt kann man dann die Inhalte (meist mit Hilfe von inhaltsanalytischen Verfahren verdichten).
Ich kann aber auch, und das machen vor allem hermeneutische Verfahren (und die dokumentarische Methode gehört zu den hermeneutischen), die Handlung des Darstellens untersuchen. Denn in jedem Interview zeigt der Erzählende nicht nur das, was er erzählt, sondern er dokumentiert zugleich seine Art des Erzählens, sein kommunikatives Handeln. Insofern ist das Transkript eines Interviews auch die Registrierung der Interview-Kommunikation. Wenn man das analysiert, dann verdichtet man nicht mehr das Erzählte, sondern die Handlung des Erzählens. Und das ist eine andere Ebene der Interpretation.
„Sie denken zu sehr an große Organisationen. Die meisten beforschten Gruppen haben nicht die (intellektuellen?) Ressourcen, Interviews gezielt zu manipulieren, da sie deren Methodik nicht durchschauen.“
Sie haben Recht, wenn Sie schreiben, dass ich vor allem die großen wie kleinen Organisationen im Sinne habe, die bewusst und gezielt die Sozialwissenschaft für ihre Zwecke nutzen wollen und oft auch können. Meine These geht aber weiter: Auch die Menschen außerhalb von Organisationen haben zunehmend verinnerlicht, dass man sich ‚darstellen‘ muss. Sie verfolgen in der Regel dann nicht gezielt ein bestimmtes Ziel (z.B: sich von einer Schuld öffentlich freizusprechen oder andere anzuklagen, oder für seine Sicht der Dinge zu werben), sondern habituell. Gerade unter den Jüngeren ist adressatenspezifische Darstellungsarbeit (Das bin ich! Für Dich.) alltäglich geworden – was auch ein Verdienst der Kommunikationstrainings ist, denen Menschen heute auf Schritt und Tritt begegnen. Die Kommunikationswissenschaft hat in den letzten Jahren eine Modell von Darstellungsarbeit entwickelt, für das die Kontrolle des Darstellers über das von im Dargestellte zentral ist. Deshalb haben alle Methoden, die an der Darstellung ansetzen und diese verdichten, ein Problem. Auch viele Spielarten der Diskursanalyse und der linguistisch arbeitenden Methoden.
Sehr geehrter Herr Reichertz,
sehr geehrter Herr Pommrenke,
@Jo Reichertz: Ich stimme Ihnen durchaus zu, dass die Selbstdarstellungs-Kompetenz enorm zugenommen hat und weiter zunimmt. Das hat Auswirkungen auf die sozialwissenschaftliche Forschung. Dennoch wundere ich mich noch immer: Woher kommt Ihr Pessimismus? Der Anstieg der Selbsdarstellungskompetenz lief bisher Parallel mit einem enormen Zuwachs an Erfahrungswissen im Umgang mit qualitativen Methoden, unauffälligerer Technologie sowie einer starken Elaborierung und Verfeinerung der Methoden. (Gerade auch Methoden, die weniger stark auf das explizit gesagte Verweisen, etwa Diskursanalyse, (linguistische) Agency-Analyse, Konversationsanalyse).
Desweiteren bezweifle ich, dass eine habitualisierte, selbstverständlich mitlaufende Selbstdarstellung ein ganz neues Phänomen ist. Immerhin: Die Theorien, die sich damit auseinandersetzen (z.B. Goffman, Watzlawick, Luhmann) sind ja allesamt 40+ Jahre alt und von Autoren verfasst, die vor 1945 geboren wurden. Das Phänomen muss also damals schon „erfahrbar“ gewesen sein. Sicher hat sich die Art Selbstdarstellung verändert, etwa in Richtung „Unternehmerisches Selbst“ (auch die damit befassen Gouvernmentality Studies gehen auf Foucault und Elias – nicht gerade Zeitgenossen – zurück). Was soll so neu sein an der neuen Art der Selbstdarstellung, dass die Lehrbuchmethode (falls sie denn eingesetzt wird) nicht damit umgehen kann. Ihre Beispiele in den vergangenen Blogs bezogen sich ja eher auf schlechte Forschung, die keineswegs der existierenden Methodik entspricht.
Im Umgang mit Kommunikationstrainings kann das (aufgezeichnete) Interview viele Vorteile bringen, da professionelle Selbstdarstellung meist auf eine Kombination aus Gestik/Mimik, Tonfall, Inhalt, Kleidung etc. zurückgreift, die im Transkript einen Großteil ihrer Wirkung verliert. Zudem sind viele der oben genannten „neueren“ Methoden sogar in der Lage, zur Veröffentlichung verfasste Texte (etwa Zeitungsartikel) zu Analysieren, deren Rhetorik sicherlich ausgefeilter ist als die in einem Interview produzierten Erzählungen von Laien.
(Ich gebe zu, die Leistungsfähigkeit dieser Methoden ist hier sehr Ideal dargestellt, um der „Niedergangserzählung“ in den letzten beiden Blogs argumentativ zu begegnen).
@ Sascha Pommrenke:
Das Argument, dass TB besser geeignet ist um die „Wahrheit“ herauszufinden, ist angesichts des gegenwärtigen Theoriediskurses sehr heikel. Man muss berücksichtigen, dass viele Interviewerhebungen die soziale und rhetorische Konstruktion der Realität durch betroffene Akteure erfassen wollen – in einem solchen Fall kann eine reine Interviewerhebung durchaus Vorteile haben, um etwa Anpassungen des Sprachstils an den Forscher zu erschweren (zu diesem Phänomen gibt es eine reichhaltige Literatur in der Soziolinguistik, meist irreführend unter dem Schlagwort Codeswitching).
Das heißt nicht, dass bei anderem Erkenntnisinteresse oder in bestimmten Forschungskontexten TB oder kombinierte Methoden nicht sinnvoller sein können. (Ich halte z.B. sehr viel von Girtler mit seinen TB-Basierten, methodenanarchistischen Studien über Schmuggler, Wilderer, Rotlichtmilieu).
Die Annahme, dass Methodenkombinationen oder TB generell überlegen sind, weil sie „wahreres“ Wissen produzieren oder Täuschung erschweren, möchte ich aber entschieden zurückweisen.
mfg
Marius Meinhof
Letztlich bestimmen die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse die zu verwendenden Methoden. Interessiert lediglich „die soziale und rhetorische Konstruktion der Realität durch betroffene Akteure“ dann mögen Interviewverfahren ja auch angemssen seien.
Verlässt man sich aber ausschließlich darauf, erfährt man auch nichts über realitere Geschehensabläufe. Ist das Erleben von gesellschaftlichen Strukturen, das Empfinden von Fremdzwängen identisch mit eben diesen? Will man nur etwas über Sinnstruktur erfahren oder auch etwas über die Beziehungsstruktur?
Da Norbert Elias ja nun schon genannt wurde, möchte ich die Studie „Etablierte und Außenseiter“ von Elias anführen. Hätten sich Scotson und Elias ausschließlich auf Interviews verlassen, hätten sie die spezifischen Bedingungen für diese Beziehungsstruktur nie erfahren. Das Ergebnis wäre gewesen, dass sich die Etablierten als bessere Menschen wahrnehmen während sich die Außenseiter als minderwertigere Menschen akzeptieren. Und zwar aufgrund von Delinquenzraten in den unterschiedlichen Wohngebieten. Nur hat der angewendete „Methodenmix“ aufgezeigt, dass es damit nur wenig zu tun hatte. Kurz: Zentraler war die „Logik der Emotionen“. Und eben diese ist mit der ausschließlichen verwendung von interviews, nicht zu verstehen.
Es geht mir ja auch nicht darum Interviews als Methode zu diskreditieren. Mich interessieren Psycho- und Soziogenese! Die individualisierten Sinnstrukturen werden durch ein Beziehungsgeflecht (Figuration) bedingt. Dabei ist das Erleben der Figuration aber nicht die Figuration selbst. Engagement und Distanzierung bedingen die Wahrnehmung, was auch bedeutet, dass die Wahrnehmung des Beziehungsgeflechts abhängig ist von der Position beim Figurieren der Menschen.
Insofern ist die individuelle Sinnstruktur wichtig für das Verstehen von Empfinden und Verhalten von Menschen; aber nicht hinreichend. Zumindest eben nicht, wenn mich Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung interessieren!
„Die Annahme, dass Methodenkombinationen oder TB generell überlegen sind, weil sie “wahreres” Wissen produzieren oder Täuschung erschweren, möchte ich aber entschieden zurückweisen.“
Über Wahrheit muss hier, denke ich, nicht wirklich diskutiert werden. Und das irgendetwas grundsätzlich und immer irgendwie überlegen ist, halte ich auch für abwegig. Darum ging es auch nicht. Je nach Fragestellung, je nach Erkenntnisinteresse wird aus den möglichen sozialwissenschaftlichen Methoden ausgewählt.
Jo Reichertz weist nun darauf hin, dass mit den Interviewmethoden reflexiver umgegangen werden sollte, als es aktuell der Fall ist. Sie weisen darauf hin, dass Interviews auch immernoch hervorragend geeignet sein können, Erkenntnis zu befördern. Ja. Warum auch nicht? Solange es nicht als adhoc Standardwerkzeug (im Sinne von Produktion von Realität statt Reproduktion von Realitäten) benutzt wird.
„Desweiteren bezweifle ich, dass eine habitualisierte, selbstverständlich mitlaufende Selbstdarstellung ein ganz neues Phänomen ist.“
Da haben Sie völlig Recht. Selbstdarstellung gehört zum menschlichen Ausdruck und kann daher nicht wirklich getilgt werden. Deshalb standen ja die Interviews von Beginn an im Verdacht, im besten Fall die Selbstmissverständnisse der Befragten zu verdoppeln. Um das ein wenig in den Griff zu bekommen, legte man ja auch Interviews als Gespräche an, also als Interaktion und nicht als Befragung.
„Der Anstieg der Selbsdarstellungskompetenz lief bisher Parallel mit einem enormen Zuwachs an Erfahrungswissen im Umgang mit qualitativen Methoden, unauffälligerer Technologie sowie einer starken Elaborierung und Verfeinerung der Methoden.“
Welche Verfeinerungen der Methoden meinen Sie und auf welchen ‚Sinn‘ zielen diese Verfeinerungen?
Sehr geehrter Herr Reichertz,
Ich behaupte, dass man u.a. durch mehr interdisziplinären Kontakt Methoden entwickelt hat, die vor 30+ Jahren den meisten Menschen nicht zur Verfügung standen, zum Beispiel: Identitätskonzepte, Stereotype, Rechtfertigungsstrategien etc. mit Diskursanalytischen Mitteln erforschen, Konstruktion subjektiver Handlungsmächtigkeit in Erzählungen zu analysieren, Gesprächsanalysen (v.a. bei Gruppeninerviews) durchzuführen usw.
Dadurch stehen Möglichkeiten zur Verfügung, die weit über einfaches Codieren des Textes hinausgehen und für uneingeweihte relativ schwer zu manipulieren sind. Vor allem diskursanalytische Methoden sind ja explizit für den Umgang mit subtiler Manipulation gedacht.
Vor den 70ern gab es diese Methoden m.W. nicht oder noch unausgegoren, und Forschern in den 70ern standen sie meist dann zur Verfügung, wenn sie selbst die Pioniere waren. Heute kann man sie im Studium oder sogar aus Lehrbüchern systematisch lernen.
Genannte Methoden zielen meines Wissens alle auf „selbstverständliche“ Strukturen des Denkens, Sprechens usw. ab, die sich in den Interviews implizit zeigen. Ob man sie auch nutzen kann, um die subjektive Lebenswelt der erforschten zu erfassen, kann ich nicht sagen.
Ich möchte noch einmal betonen: Ich möchte nicht gegen Vorsicht/Nachdenklichkeit bei der Methodenwahl argumentieren, sondern den „Schreibstil“ in dem dies gefordert wird kritisieren: Dass die Methode des Interviews immer problematischer wird, dass Forscher bestimmte Standards nicht mehr einhalten oder Befragte inzwischen gelernt haben, wie man mit Interviews umgeht usw. Vor allem die Implikation, dass diese Entwicklung eine Beschäftigung mit der Methodologie des Interviews (statt nur eine entschiedenere Durchsetzung der längst existierenden Methodologie) erfordert!
Ich sehe diese Abwärtstrends nicht, sondern höchstens im Gegenteil einen leichteren Zugang zu vielfältigeren Methoden und expliziten Methodologien, mehr Lehrende mit Erfahrungswissen zu diesen Methoden usw. Zudem denke ich, ein Einhalten der existierenden Methodologie bzw. richtige Ausnutzung der existierenden Methoden ist für fast alle Forschungsvorhaben ausreichend (abgesehen von Großorganisationen, bei denen ich Ihnen völlig recht gebe).
„Sie verfolgen in der Regel dann nicht gezielt ein bestimmtes Ziel (z.B: sich von einer Schuld öffentlich freizusprechen oder andere anzuklagen, oder für seine Sicht der Dinge zu werben), sondern habituell. Gerade unter den Jüngeren ist adressatenspezifische Darstellungsarbeit (Das bin ich! Für Dich.) alltäglich geworden – was auch ein Verdienst der Kommunikationstrainings ist, denen Menschen heute auf Schritt und Tritt begegnen.“
Mir will die Annahme einer gleichsam zweck- bzw. funktionslosen Selbstdarstellung nicht einleuchten. Ich gehe vielmehr mit Goffman und Luhmann davon aus, dass Selbstdarstellung die soziale Funktion hat kommunikative Anschlussfähigkeit sicher zu stellen. Jeder ist zunächst einmal bestrebt sich so gut wie möglich zu präsentieren um sich nicht zukünftige Kommunikationsgelegenheiten zu verbauen. Sofern das gelingt, werden auch psychische Bedürfnisse erfüllt. Das geschieht nicht nur in ökonomischen Beziehungen sondern in allen Lebensbereichen – wie authentisch oder unauthentisch auch immer. Kommunikationstrainings dienen in diesem Zusammenhang lediglich der Optimierung der Selbstdarstellung. Interviewer hätten erst dann ein Problem, wenn sie diesem Umstand nicht genügend Rechnung tragen würden.
Das bereits für Organisationen aufgezeigte Problem der fehlenden Offenheit für soziologische Forschung überträgt sich zum großen Teil auch auf die interviewten Personen. Die fragen sich als erstes, welchen Zweck das Interview überhaupt für sie hat außer dass es Zeit kostet. Dann ist es nicht sehr überraschend, dass die Interviews vorwiegend für Selbstdarstellungszwecke missbraucht werden – entweder für die Organisation oder für die konkrete Person.
Sofern das von Ihnen geschilderte Problem zutrifft, läge eine gewisse Ironie darin. Denn die Sozialwissenschaft würde mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden. Das von Soziologen produzierte Wissen diffundiert z. B. über Kommunikationstrainings in den Alltag. Und im Interview trifft der Interviewer plötzlich auf Organisationsfunktionäre die intensiv in PR geschult wurden und der erzählt dem Interviewer nur, was er hören soll Vielleicht müssten Soziologen dann stärker in Rechnung stellen, dass sie auch durch den Rest der Gesellschaft beobachtet werden. Der nimmt sich vor allem das Wissen, das er gebrauchten kann. Das muss allerdings nicht unbedingt das Wissen sein, wovon Soziologen denken, dass man es gebrauchen sollte. Nichts desto trotz könnte man fragen, warum ausgerechnet dieses Wissen dankbar angenommen wird? Ich denke, es ist der genannte Zweck der Imagepflege um anschlussfähig zu bleiben – egal ob es sich um Organisationen oder Personen handelt.
danke für die erläuterung.
[siehe comment http://soziologie.de/blog/?p=946#comment-12106 und antwort http://soziologie.de/blog/?p=946#comment-12128, antworten auf comments in diesem layout offenbar nur bis 4 ebenen möglich, daher die erneute antwort hier]
Ich möchte ebenfalls anmerken, dass der Kommentar zu Andreas Bischofs Kritik das, was ich bisher geschrieben habe weitgehend hinfällig macht. Ihre Aussagen beziehen sich demnach nur auf Verfahren, die sich ausschließlich auf den Inhalt des gesagten beziehen (und diesen auch noch Wörtlich nehmen?).
Das habe ich beim lesen Ihres Beitrags anscheinend übersehen und hatte so einen falschen Eindruck gewonnen.
Daher wollte ich darauf hinweisen, dass Methoden (wie sie es nennen: „aufzeichnende Verfahren“) existieren, für die gerade habitualisierte Selbstdarstellung kein Problem, sondern ein gefundenes Fressen darstellt – und die in den letzten Jahrzehnten immer elaborierter wurden. (Zu diesen würden ja dann vermutlich auch alle von mir oben genannten Methoden zählen).
Wenn Sie sich ausschließlich auf Inhaltsbezogene und/oder wörtlich genommene Auswertungen von Interviews beziehen mögen Sie mit Ihrer pessimistischen Haltung recht haben – da kenne ich mich zugegebenermaßen nicht aus.