In den letzten beiden Monaten habe ich in meinen Blogs anhand der Betrachtung von Einzelphänomenen (Interviews, Medien, Interkulturalität, Handlungsbegriff, Algorithmen) versucht die These zu plausibilisieren, dass die qualitative Sozialforschung sich in vieler Hinsicht tiefgreifend verändert hat.
In meinem letzten Blog möchte ich heute diese Deutung der Entwicklung qualitativer Sozialforschung noch eine Stufe weiter treiben und versuchen, das Muster hinter diesen aufgelisteten einzelnen Entwicklungen zu „erraten“ – also eine erste wissenssoziologische Konzeptionalisierung einer Entwicklungstheorie qualitativer Sozialforschung vorzunehmen. Tut man dies, dann lassen sich aus meiner Sicht drei wesentliche Großentwicklungen feststellen:
Veralltäglichung des Charismas:
Die qualitativen Verfahren entstanden nicht aus dem Nichts, sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis eines allgemeinen (Wege zur Erkenntnis) und speziellen (quantitativ vs. qualitativ) gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Das Wiederaufleben der qualitativen Verfahren, einerseits als Re-Import aus den USA, andererseits befeuert durch die Auseinandersetzung mit dem Kritischen Rationalismus, wurde vor allem innerhalb einer Generation von verschiedenen ‚Charismatikern’(in Frontstellung gegen die quantitativen Verfahren) geleistet und auch durchgesetzt (z.B. Schütze, Oevermann, Luckmann, Leithäuser, Soeffner). Es ist m.E. gewinnbringend, Webers Charismatheorie auf die Entwicklung der qualitativen Forschung anzuwenden und zu prüfen, wie das Charisma in den einzelnen Methoden-Traditionen veralltäglicht und verwaltet wurde und heute noch wird. Das eine, was die Entwicklung bewegte, war aus meiner Sicht also die Veralltäglichung des Charismas der ‚Gründergestalten’ und die damit einhergehende Profanisierung, Kanonisierung und Bürokratisierung der qualitativen Sozialforschung.
Vom Reputationsmarkt zum ökonomischen Markt:
Betrachtet man den Markt der Finanzierung von Forschung, dann scheint mir, als würde sich das Feld der Qualitativen spalten, als würden Trennungsprozesse beobachtbar sein: Einige schreiben immer noch vor allem für die Kollegen/innen in den Universitäten oder Instituten und sehen die Menschen oder die Gesellschaft als ihre Klientel an. Andere schreiben klammheimlich oder offen für die Politik, die Hochschule, die Medien oder die Wirtschaft: Sie schreiben in deren Sprache, verwenden deren Argumente und Sichtweisen und explizieren das eigenen Tun nur so weit, wie es für die Abnehmer anschlussfähig ist. Und die Abnehmer sind im Wesentlichen Kunden, die direkt oder indirekt Forschung finanzieren. Das ist keineswegs ehrenrührig – aber es verändert die Forschungsarbeit (in vielfältiger Weise).
Abschied von Therapie und Kritik.
Qualitative Forschung war zu Beginn eine (Gegen-) Bewegung. Ihr wohnte ein kritischer Impuls inne. Es ging anfangs nicht nur gegen eine, den Sinn vernachlässigende und die Zahlen bevorzugende quantitativ operierende Wissenschaft, sondern auch gegen eine Wissenschaft als Beruf, die sich aller Wertung enthalten wollte. Ein wichtiger Kristallisationspunkt dieser Debatte war der zweiter Werturteilsstreit Ende der 1960er Jahre, also die Debatte zwischen Popper, Adorno, Habermas, Dahrendorf und Albert darüber, was die gesellschaftliche Aufgabe der Soziologie zu sein habe.
Ein beachtlicher Teil der Qualitativen hatte die Kritik des Bestehenden und die Therapie des Kranken auf ihre Fahnen geschrieben. Die starke Subjektorientierung, also die Konzentration auf das wollende und handelnde Subjekt und die damit einhergehende Phantasie, das Subjekt sei der wahre und letzte Verursacher sozialen Handelns, machte dann die Forschung wesentlich herrschaftsneutral wurde doch der Blick von den gesellschaftlichen Ordnungen abgezogen und auf die Intentionen der Subjekte gerichtet. Aus meiner Sicht hat die qualitative Forschung im Bemühen um die Anerkennung als wissenschaftliches Verfahren (auch in den Augen der Quantitativen) mit Max Weber auf die Wertfreiheit gesetzt. Diese Strategie war erfolgreich. Der Preis für den Erfolg war der weitgehende Verzicht auf Kritik und Therapie. Dem muss aber nicht so sein.
Jede Wissenschaft, also auch die qualitative Sozialforschung, lebt in der jeweiligen Gesellschaft und lebt von ihr (finanziell wie inhaltlich). Als solche steht sie nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern ist einerseits Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklungen und gestaltet andererseits immer auch Gesellschaft durch ihre Arbeit und die Publikation ihrer Ergebnisse mit. Jede Wissenschaft, also auch die qualitative Sozialforschung, kommuniziert mit der Gesellschaft, die sie erforscht und über die sie schreibt. Und: sie gibt nicht nur, sondern bevor sie anfängt, hat sie schon sehr viel erhalten. Wissenschaft ist auch Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft. Kurz: Wissenschaft hat stets auch gesagt, was Subjekte, die Gesellschaft, Normen, Werte, Biografien sind und sein sollten und hat dabei vor allem eigene Wertvorstellungen und Interessen vertreten. Die Wissenschaft und natürlich auch die qualitative Sozialforschung waren von Beginn an Partei und nicht uninteressierte Beobachter im Elfenbeinturm. Als solche hatte sie auch, ob sie das wollte oder nicht, Verantwortung für die Gesellschaft, für die sie schrieb. Dieser Verantwortung sollte sich die qualitative Sozialforschung wieder bewusst werden.
Zum Abschluss noch ein Wort in eigener Sache: Ich möchte mich dafür bedanken, dass so viele Menschen in den letzten 8 Wochen meine Blogs verfolgt haben. Es war eine neue und interessante Erfahrung, so schnell und so deutlich Rückmeldungen zu meinen Überlegungen zu erhalten. Allerdings ist für mich die im ersten Blog gestellte Frage, ob Bloggen Zeitvergeudung ist, immer noch offen. Acht Wochen Erfahrung sind wohl nicht genug, diese Frage zu klären.