Volker H. Schmidt (2012a) kritisiert in seinen Beiträgen auf diesem Blog den beschränkten „Beobachtungshorizont“, „Eurozentrismus“ und „methodologischen Nationalismus“ der deutschen Soziologie und plädiert für eine „globale Soziologie“. Er verweist damit auf die Globalisierungsdebatte, in deren Zuge seit langem diskutiert wird, ob wir eher von einer „Modernisierung“ oder von „multiplen Modernen“ sprechen – sprich: Sind asiatische, afrikanische und südamerikanische Länder als Nachzügler der Entwicklung des „Westens“ zu betrachten, oder werden sie einen eher eigenständigen Weg gehen?
Schmidts Haltung zu diesem Thema ist eindeutig: In seinem „Bericht aus der Ferne“ (2012b) aus Ostasien (insbesondere Singapur) sieht er den „Multiple Modernities“-Ansatz als eindeutig widerlegt. Vielmehr schreibt er:
Demgegenüber finden sich viele Anhaltspunkte für die Stimmigkeit von Kernaussagen modernisierungstheoretischer Provenienz. Der Aufstieg Ostasiens lässt sich mit nur wenig Übertreibung als Textbuchmodernisierung beschreiben und wird von den ihn vorantreibenden Kräften auch weithin so gesehen.
Dieser „Durchbruch der globalen Moderne“ (2012c) hat laut Schmidt folgende Elemente, die sich „in der Tat weltweit abzeichnen“, also weltweit in allen Gesellschaften abzeichnen:
(1) Modernisierung der Gesellschaft (= eines von mehreren sozialen Systemen): Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme
(2) Modernisierung der Kultur: Rationalisierung; Kontingentsetzung und Reflexivität sozialer Ordnung; Wertverallgemeinerung
(3) Modernisierung der Person: Individuierung; Herausbildung reflexiver Identitäten und multipler, aktivistischer Selbste
(4) Modernisierung des Organismus: Disziplinierung und (Selbst-)Perfektionierung des menschlichen Körpers
Ich möchte Schmidt zum Teil widersprechen. Ich stimme zwar Schmidts (2012b) Argument zu:
wer nach Differenzen sucht, wird welche finden – nicht nur, aber selbstverständlich auch in Ostasien.
Umgekehrt gilt aber ebenso: Wer nach Gemeinsamkeiten sucht, wird auch welche finden.
Wie man den Beiträgen der vergangenen Tage entnehmen kann, habe auch ich einige Zeit in Asien verbracht, wenn auch in anderen Ländern – in China, Indien, Kambodscha, Laos, Thailand und Vietnam. Auch ich habe viele Elemente der Modernisierung und Vereinheitlichung globaler Trends feststellen können. So kaufen etwa Tibeterinnen in Zhōngdiàn in China mit derselben Selbstverständlichkeit Handys oder trinken moderne Softdrinks, wie wir das tun. Gleichzeitig konnte ich eine bemerkenswerte Widerständigkeit des Lokalen beobachten – und zwar in teils recht unerwarteten Bereichen.
So habe etwa in meinem Beitrag zu den vielen Gesichtern Chinas über die Vielfalt der Lebensbedingungen in China geschrieben. Diese lassen sich durchaus modernisierungstheoretisch deuten. In diesem Fall wären Orte wie Shāxī oder Lìjiāng Nachzügler, deren lokale Eigenheiten sich früher oder später den globalen Trends unterwerfen. Es kann aber ebenso sein, dass sie ihre Besonderheiten bewahren und einen eigenen Entwicklungspfad beschreiten.
Was sich bewahrheitet, wird letztlich nur die Zeit zeigen. Zunächst finde ich, dass Europäer in der Empirie zunächst einmal viel genauer ins Detail schauen müssten, wenn sie andere Weltregionen zu analysieren.
Auf Basis meines momentanen Wissensstandes glaube ich jedenfalls, dass Beides zum Teil richtig ist: Zwar gibt es vermutlich durchaus globale Trends, aber eben auch eine Beständigkeit und Beharrlichkeit regionaler Ungleichheiten und des lokal Besonderen, die sich selbst in Europa zeigen. Der Ansatz der „Eigenlogik der Städte“ (Berking/Löw 2008; Frank 2012) greift diesen Gedanken der Eigenständigekeit des Lokalen auf und unterstellt, dass Städte verborgene Strukturen in Form von vor Ort eingespielten, zumeist stillschweigend wirksamen Prozessen der Sinnformung aufweisen, die körperlich-materiell eingeschrieben werden. Die These lautet, dass sich Städte dadurch unterscheiden lassen, dass sich in jeder Stadt je spezifisch unterscheidbare Konstellationen zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen herausbilden, die Menschen in ihren Praktiken auf unterschiedliche Weise prägen und so das Besondere der jeweiligen Stadt ausmachen (Löw 2008, 2011).
So untersuchen wir derzeit in einem Projekt über „Lokale Konventionen des Friseurwesens“, wie sich die jeweilige Stadt strukturierend für die Wirtschaft zeigt, d.h. ob und wie ökonomische Handlungsabläufe über lokale Konventionen sinnhaft organisiert werden. Auch wenn das Projekt noch nicht abgeschlossen ist, so haben wir doch bislang starke Indizien gefunden, dass sich – jenseits von Trends der Globalisierung – Wirtschaftspraktiken von Stadt zu Stadt unterscheiden. Wir konnten zeigen, dass (unabhängig vom Marktsegment)
- stadtspezifische Glaubenssätze existieren, was als „ökonomisch rational“ in dem Sinne gilt, dass es zu wirtschaftlichen Erfolg führt. Diese Weltsichten reproduzieren sich pfadabhängig über die Zeit und schlagen sich nieder in typischen lokalen
- Konventionen des Handelns – Mustern, Handlungsanforderungen zu lösen, insbesondere Formen der (Arbeits )Organisation des Friseursalons –;
- Kommunikations- und Interaktionsformen mit dem Kunden oder unter dem Personal sowie in
- Raum-Zeitarrangements.
Wenn man den Blick auf das Wirtschaftsgeschehen in Asien wirft, fällt auf, dass auf den ersten Blick tatsächlich Alles zu haben ist, was es auch in Europa zu kaufen gibt. Auf den zweiten Blick ist das Ganze subtiler, weil zwar Alles irgendwo in Asien zu haben ist (Asien ist groß), aber eben nicht überall in Asien. Der Adaptionsprozess läuft ungleichzeitig. So konnten wir etwa auf den rückständigsten laotischen Märkten Hygieneprodukte von internationalen Großkonzernen finden. Coka-Cola oder Medikamente gab es dafür nicht. Ich habe hierauf noch keine endgültige Antwort, aber momentan erkläre ich mir das so, dass in Laos Sauberkeit als Merkmal sozialer Distinktion kulturell eine sehr hohe Wertigkeit – dazu passen Shampoos, Seifen und Waschmittel hervorragend. Bei den Lebensmittel bevorzugt man die heimischen Produkte, weil sie besser den lokalen Geschmack treffen.
Anknüpfend an Volker H. Schmidts (2012c) Argumentation heißt das für mich: Ich glaube nicht, dass es nur Globalisierung oder nur Lokalisierung, dass es nur Modernisierung oder nur multiple Modernen gibt. Vielmehr ist es für mich eine empirische Frage, wann und warum wir Vereinheitlichungstrends haben und wann und warum lokale Besonderheiten reproduziert werden sowie wie Globales und Lokales im Zeitverlauf ineinandergreifen. Dies steht übrigens nicht im Widerspruch zu Schmidts (2012d) Argumentation zu den „[e]pistemologische[n] und methodologische[n] Herausforderungen globaler Modernität“:
Mit der Herausbildung multipler Zentren ohne klare Rangordnung vervielfältigt sich nämlich die Zahl der Akteure und Orte, die Einfluss auf das Sozialgeschehen nehmen. Die globale Moderne ändert nicht nur die neu in die Moderne Eintretenden, sie verändert auch die Umwelt aller anderen. Und deshalb tut, selbst wer sich nur für das „eigene“ Land oder die „eigene“ Region interessiert, gut daran, sich auf die neue Konstellation einzustellen.
Die Soziologie muss also versuchen, ihren Analyserahmen zu erweitern und komplexer zu denken – meines Erachtens kann dies nur ein gemeinsames Forschungsprogramm sein, da dies die Möglichkeiten des Einzelnen übersteigt.
Gleichzeitig heißt dies aber auch: Wir müssen die Welt außerhalb Europas und der USA endlich ernstnehmen. Vieles, aber nicht Alles ist überall gleich. Und wenn nicht Alles aus dem „Westen“ adaptiert wird, dann hat das vielleicht auch einen guten Grund – weil Menschen in manchen Fällen vielleicht nicht „rückständig“ sind, sondern ihre lokalen Traditionen einfach besser finden.
Nur wenn man akzeptiert, dass Andere wirklich anders sind und vielleicht in manchen Punkten auch anders sein wollen, kann man von ihnen lernen. Wie Schmidt (2012e) betont, haben das asiatische Länder bereist verinnerlicht und suchen systematisch nach „Good Practices“. In Deutschland fällt uns meist nur ein Land ein, von dem wir lernen könnten: den USA – das hegemoniale Land des 20. Jahrhunderts. Vielleicht wäre es der Zeit, den Blick nicht immer nur nach Westen, sondern nach Osten zu lenken und sich von genuin asiatischen Lösungen überraschen zu lassen.
Literatur
Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.). (2008). Die Eigenlogik der Städte. Frankfurt/New York: Campus.Derudder, Ben u. a. (2003): Beyond Friedmann’s World City Hypothesis: Twenty-Two Urban Areas Across the World. http://www.lboro.ac.uk/gawc/rb/rb97.html. [Stand: 19.09.2006]
Frank, Sybille (2012). Eigenlogik der Städte. In F. Eckhardt (Hrsg.), Handbuch Stadtsoziologie (S. 289-310). Wiesbaden: VS Verlag.
Löw, Martina (2008). Soziologie der Städte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Löw, Martina (2011). Städte als sich unterscheidende Erfahrungsräume. In H. Herrmann, C. Keller, R. Neef & R. Ruhne (Hg.), Die Besonderheit des Städtischen. Wiesbaden: VS Verlag. S. 49-67
Liebe Frau Baur,
erstens: nach einer sehr langen Diskussion mit Volker H. Schmidt habe ich dessen These so verstanden, dass es durchaus Variationen zwischen Ländern, Regionen etc. gibt, dass diese sich aber nicht durch das Konzept einer (homogenen) westlichen Moderne vs. nichtwestliche oder ostasiatische Moderne beschreiben lassen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten innerhalb dieser Regionen sind demnach nicht größer oder kleiner als zwischen den Regionen. Dem Argument kann man m.M. nicht so einfach deshalb wiedersprechen, weil es in nichtwestlichen Ländern (genau wie in westlichen Ländern) lokale Traditionen gibt.
Jedenfalls laufen meine von Aldi geprägten „Referenzpreise“ für Fleisch, Milch, Wasser in England genauso Amok wie in China!
Zweitens: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Begriffe Vereinheitlichung vs. Widerständigkeit so geeingnet sind, um Ereignisse in Asien (oder sonstwo) zu beschreiben. Vielmehr scheint das Globale und Moderne auf Verschiedenste Weise angeeignet zu werden, während andererseits das Lokale und evtl. Traditionelle plötzlich in neuen, globalen Kontexten reflektiert werden muss (und vielleicht plötzlich als „uralter“ Brauch touristisch Vermarktet wird, wie der Alm-Abtrieb und sicherlich auch der eine oder andere thailändische Brauch). Man verpasst also m.M. das eigtlich Interessant wenn man sagt: „Handy Kaufen = Vereinheitlichung; Hühnerkrallen mit Chille Essen = Wiederständigkeit des Lokalen“
Vielleicht habe ich Sie da auch nur falsch verstanden.
mfg
Marius Meinhof
Lieber Herr Meinhof, lieber Herr Schmidt,
erst einmal vielen Dank für Ihre Kommentare. Bitte denken Sie bei meinen Antworten daran, dass ich (da ich eine Methodenprofessur innehabe), eine Tendenz habe, Probleme von der Empirie her zu denken, d.h. es kann manchmal sein, dass scheinbare Differenzen gar keine sind (das wird sich hoffentlich zeigen), aber manchmal stellen sich dadurch auch schlicht andere Probleme.
Ich hatte ja oben geschrieben, dass ich mir persönlich (auf Basis der empirischen Informationen, die ich habe) nicht sicher bin, ob der Ansatz der multiplen Modernen oder der Modernisierungstheorie besser geeignet ist, um die seit etwa 200 Jahren verlaufenden globalen Prozesse zu modellieren.
Bezugnehmend auf Ihre frühere Diskussion und das, was ich aus der Debatte kenne: Wenn ich die Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze betrachte, so sind sich beide einig, dass es so etwas wie Modernisierung gibt, dass aber gleichzeitig lokale Besonderheiten fortwähren. Beide Positionen stimmen auch überein, dass es schwierig ist, das “Lokale” zu bestimmen, weil man dabei immer Grenzen zieht, die einem dann in der Empirie nachhängen und ggf. Methodenartefakte produzieren, weshalb sich auch beide Positionen vehement gegen den methodologischen Nationalismus wehren. Insofern sehe ich diesbezüglich keinen Widerspruch zwischen Ihren Anmerkungen und früherer Diskussion und meinem Blog-Beitrag.
Ich glaube, die Differenzen liegen in zwei Punkten:
1. Welcher Trend ist stärker – der Globale oder der Lokale?
2. Sind die Mechanismen, die zur Modernisierung führen, immer dieselben, und ist das Endergebnis immer dasselbe, d.h. kann man von einem einheitlichen Trend oder von lokalspezifischen Entwicklungspfaden sprechen? Das ist m.E. insofern praktisch relevant, weil das beeinflusst, ob und wie gut man etwa Konzepte und Lösungsmechanismen übertragen kann. Hierzu ein Beispiel: In Deutschland musste man die allgemeine Schulpflicht einführen, um Eltern dazu zu bringen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. In vielen ostasiatischen Kulturen hat Bildung einen so hohen Wert, dass Eltern Alles tun, um ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen (und ich weiß, dass auch dieses Beispiel für sich sehr willkürlich wirkt). Für europäische Kulturen geht man ja jedenfalls in den nächsten Jahren eher den Weg, Typologien sozialer Räume zu entwickeln, die ähnliche Entwicklungspfade haben.
Von der Empirie her gesehen gibt es ein Problem, das sich v.a. in der Survey Methodology stellt: Wie stellt man die Äquivalenz von Fragen her? Und zumindest momentan muss man ja sehr oft überlegen, ob sich Konzepte wie Familie, Arbeit usw. einfach übertragen lassen oder ob man nicht – obwohl man scheinbar genau dieselbe Frage stellt – vollkommen unterschiedliche Konzepte misst.
Wie gesagt, das soll nicht heißen, dass ich nicht am Ende mit Herrn Schmidt einer Meinung bin – ich finde einfach (und ich habe den Eindruck, dass mir Herr Schmidt zumindest in diesem Punkt zustimmen würde), dass die deutsche Soziologie außereuropäischen Kulturen mehr Aufmerksamkeit widmen sollte.
Ich bin jedenfalls gespannt auf Ihre Kommentare.
Herzliche Grüße und schon einmal schöne Ostern,
Nina Baur
Das leuchtet mir ein.
Was sagen sie zu meinem obigen Punkt 2? Damit meine ich, dass auch aus dem Westen übernommene Strukturen jeweils lokal Angeeignet werden, während andererseits auch scheinbar „Traditionelles“ oder „Widerständiges“ ständig Veränderungen durchläuft, die auch im Kontext der sich globalisierenden Welt stattfinden.
Wenn das richtig ist, scheint mir die Dichotomie Vereinheitlichung/Widerständigkeit zu Pauschalisierend gedacht, oder nicht?
mfg
Marius
Lieber Herr Meinhof,
ich stimme Ihnen hinsichtlich der Ebenen und Dichotomien vollkommen zu – es gibt meines Erachtens empirisch sehr viele Ebenen (man denke nur an die klassichen Unterscheidungen Stadtviertel – Stadt – Region/Bundesland – Nation – „Kulturraum“ – Globus“), die nicht trennscharf sind und sich empirisch überlappen. Die Dichtomie Lokal – Global ist daher sehr vereinfachend und pauschalisierend.
Allerdings müssen wir für die empirische Forschung diese Ebenen gegeneinander abgrenzen – daher auch meine Obsession mit der Grenze. Außerdem muss man meines Erachtens in der konkreten empirischen Forschung die Zahl der Ebenen auf 2-3 beschränken, weil das Ganze sonst zu komolex wird. Das finde ich auch nicht weiter probkematisch, solang man njcht vergisst, dass man andere Ebenen auslässt.
Ich stimme mit Ihnen ebenfalls überein (zumindest, wenn ich Ihre obigen Aussgen richtig interpretiere), dass Globales lokal angeeignet wird. Ich würde sagen, es handelt sich um zwei parallel verlaufende Prozesse, die ineinander verwoben sind. Das „Lokale“ kann sich in der spezifischen Form der Aneignung und Verarbeitung des Globalen ausdrücken.
Wie das genau vonstatten geht, versuchen wir übrigens gerade in einem aktuellen Projektverbund zum Thema „Eigenlogik der Städte“ am Beispiel von zwei deutschen und zwei britischen (also europäischen!) Städten zu analysieren. Unser Teilprojekt befasst sich mit wirtschaftlichen Prozessen (wahrscheinlich werde ich noch etwas dazu schreiben, aber eher aus marktsoziologischer Perspektive – und die Ergebnisse sind auch noch sehr vorläufig, weil wir noch mitten in der Datenerhebung stecken).
Herzliche Grüße,
Nina Baur
Liebe Frau Baur:
„Und wenn nicht Alles aus dem „Westen“ adaptiert wird, dann hat das vielleicht auch einen guten Grund – weil Menschen in manchen Fällen vielleicht nicht „rückständig“ sind, sondern ihre lokalen Traditionen einfach besser finden.“ – ein sehr schöner Satz und ein Gedanke, der tatsächlich viel zu selten gedacht wird.
Im Ãœbrigen finde ich es interessant, dass Sie nach dem Blick nach Osten rufen, vielleicht aus dem Gefühl heraus, dass sich die Soziologie eurozentristisch im Klein-Klein verzettelt und dabei erblindet. Zumindest lässt das obige Zitat solches vermuten. Interessant finde ich es aber vorallem, weil ja die Soziologie in einer Zeit geboren wurde, in welcher der Blick nach Osten zum Horizont des Intellektuellen gehörte. Immer wieder sind mir doch bei Klassikern diesbezügliche Bemerkungen aufgefallen. Genau aus dieser Zeit heraus hat sich sicherlich die Popularisierung der „fernöstlichen Weisheit“ entwickelt. Womit allerdings Ihre Behauptung, wir Deutschen lernten zumeist nur von den USA, zum platten Klischee verfällt. „Wir“ haben da offenbar für verschiedene Themen je verschiedene Hauptblickrichtungen entwickelt.
Zum Schluss noch etwas zur Frage der Vorliebe für Hygieneartikel: Ich fand Ihren „Glauben“ im ersten Moment auch sehr einleuchtend, auch weil unbedingte Sauberkeit noch vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland ebenso hoch im Kurs stand. Ausserdem sind westliche Hygieneartikel, anders als Nahrungs- und Medizinprodukte, wahrscheinlich relativ konkurrenzlos auf lokalen laotischen Märkten. Aber es könnte noch einen anderen Grund geben: der geringe Alphabetisierungsgrad. Es ist wohl ein Unterschied ob ich mir etwas in den Mund stecke dessen Inhaltsstoffe ich nicht kenne, weil ich nicht lesen kann, oder ob ich damit mein Häuschen putze – und das gerade auch vor dem Hintergrund der traditionellen Medizin mit ihren manchmal sehr speziellen Zutaten.
LG Veit Lohse
Lieber Herr Lohse,
wenn ich schreibe, die dass „wir“ die Welt außerhalb Europas und der USA endlich ernstnehmen sollen, meine ich selbstverständlich nicht nur Asien, sondern auch die anderen Kontinente – Südamerika, Afrika und – was man oft vergisst, aber auch „östlich“ von Europa: Australien. Dass ich selbst hauptsächlich Beispiele aus Asien bringe, liegt daran, dass ich mich bzgl. Südamerika und Afrika wesentlich schlechter auskenne (wobei ich mit meinen bisherigen Blog-Beiträgen verdeutlichen wollte, dass ich für meinen Geschmack auch noch viel zu wenig über Asien weiß).
Es gibt aber (zumindest aus der Perspektive der Wirtschaftssoziologie) zwei (sehr unromantische, sondern eher pragmatische) Gründe, sich mit Asien – v.a. China und Indien – zu befassen: Erstens leben hier mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung, die ja sowohl potenzielle Arbeitskräfte, als auch Verbraucher sind. Zweitens haben viele asiatische Länder in den letzten Jahrzehnten eine sehr schnelle wirtschsftliche Entwicklung durchgemacht.
Die Orientierung der (west)deutschen Gesellschaft im Allgemeinen und der Soziologie im Besonderen an den USA insbesondere in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ist übrigens empirisch erwiesen. Man denke etwa an den Einfluss der USA über den Marshall-Plan, das Re-Education-Programm oder die Zerstörung der UFA (als Hauptkonkurrenten Holliwoods) auf die Nachkriegsgesellschaft. In der Soziologie waren ja sehr viele Soziologen der ersten Nachkriegsgeneration Rückwanderer aus den USA, und gerade die quantitative Sozialforschung wurde institutionell gefördert.
Ihre Anmerkung zu den Inhaltsstoffen ist eine interessante Hypothese. Spontan würde ich sagen, dass (zumindest in Laos) die mangelnde Alphabetisierung eher umgekehrt wirkt – im Sinne einer größeren Sorglosigkeit im Umgang mit industriell hergestellten Produkten (es ist ja auch schon eine Kulturleistung, auf die Inhaltsstoffe zu achten – das machen auch in Deutschland nur die wenigsten Verbraucher). Um das genau zu klären, müsste man dem allerdings genauer nachgehen.
Viele Grüße,
Nina Baur
Liebe Frau Baur,
vielen Dank für Ihre ausführliche Stellungnahme zu meiner Blogserie. Hier eine Replik auf einge der darin angesprochenen Punkte.
Gestatten Sie mir zunächst eine Richtigstellung: Soweit meine Ausführungen sich als Kritik lesen lassen, bezieht das Gesagte sich ausdrücklich nicht auf „die“ deutsche Soziologie, sondern auf das Fach im Ganzen. Es thematisiert theoretische Prämissen, methodologische Selbstverständnisse usw., die Soziologinnen und Soziologen weltweit teilen, historisch, bei allen rückblickend erkennbaren Beschränkungen, auch durchaus ihre Berechtigung hatten, aber mittlerweile durch Entwicklungen überholt worden sind, die sie aus meiner Sicht zunehmend fragwürdig machen. Wenn das richtig gesehen ist (und ich stehe mit dem betreffenden Befund ja nicht alleine da), dann muss man sich Gedanken über Alternativen machen. Mit dem Konzept der Globalen Moderne bemühe ich mich, dazu einen Beitrag zu leisten.
Was die Kontroverse über den Modernebegriff angeht, so muss man sich schon entscheiden, ob man diesen im Singular oder plural im Sinne des Konzepts multipler Modernitäten verwenden will. Da es hier um eine theoretische Frage geht, kann man die Entscheidung auch nicht der Empirie überlassen. Empirische Analysen können höchst informativ und in vielerlei Hinsicht auch sehr instruktiv sein. Mit welchen Instrumenten wir der „wirklichen Welt“ zu Leibe rücken und welches Gewicht wir welchen „Kulturerscheinungen“ (Weber) im Blick auf welche Bezugsprobleme zumessen wollen, beantworten sie jedoch nicht.
Die Frage, ob nichtwestliche Länder in Sachen moderner Entwicklung „Nachzügler“ gegenüber „dem“ Westen sind, ist dagegen eine empirische Frage, und sie ist auch bereits entschieden: Sie sind es. Denn jenseits des Westens setzt die Entwicklung historisch später ein und erfolgt sie auch durchgehend unter dem (oft genug gewaltsam aufgezwungenen, stets jedoch wahrgenommenen) Einfluss/Eindruck westlicher Vorreiter, zu denen die Nachzügler sich so oder so verhalten müssen. Das schließt „Eigenständigkeit“ nicht aus, aber was heißt das eigentlich? Was konstituiert Eigenständigkeit im Verhältnis zu wem oder was, mit welchen Folgen usw.? Wo hört eine Entwicklung auf, eine Variation von auch andernorts angetroffenen Strukturmustern zu sein, wo macht sie einen Unterschied, der einen Unterschied macht? Und überhaupt: Sind wir nicht alle Nachzügler gegenüber den allermeisten uns betreffenden Neuerungen, an denen wir, falls überhaupt, ja in der Regel nur einen verschwindend kleinen Anteil hatten/haben? Ferner: Sind nicht letztlich alle Entwicklungspfade, also auch die vielen „westlichen“ Pfade, „Sonderwege“ (Norwgen ist nicht Schweden, Spanien nicht Italien, Kanada nicht die USA)? Warum dann die besondere Akzentuierung der Andersartigkeit nichtwestlicher „Anderer“?
Fragen über Fragen. Wenn ich mich gegen das Konzept der multiplen Modernitäten wende, so u.a. deshalb, weil ich den Eindruck habe, dass es außer einigen Binsenweisheiten, die niemand bestreitet, und überzogenen Kontinuitätsbehauptungen wenig zu bieten hat, das sich als Ansatzpunkt für die Bewältigung der praktischen und theoretischen Herausforderungen unserer Zeit eignen würde. Es bedient einen konservativen Reflex gegen unliebsamen Wandel, aber weder lässt dieser Wandel sich wirksam mit den symbolischen Mauern soziologischer Konstrukte eindämmen noch eröffnet der rückwärtsgewandte Blick „historischer“ Soziologen irgendwelche Perspektiven für einen produktiven Umgang mit der „postnationalen“ (Habermas) und, wie wir mittlerweile wissen, zunehmend auch postwestlichen „Konstellation“, der wir uns gleichwohl stellen müssen.
Ungeachtet der genannten Vorbehalte gegen empiristische (Schein-)Lösungen der Kontroverse um einen singulären oder pluralen Modernebegriff, schließe ich mich Ihrem Plädoyer für genaues Hinsehen gerne an. Wenig hilfreich scheint mir allerdings der Hinweis auf unzureichende Detailkenntnis in Fragen, zu denen man gleichwohl Stellung nimmt. Denn Ihr „momentaner Wissensstand“ ist ja nicht der Stand des Wissens, der zu den angeführten Phänomenen existiert. Wer sich den Stand des publizierten Wissens aneignet, müsste auf die von Ihnen wiedergegebenen Beobachtungen auch keineswegs „überrascht“ reagieren, weil das Beschriebene weithin bekannt ist. Dass es Ihnen nicht bekannt ist, sagt also vor allem etwas über Sie selbst aus, über Ihre Rezeptionsgewohnheiten und die in Ihrem sozialen, edukativen, beruflichen Umfeld (Deutschland, Europa) geltenden Maßstäbe zur Bestimmung relevanten Wissens. Ich weiß, wovon ich rede, es ist mir selbst nicht anders ergangen, bevor ich den „Standort“ gewechselt habe.
Mein Plädoyer für eine Globale Soziologie zielt auf eine Änderung dieser Maßstäbe und entsprechende Verschiebung der Grenzen relevanten Wissens. Das kann, wie Sie völlig zu Recht sagen, nur im Zusammenwirken vieler Kolleginnen und Kollegen gelingen, weil es die Möglichkeiten eines Einzelnen übersteigt. Das Konzept der Globalen Moderne ist ein erster Schritt in Richtung Entwicklung eines passenden Suchschemas; die Blogeinträge geben eine Vorschau auf einige von mir gesehene Möglichkeiten, es empirisch zu unterfüttern bzw. fruchtbar zu machen. Sein Potential ist damit natürlich nicht auch nur annähernd ausgeschöpft. Dasselbe gilt, verstärkt, für dasjenige einer wirklich globalen Soziologie. Mit beidem lassen sich leicht ganze Forschungsinstitute, ja Sonderforschungsbereiche beschäftigen; die Möglichkeiten sind hier buchstäblich grenzenlos. Außerdem legt beides auch Umorientierungen in der Lehre nahe, die künftige Generationen (von Soziologen) auf eine Welt vorbereiten, in der Nationales zwar nicht bedeutungslos wird, aber relativ an Gewicht verliert.
In diesem Zusammenhang abschließend eine Mitteilung, die vielleicht einige Leserinnen und Leser interessieren mag: Ab Mitte Mai werde ich für gut 13 Monate und, sofern sich eine Anschlussfinanzierung für die Zeit nach Juni 2014 findet, auch darüber hinaus in Deutschland sein. Über evtl. Gelegenheiten zum Gedankenaustausch, der Exploration von Forschungskooperationen usw. würde mich sehr freuen…