Komplexitätssteigerung und Risikoproduktion auf dem Lebensmittelmarkt

Die moderne Lebensmittelproduktion ist hochdifferenziert: Produziert wird in sehr langen, globalisierten Produktionsketten, die in komplexen Produzenten-Zulieferer-Netzwerken organisiert sind und sehr vielen Arbeitsschritte pro Produktionsstufe umfassen. Eine der Folgen ist die größere Störanfälligkeit der Gesamtproduktion, die auf Lebensmittelmärkten durch die spezifischen Machtverhältnisse auf dem Markt noch verstärkt wird.

 Größere Störanfälligkeit

Ein Hauptproblem, vor dem die Hersteller stehen, ist, dass sie durch die langen Produktionsketten und die vielen Produktionsschritte die Produktion immer schwerer kontrollieren können in dem Sinne, dass es sehr schwer ist, den Überblick zu behalten. Wie beschrieben, gleicht etwa die moderne Joghurtproduktion mehr der Chemieproduktion als der traditionellen Eigenproduktion im Haushalt.

Dadurch steigt die Gefahr von unbeabsichtigten und unerwünschten Nebenfolgen, weil es etwa zu Wechselwirkungen über verschiedene Produktionsstufen hinweg kommen kann: Durch die Vielzahl der Zwischenschritte, die bei der herkömmlicher Herstellung nicht erforderlich wären, entstehen mehr Fehlermöglichkeiten. Durch die Arbeitsteilung kann etwa ein Produkt wie Joghurt auch Rückstände aus früheren Phasen des Produktionsprozesses enthalten. Das Aflatoxin in der Milch ist ein gutes Beispiel hierfür: Die Futtermittelhersteller hatten wahrscheinlich nicht bedacht, dass dieses Mittel zwar bei der Verfütterung an Schlachtvieh relativ unbedenklich ist (weil es nicht ins Fleisch gelangt), aber bei Milchvieh durchaus Probleme erzeugen kann. Auch wenn die Kühe mit Antibiotika gespritzt wurden und diese Rückstände in der Milch sind, oder wenn die Früchte mit Pestiziden gespritzt sind, können sich diese Rückstände später im Joghurt wiederfinden. Der dauernde Konsum von Antibiotika etwa fördert Resistenzen von Bakterien, die Menschen gefährlich werden können.

Weiterhin können einzelne Produktkomponenten (wie Zusatzstoffe) chemisch und biologisch miteinander reagieren.

Schließlich können durch die industrielle Massenproduktion Umweltprobleme entstehen, wie etwa die Belastung des Grundwassers und der Böden mit Pestiziden, Düngemitteln und Gülle; der enorme Wasser- und Energieverbrauch, der bei Transport, Weiterverarbeitung und Kühlung der Milch entsteht.

Größere Reichweite von Risiken

Wenn es zu einem unerwünschten Zwischenfall kommt, existiert ein zweites Problem: Die Risiken haben eine viel größere Reichweite:
Wenn früher bei der traditionellen Herstellung etwa ein Liter Rohmilch verunreinigt war, war auch nur ein Haushalt betroffen.

Da Joghurt heute in Massenproduktion hergestellt wird, d.h. Alles in großen Containern verarbeitet wird, reicht dagegen ein einziger Liter verdorbene Milch, der versehentlich und unerkannt in die Produktionsanlage gerät, um (Hundert)Tausende von Verbrauchern zu vergiften. Das ist auch der Grund, warum bei der Produktion so stark auf Qualitätskontrolle und Hygiene geachtet wird – was aber wieder neue Risiken birgt: Die Desinfektionsmittel müssen so stark sein, dass sie Mikroorganismen abtöten. Wenn sie in die Nahrungskette gelangen, können sie gesundheitsschädlich sein. Weiterhin können Reinigungsmittel Allergien auslösen.

Verstärkende Faktoren

Verstärkt wird diese größere Störanfälligkeit durch eine Reihe von Faktoren. Zu nennen sind u.a.:

  • Die Kombination aus hohem Preisdruck und größerer Anonymität (durch große räumliche Distanzen zwischen den verschiedenen Produktionsstufen) verstärkt nicht nur die Unübersichtlichkeit (durch die es unabsichtlich zu Fehlern kommen kann), sondern auch die Anreize zum Betrug – was juckt es den serbischen Futtermittelhersteller, ob der deutsche Verbraucher verunreinigten Joghurt isst?
  • Da Qualitätssicherung immer bedeutsamer wird, unterscheiden sich insbesondere Naturjoghurts kaum noch in ihren sensorischen und hygienischen Eigenschaften. Fruchtjoghurts unterscheiden sich zum einen in ihrem Geschmack, zum anderen in den ihnen beigefügten Zutaten. Damit können Produzenten ihr Produkt nur noch über einen niedrigen Preis oder ausgefallene Geschmackssorten von der Masse abheben. Viele Unternehmen versuchen daher, dem Preiswettbewerb durch Innovationen auszuweichen, um Marktnischen zu bilden – tatsächlich ist etwa der Joghurtmarkt einer der innovativsten überhaupt. Je schneller aber das Innovationstempo, desto größer die Gefahr, dass auch einmal ein Produkt auf den Markt gerät, das noch nicht ganz ausgetestet ist und an irgendeiner Stelle der sehr langen Produktionskette eine Nebenfolge hat, an die niemand gedacht hat.[1]
  • Gleichzeitig ist eine Machtverschiebung von den Produzenten zum Handel und zu den Konsumenten zu beobachten. Die Machtverschiebung zum Handel hatte u.a. zur Folge, dass eine Innovation im Handel (Discounter) die Preissenkungsspirale in Gang setzte, aus der die Lebensmittelproduzenten heute nicht mehr herauskommen, die aber mit einer der Hauptverantwortlichen der Risikoproduktion auf dem Lebensmittelmarkt ist.
  • Die Machtverschiebung hin zum Verbraucher hat eine weitere risikoverstärkende Folge – nämlich die von unterschiedlichen Reaktionsgeschwindigkeiten auf Marktveränderungen: Will eine Molkerei ein anderes Joghurtprodukt oder gar ein anderes Milchprodukt herstellen will, dauert dies eine gewisse Zeit, bis die Produktionsanlagen umgestellt sind, und verursacht erhebliche Kosten. Der Verbraucher hingegen ändert zwar (wie konsumsoziologische Studien zeigen) seinen Gesamtkonsum von Milchprodukten nur langsam, aber unter Umständen wechselt er sehr schnell von einer Joghurtsorte zur nächsten oder von einem Milchprodukt zum nächsten. First Mover sind bei neuen, ausgefallenen Joghurtsorten deutlich im Vorteil, da der Neuheitswert schnell abnimmt und andere Hersteller nachziehen. Dies wiederum beschleunigt die Innovationsgeschwindigkeit auf dem Joghurtmarkt mit den oben genannten Folgen. In der Gesamtheit bedeutet dies, dass Produzenten nicht nur einem permanentem Preisdruck ausgesetzt sind, sondern sich auch immer schneller auf Marktänderungen einstellen müssen, aber immer hinterherhinken, weil es Zeit dauert, die Produktion umzustellen. Das Konsumverhalten verstärkt auch die anderen oben beschriebenen Risiken und Probleme – etwa Umweltprobleme, Transportkosten oder Beigabe von Zusatzstoffen. So kaufen etwa die meisten Verbraucher nicht mehr täglich, sondern nur einmal die Woche ein, wodurch ein schneller Transport, bessere Kühlung und verlängerte Haltbarkeit immer wichtiger werden. Insgesamt verweist dies darauf, dass das Verbraucherverhalten (über das ich nächste Woche schreiben werde) zwar nicht direkt, aber indirekt sehr wohl zur Risikosteigerung auf Märkten beiträgt.
  • Die übliche Darstellung des Produkts in den Medien verschleiert diese Risiken – dort dominiert das Bild von „glücklichen Kühen auf grünen Weiden“. Auch die politische Regulierung des Marktes (insbesondere Lebensmittelgesetze und Lebensmittelkontrollen) gaukeln dem Verbraucher falsche Sicherheit vor. Die Kombination kann insbesondere bei einem Verbraucher, der sich nicht mit Ernährung auskennt, den Eindruck erwecken, es sei völlig egal, was er isst – weil eben die Qualität immer gleich ist und damit nur persönlicher Geschmack und Preis eine Rolle spielen. Man könnte sagen, dass sich nicht alle, aber viele Verbraucher vom Produkt entfremdet haben und den Joghurt eben wie einen Schuh oder eine Schraube behandeln – was er aber eben nicht ist, sondern ein Lebensmittel. Die Hersteller sind in der Zwickmühle, dass sie einerseits von dieser Entfremdung leben: Wenn der Verbraucher wüsste, wie Joghurt produziert wird, würde er ihn vielleicht lieber wieder selbst machen oder von kleineren Molkereien kaufen. Andererseits wird diese Entfremdung vom Produzenten und Lebensmitteln an sich auch zum Verhängnis: Der Preis, Moden und Launen werden zu Hauptkaufargumenten.

Selbstverstärkende Prozesse

Eine Reaktion auf diese Mechanismen ist eine weitere Differenzierung des Produktionsprozesses auf allen drei Ebenen, so dass man mit Armin Nassehi (2012a) argumentieren kann, dass Differenzierung gleichzeitig Ursache und Folge des Problems ist.

Funktionale Differenzierung ist die funktionale Lösung für das Komplexitätsproblem, das mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung bewältigt wird. (…) Diese Lösung ist aber zugleich das Problem. Die Codierung ist so niedrigschwellig gebaut, dass letztlich alles, was geschieht, Beobachtungsanlass für die Funktionssysteme wird: (…). (…) Die Ausdifferenzierung von Teilsystemen der Gesellschaft am Differenzierungskriterium der Funktionen hat also ein Problem gelöst, das nun seinerseits Folgeprobleme erzeugt. Die Stärke simpler, binärer Codierung wird zu einem Krisenanlass. Und letztlich steht der Gesellschaft wenig Anderes zur Verfügung, als den krisenerzeugenden Mechanismus zu verwenden, um mit der Krise klarzukommen.

Nassehi (2012b) erläutert ebenfalls, dass genau dadurch die Risiken weiter gesteigert werden – sozusagen als selbstverstärkender Prozess:

Gerade weil es sich bei den modernen Funktionssystemen um codierte Systeme handelt, fehlt ihnen eine eingebaute Stoppregel und damit die Fähigkeit einer besseren Konditionierung der eignen Zukunft und der Koordination mit anderen Funktionssystemen auf der Ebene der Codierung. Die einzige Stoppregel, die codierte Systeme kennen könnten, ist die, dass sie sich nur innerhalb des Codes bewegen können – selbst wenn semantisch und aus der Perspektive der Selbstbeschreibung von Akteuren etwas anderes beabsichtigt wird.

 

 

Anmerkung

[1] Da für Innovationen Forschungs- und Entwicklungstätigkeit notwendig ist und diese immer kostenaufwändiger wird, sind im Übrigen Großunternehmen, die Marken produzieren, im Vorteil. Der Prozess der Differenzierung geht daher einher mit Unternehmenskonzentration.

Autor: Nina Baur

Prof. Dr. Nina Baur (März & April 2013) Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin Arbeitsschwerpunkte: Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung, Marktsoziologie, Prozesssoziologie, Raumsoziologie