Entgegen der Annahme neoklassischer Theorien spielt Macht auf modernen Massenmärkten eine große Rolle. Einerseits sind Arbeits-, Finanz-, Medien- und Konsumgütermärkte politisch reguliert und durch politische Regulierung miteinander und mit anderen Handlungsfeldern verwoben. Andererseits ist aber auch das Marktgeschehen selbst durch Machtspiele geprägt, und die relativen Machtverhältnisse der verschiedenen Produktionsstufen beeinflussen maßgeblich das Wettbewerbsgeschehen.
So stehen auf dem Automobilmarkt relativ wenige Hersteller sehr vielen Zulieferern und Händlern gegenüber. Die Produzenten können daher den anderen Marktakteuren weitgehend die Marktregeln diktieren, insbesondere zu welchen Preisen und unter welchen Bedingungen Produkte abgesetzt werden. Etwas komplexer sind die Machtverhältnisse auf dem Joghurtmarkt.
Beide Märkte haben gemeinsam, dass sie hoch technisiert und differenziert sind. Ähnlich wie die Automobilindustrie erfordert auch eine moderne Joghurtfabrik große Investitionen in den Maschinenpark – man benötigt folglich ein erhebliches Startkapital, um in die Joghurtproduktion einzusteigen. Dies erschwert auch den Markteintritt für neue Unternehmen –Konkurrenz nimmt v.a. die Form von Verdrängungswettbewerb unter bestehenden Marktakteuren an.
Ein erster wichtiger Unterschied zwischen Joghurt- und Automobilindustrie sind die umgekehrten Größenverhältnisse. Auf dem Joghurtmarkt stehen vergleichsweise wenigen Handelsunternehmen sehr vielen Molkereien gegenüber – allein dadurch entsteht ein Machtungleichgewicht, das ein wesentlicher Grund für die niedrigen Preise und die Risikoproduktion auf Lebensmittelmärkten ist. Dieses Machtungleichgewicht wird noch dadurch verstärkt, dass die meisten Supermarktketten deutschlandweit dieselbe Produktpalette anbieten wollen und deshalb von den Molkereien große Liefermengen und nationale Lieferungen fordern. Hierzu müssen die Molkereien entsprechend große Menge produzieren – was sie aber im Zeitverlauf abhängiger von den Supermarktketten macht und ihre Marktmacht weiter verringert (und gleichzeitig zu einem Konzentrationsprozess innerhalb des Molkereiwesens führt).
Ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen den beiden Märkten sind die Produkteigenschaften, insbesondere die Haltbarkeit. In einer Wirtschaftsflaute kann ein Autohersteller notfalls unverkäufliche Produkte lagern – das ist zwar teuer und ggf. mit Wertverlust verbunden, geht aber. Joghurt dagegen ist ein verderbliches Produkt – wird es nicht innerhalb ein oder zwei Wochen abgesetzt, wird es unverkäuflich. Dies erzwingt einerseits eine bessere Koordination der Marktakteure untereinander – der Ablauf zwischen diesen Betrieben muss reibungslos funktionieren. Es darf keine Verzögerungen geben, und die Kühlkette muss garantiert werden. Andererseits verstärkt es auch die Marktmacht des Handels gegenüber den Molkereien: Erstere können Preisverhandlungen notfalls einfach aussetzen. Eher früher als später geben Letztere schon nach (bevor sie ihre Produktion komplett einstampfen müssen).
Neben den Machtbeziehungen Handel – Produzent (Autohersteller/Molkerei) gibt es auch noch Machtbeziehungen Produzent – Zulieferer. In der Automobilindustrie dominieren, wie gesagt, die Hersteller. Wie der Automarkt wird auch in der Joghurtindustrie mittlerweile hoch arbeitsteilig in komplexen Produzenten-Zulieferer-Netzwerken aus hochspezialisierten, sehr heterogenen Unternehmen produziert. Neben Joghurtherstellern (Molkereien), auf Joghurttransport spezialisierten Logistikunternehmen sowie Groß- und Einzelhandel gehören zur Wertschöpfungskette u.a.: Samenbänke, Kälberbetriebe, Kälberzuchtbetriebe, Getreide produzierende Landwirte, Futtermittelbetriebe, Tierärzte (und Zuliefererindustrie), Milchbauern, auf Milchabholung spezialisierte Betriebe, Starterkulturhersteller, Fruchtzubereitungshersteller, Süßstoffhersteller, Konservierungsmittelhersteller, Reinigungsmittelhersteller und Spezialanlagenbau. Hinsichtlich der Machtverhältnisse auf dem Markt lassen sie sich diese Zulieferer in drei Gruppen unterteilen:
- Strukturelle Marktmacht auf Seiten der Zulieferer: Futtermittelhersteller, Tierärzte (und deren Zuliefererindustrie), Fruchtzubereitungshersteller, Süßstoffhersteller, Konservierungsmittelhersteller, Reinigungsmittelhersteller, Spezialanlagenbauer usw. haben Ausweichmöglichkeiten, weil sie auch andere Märkte (andere Branchen oder andere Regionen) beliefern. Tierärzte behandeln auch andere Tiere, Fruchtzubereitungshersteller beliefern auch andere Lebensmittelmärkte usw. Des Weiteren verfügen solche Hersteller häufig über eine größere Produktpalette. So stellen viele Fruchtzubereitungshersteller auch Säfte oder Marmelade her. Diese Zulieferer sind also vergleichsweise wenig abhängig von den Molkereien, während Molkereien oft keine Ausweichmöglichkeiten haben. Beispielsweise arbeiten in einer Region nur begrenzt viele Tierärzte. Hat eine Molkerei erst einmal in bestimmte Anlagen investiert, kann sie nur bestimmte Arten von Fruchtzubereitung von ganz bestimmten Herstellern verarbeiten. Will sie den Zulieferer wechseln, muss sie daher häufig zuerst in neue Anlagen investieren. Diese zweite Gruppe von Zulieferern kann deshalb ihren Abnehmern ein Stück weit die Preise diktieren, allerdings nicht beliebig: Sind die Preise zu hoch, steigen die Produktionskosten der Molkereien unter Umständen so stark, dass diese im Konkurs gehen.
- Ausgeglichene Machtverhältnisse: Eine zweite Gruppe dieser Zulieferer ist zwar extrem stark vom Milch- bzw. Joghurtabsatz abhängig, weil sie nur für diese Märkte Vorleistungen erbringen. Hierzu gehören u.a. Samenbänke, Kälberbetriebe, Kälberzuchtbetriebe, Futtermittelbetriebe, Starterkulturhersteller sowie auf Milchabholung bzw. Joghurttransport spezialisierte Logistikunternehmen. Steckt der Milchmarkt in der Krise, geraten auch diese Unternehmen in die Krise. Gleichzeitig liefern diese Zulieferer aber Produkte, die die modernen Milchbauern und Molkereien nicht selbst herstellen können, die allerdings für die Produktion unverzichtbar sind. Aufgrund der hohen Spezialisierung existieren nur wenige Konkurrenten. Entsprechend ist das Machtverhältnis zwischen dieser Zulieferergruppe und den Abnehmern (Molkereien) relativ ausgewogen.
- Strukturelle Marktmacht auf Seiten der Molkereien: Gegenüber den Milchbauern haben die Molkereien dagegen strukturell mehr Marktmacht. Erstens verhalten sich die Bauern zu den Molkereien hinsichtlich Zahl und Größe wie die Molkereien zum Handel. Zweitens sind die Bauern wegen der Verderblichkeit des Produktes Rohmilch genauso auf einen schnellen Absatz an die Molkereien angewiesen wie die Molkereien an den Handel. Dieses Machtungleichgewicht wird drittens verstärkt durch die durch die Milchquoten staatlich verordneten Überproduktion. Hinzu kommen die jahreszeitlichen Schwankungen der Milchproduktion: Während der Milchkonsum relativ stabil über die Zeit bleibt, geben die Kühe in manchen Jahreszeiten wesentlich mehr Milch, als benötigt wird. Da Milch ein schnell verderbliches Produkt ist, ist jegliche Art von Überproduktion ein Problem: Die einzige Möglichkeit, die Milch haltbar zu machen, ist, sie zu Milchpulver zu verarbeiten – ein Produkt, das innerhalb der EU kaum nachgefragt wird und für das die Preise extrem niedrig sind. Nimmt kein Weiterverarbeitungsbetrieb die Milch ab, verdirbt sie, und die Bauern bleiben auf ihren Produktionskosten sitzen: Da Kühe lebende Tiere sind, fressen sie das ganze Jahr, benötigen Ställe, tierärztliche Versorgung usw. Da die Milchbetriebe ihr Produkt unbedingt möglichst schnell absetzen müssen und weil zu viel produziert wird, sind sie in einer extrem schwachen Verhandlungsposition: Bevor sie die Produktionskosten komplett selbst zahlen müssen, setzen sie ihr Produkt lieber nur knapp über den Produktionskosten ab.
Diese Machtverhältnisse der verschiedenen Stufen der Produktionskette erklären, warum ein Konkurrenzkampf der Handelsunternehmen über die Molkereien an die Milchbauern (also immer an das schwächste Glied der Kette) weitergegeben werden und so die Preissenkungsspirale am Laufen halten. Infolge des ruinöse Preiswettbewerbs sind Landwirte und Molkereien sie zu ständiger Modernisierung gezwungen, um ihre Produktionskosten zu senken: Sie lagern immer mehr Arbeitsschritte an Zulieferer aus, wodurch sie gleichzeitig von diesen abhängig wurden. Sie erhöhen ihre eigene Produktion ständig, indem sie sich spezialisieren (wodurch sie wiederum stärker von einem spezifischen Teilmarkt abhängig werden) und für ihr Spezialprodukt „Milch“ bzw. „Joghurt“ die Produktion erhöht (was wiederum das Problem der Überproduktion verstärkt). Der enorme Preisdruck hat außerdem Selektion zur Folge: Wem es nicht gelingt, die Preise zu senken, der geht in Konkurs.
Entsprechend ist die Bauernschaft heute gespalten (was wiederum ihre Verhandlungsposition gegenüber der EU schwächt): Auf der einen Seite stehen kleine, weniger spezialisierte Betriebe, die nicht die Mittel zur Modernisierung haben bzw. aus Idealismus auf „traditionelleren“ Produktionsmethoden beharren und die ständig in Konkursgefahr schweben. Auf der anderen Seite stehen industriell arbeitende, hoch spezialisierte Großbetriebe, die enorm wettbewerbsfähig sind, aber eine wesentliche Ursache der Risikoanfälligkeit des Gesamtnetzwerks sind, die uns in den letzten Monaten durch die Lebensmittelskandale immer wieder vor Augen geführt wird.
Hallo Frau Baur, ich lese mit einigem Interesse Ihre Artikel. Ich muss ihnen diesmal in einigen Punkten wiedersprechen.
Es besteht keine Abhängigkeit zwischen Fruchtzubereitungshersteller und Molkerei zum Vorteil der Fruchtzubereitungshersteller. Die Molkerei kann zwar auf Ihren Anlagen nur bestimmte Arten von Milchprodukten herstellen. Die unterscheiden sich dann ob es gerührter, unterlegter, gestrudelter,….. Joghurt ist. Wer die Fruchtzubereitung liefert ist dabei unerheblich und kann innerhalb von wenigen Wochen auf andere, günstigere Fruchtzubereitungshersteller umgestellt werden. Ein Preisdiktat ist gegeben, eher ein Kampf zwischen Fruchtzubereitungshersteller und Molkerei um jeden Cent.
Die Fruchtzubereitungshersteller ihrerseits sind seit Jahren mit extremen Rohstoffkostensteigerungen bei Früchten, Zucker und Energie konfrontiert. Die Welt hat einen immer höheren Bedarf an Früchten, die Ernte in europäischen Anbaugebieten verteuert sich immer mehr, Rohstoffe werden zu Energie verwandelt.
Es ist zwar korrekt, das Fruchtzubereitungshersteller auch andere Lebensmittelgruppen herstellen. Aber auch hier liefern diese in umkämpfte, gesättigte Märkte. Auf Anlagen zur Fruchtzubereitungsherstellung kann man aber leider keine Konfitüre oder Fruchtsäfte herstellen. Das bedeutet für die Fruchtzubereitungshersteller eine unangenehme Sandwitch Position. Glücklich dann der, der andere Standbeine wie Aromen hat oder in einen grosses Netz vertikaler Integration eingebunden ist oder rechtzeitig Märkte ausserhalb Europas erschlossen hat.
Die Milchquoten verführen die Bauern nicht zur Überproduktion. Es begrenzt die Produktion! Fällt die Milchquote 2015 weg, wird mit einem schnellen Anstieg der Milchmenge in Europa um 20% gerechnet. Das wird zur einem weiteren Verfall der Milchpreise führen, da wie Sie richtig ausführen, frische Milch nicht gelagert, sondern verarbeitet werden muss. Letztendlich wird es den Handel freuen, der ja dauerhaft auf sinkende Preise setzt und die Molkereien weiter zu Preissenkungen zwingen wird. Das wird dann die Landwirte in die Knie zwingen, die nicht in grossen Agrarfabriken kostengünstig grosse Mengen herstellen können.
Lieber Herr Müller,
vielen dank für den Hinweis.
Herzliche Grüße,
Nina Baur