CARE!

Die Westfälische Rundschau titelt heute etwas skandalisierend „Deutschland droht Pflege-Katastrophe“. NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) greift das drängende Thema nicht zufällig in der Zeit der Sondierungsgespräche möglicher Regierungsparteien auf. Die Botschaft: Für ein menschenwürdiges Leben braucht eine alternde Gesellschaft tragfähige Reformen der Pflege und zwar schnell. Doch das reicht nicht, wissen Forschende in den Sozialwissenschaften schon länger.

Die Debatte braucht eine größere Rahmung. Es geht nicht nur um die Frage von zukünftig vorhandenem Pflegepersonal und bezahlbaren Pflegeleistungen. Diesen größeren Rahmen hat die Frauen- und Geschlechterforschung von ihrem Neustart in den 1970er Jahren an im Visier gehabt, wenn sie auf die „Arbeit aus Liebe“ als Kehrseite und Bedingung zur Arbeit für den Markt hingewiesen hat. Im Schatten bezahlter Arbeit, unentgeltlich vor allem von Frauen erledigt, kaum anerkannt als gesellschaftlich notwendige Tätigkeit war Fürsorge bis in die 1990er Jahre hinein ein Streitthema, das hauptsächlich in Paargemeinschaften und familiärem Rahmen ausgefochten und praktisch (mehr oder weniger gelungen) gelöst wurde. Gleichwohl hat sich das Erklärungsmuster durchgesetzt, dass die Strukturen der modernen Gesellschaft durch eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung geprägt sind, die zu Ungleichheiten und Ungerechtigkeit führen und die erst allmählich einer freieren Aufgabenteilung weichen. Die Formel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf machte diese Erkenntnisse politikfähig.

Inzwischen ist die Debatte weiter. Verschiedene Disziplinen aus Sozial- und Gesundheitswissenschaften sind involviert, ebenso wie Praktiker und Praktikerinnen in Politik und Bildung, in Betreuung und Pflege, in Medizin und Technik. Weder steht das Thema der Kinderbetreuung isoliert auf der Agenda noch das Thema Pflege. Es wird immer deutlicher, dass ein Problemfeld tangiert ist, das eher mit dem Begriff der „Fürsorge“ oder in der internationalen Debatte „Care“ erfasst werden kann. Das Augenmerk wird damit auf das gesamte Spektrum an fürsorgenden Tätigkeiten gerichtet: auf Pflege und Unterstützung in Gesundheit, Erziehung, Betreuung, Versorgung, in privatem Raum und öffentlichen Einrichtungen. Es umfasst die Sorge für sich selbst, für andere und für das Gemeinwesen. Damit verweist der Care-Begriff darauf, dass Fürsorge keine Privatsache ist, sondern als gesellschaftliche Aufgabe zu denken und politisch zu lösen ist. Aber alte Lösungen stehen nicht mehr in Passung zu neuen Rahmenbedingungen.

Denn betont wird in der aktuellen Diskussion auch, dass die Herstellung und Bereitstellung fürsorgender Tätigkeiten kein Selbstläufer sind wie der Liebesdienst in der fordistisch geprägten, starren Moderne. Lebens- und Arbeitsverhältnisse haben sich verändert, Bildungsansprüche sind gestiegen, Erwerbsbeteiligung von Frauen löst das traditionelle Geschlechterarrangement auf. Der gesellschaftliche Kernbereich Familie gerät an zwei Zeitpolen unter Druck: An ihrem Beginn mit der Versorgung kleiner Kinder sowie bei ihrem fortgeschrittenen Bestand mit der Pflege von Angehörigen. Glück hat, wer beide Pole chronologisch nacheinander durchlaufen kann, wer räumlich nicht zu weit entfernt von seiner Herkunftsfamilie lebt, wer seine Lebens- und Arbeitszeiten flexibel gestalten kann, wer genügend finanzielle Mittel für Hilfestellungen zur Verfügung hat.

Damit es nicht beim individuellen Glück bleibt, hat sich eine Reihe von Initiativen gebildet, die auf wissenschaftlichem und politischem Weg dem drängenden Problem nachgehen. So war die Care-Krise Ausgangspunkt eines ExpertInnenworkshops im Jahr 2012, federführend von Margrit Brückner, Karin Jurczyk, Katharina Pühl und Barbara Thiessen angestoßen. Und so erscheinen noch dieses Jahr zwei Zeitschriftenausgaben, die sich dem Thema widmen: Zum einen versammeln die Feministischen Studien im Heft 2/2013 Aufsätze zum Thema „Sorgeverhältnisse“, und setzen damit eine Diskussion fort, die die Zeitschrift bereits im Jahr 2000 unter dem Titel „Fürsorge, Anerkennung, Arbeit“ unter Regie von Eva-Senghaas-Knobloch und Christel Eckert aufgegriffen hatte. Auch der Sonderband Nr. 20 der Zeitschrift Soziale Welt stellt das Thema ins Zentrum (Aulenbacher, Brigitte, Birgit Riegraf & Hildegard Theobald (Hrsg.): Care im Spiegel soziologischer Diskussion. Baden-Baden: Nomos.)

Ein „Care-Manifest“ befindet sich auf dem Weg in die Öffentlichkeit, das im Nachgang des ExpertInnen-Workshops entstanden ist, um Wege in eine Care-Gerechtigkeit zu finden. Die „Social Platform“, ein breites Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen zur Stärkung der sozialen Dimension in der EU-Politik, greift das Thema Care aus menschenrechtlicher Begründung auf: http://www.socialplatform.org/what-we-do/over-arching-campaigns/care/ Darunter findet sich zum Beispiel ein Positionspapier mit Empfehlungen für eine zukünftige Gestaltung der Pflege: http://www.socialplatform.org/wp-content/uploads/2013/03/20121217_SocialPlatform_Empfehlungen_fuer_Pflege_DE.pdf

Ganz praktisch und modern rufen Pflegekräfte zum Flashmob https://www.facebook.com/events/750724454956491/ für Samstag, den 19.10.2013 um 11 Uhr in verschiedenen Städten auf.

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(Quelle: Schwäbische Post, 8.10.2013)

3 Gedanken zu „CARE!“

  1. Ende der Arbeitsteilung

    Sind die Basis allen menschlichen Zusammenlebens (die Makroökonomie, insbesondere die Bodenordnung) und die grundlegendste zwischenmenschliche Beziehung (das Geld) fehlerhaft, ist alles fehlerhaft, was das menschliche Zusammenleben im weitesten Sinne betrifft. Angebot und Nachfrage sind nicht im Gleichgewicht, es entstehen Konjunkturen und Krisen, systemische Ungerechtigkeit, der Zwang zur Lüge, Bürger- und Völkerkriege, Umweltverschmutzung und -zerstörung, Terrorismus, Kriminalität, materielle und geistige Massenarmut, Fehlernährung – bis hin zur genetischen Degeneration.

    Was Zivilisation ist, findet sich ab Genesis_2,4b als „Paradies“, und die Ursache, warum die Menschheit bis heute nicht zivilisiert ist, unter Genesis_3 als „Erbsünde“ mit genialen archetypischen Bildern und Metaphern exakt umschrieben. Der religiöse „Normalbürger“ erkennt die zahlreichen Negativsymptome der „Mutter aller Zivilisationsprobleme“ nicht als deren zwangsläufige Folgen, sondern interpretiert sie als vermeintliche Folgen einer „Sündhaftigkeit des Menschen“ – die durch eine „Moral“ zu verbessern sein müsste.

    Die vom „Normalbürger“ als „vernünftig“ gedachten Moralvorstellungen bestimmten die Kulturentwicklung über Jahrtausende und führten dazu, dass die wahre Zivilisation nicht nur allgemein unverstanden blieb, obwohl sie nach dem tatsächlichen Stand des Wissens längst verwirklicht sein müsste, sondern die „Moral“ von der „etablierten Wissenschaft“ sogar als „entscheidender Vorteil“ des Menschen in der gesamten Evolution angesehen wird.

    Unterstützt wird die „Moral“ von der Religion, deren Aufgabe es war, die Erbsünde – solange noch niemand wusste, wie sie zu überwinden ist – aus dem Begriffsvermögen des arbeitenden Volkes auszublenden, damit das, was wir heute „moderne Zivilisation“ nennen, überhaupt entstehen konnte; denn kein vernünftiger – nicht religiös verblendeter – Mensch wäre dazu bereit, in einer a priori fehlerhaften Arbeitsteilung zu arbeiten, wenn er weiß, dass ein nachhaltiges Wirtschaften unmöglich und der nächste Krieg unvermeidlich ist.

    Damit wurde der Krieg zum „Vater aller Dinge“, was er jedoch nur solange sein konnte, wie es noch keine Atomwaffen gab! Das heißt nun nicht, dass ein „Frieden durch ultimative Abschreckung“ möglich wäre. Um die ganze „moderne Zivilisation“ – von einem Tag auf den anderen – auszulöschen, ist es nicht erforderlich, dass irgendein wahnsinniger Präsident den „roten Knopf“ betätigt – es reicht schon aus, wenn wir gar nichts machen.

    In der Heiligen Schrift heißt das Ende der Arbeitsteilung „Armageddon“; so genannte „Wirtschaftsexperten“ und „Spitzenpolitiker“ schwafeln irgendwas von „Finanzkrise“; und wer etwas von Makroökonomie versteht, nennt diese größte anzunehmende Katastrophe der Weltkulturgeschichte – nach J. M. Keynes – globale Liquiditätsfalle.

    1. Herr Wehmeier veröffentlicht hier zum wiederholten Mal Abschnitte von seiner Homepage, die nichts mit dem Thema, auf den sein Kommentar der Form nach antwortet, zu tun haben. Zudem sind die Beiträge fundamentalistisch in ihrer Ausrichtung und haben in einem soziologischen Blog nichts zu suchen.

      1. Eigennutz = Gemeinnutz

        Nein, für Sie ist diese Gleichung ein Ding der Unmöglichkeit.

        Ja, wer sich eine Welt ohne Krieg, ohne Armut und Hunger (täglich verhungern 20 bis 30 Tausend Kinder), ohne Ausbeutung und Arbeitslosigkeit nicht vorstellen kann, muss zwangsläufig, so wie Sie, auf den Kommentar von Herrn Wehmeier reagieren. Herr Wehmeier beschreibt nämlich auf seiner Internetseite, wie so eine Welt demnächst Wirklichkeit werden wird, wie die Gleichung Eigennutz = Gemeinnutz automatisch erfüllt sein wird, u. zw. ohne die verlogene, scheinheilige Moral.
        Noch ist all das für Sie schwer zu begreifen, denn man hat Ihnen als kleines King täglich Märchen vom Guten und Bösen erzählt, in denen das Gute immer siegt, man muss nur fest daran glauben, und wenn nicht in diesem Leben so doch im Jenseits.

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