„Weber 2000“ — prägnanter kann man den Unterschied zwischen Soziologen und Historikern wohl nicht auf den Punkt bringen. Das klingt wie der Name einer Supermarktkette in Schweden, ist aber ein bibliographischer Nachweis. Historiker bringen es kaum fertig, ihn in die Tastatur zu tippen. Max Weber lebte von 1864 bis 1920, seine Texte entstammen einer vergangenen Epoche. Ohne ein „(urspr. 1904)“ in der Fußnote oder einer Annotation im Text kommen Historiker deshalb nicht aus. Soziologen dagegen verleihen ihren Theoretikern oft eine Art überzeitlicher Gültigkeit, als habe Weber mit seinen Thesen zum Protestantismus oder zur Bürokratie ein theoretisches Modell geliefert, mit dessen Hilfe man immer gültige Formen gesellschaftlicher Ordnung beschreiben kann. Dabei entstammt jede soziologische Beschreibung oder Theorie erst einmal den Erfahrungen einer spezifischen Zeit. Alle Geschichtsschreibung übrigens auch, von daher gibt es vielleicht tatsächlich nur Gegenwart, zu der sich jedes System seine Vergangenheit und Zukunft hinzurechnet.
Auch Soziologen wissen um begrenzte Reichweiten und epochale Verwurzelungen ihrer Säulenheiligen. Auch Historiker lesen gerne Weber und haben ihn gewinnbringend genutzt, um die Geschichte der Moderne zu interpretieren. Aber das ändert nichts daran, dass Soziologen in der Regel Theoriearbeit und die historische Genese einer Theorie seltener aufeinander zu beziehen scheinen. Historiker dagegen historisieren ununterbrochen, das ist ihre Profession. Wenn sie Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ lesen, erkennen sie sofort, dass diese beiden Begriffe keine objektive Realität beschreiben, sondern wertende Beschreibungen des 19. Jahrhunderts sind, nämlich wie die Gesellschaft sein sollte und wie nicht, dass die Begriffe den vermeintlichen Gegensatz von „Natur“ und „Künstlichkeit“ instrumentalisieren, dass Soziologie also Gesellschaftspolitik ist. Wenn sie dann noch sensibel für Narrativitätstheorien sind, finden sie das Begriffspaar in ganz unterschiedlichen Texten, oft explizit, oft indirekt, etwa in Hans Bernhard Reichows „organische Stadtbaukunst“, die sich gegen die Seelenlosigkeit der Massengesellschaft richtete; in John Jackson Brinckerhoffs „vernacular landscape“ und in Michel de Certeaus oder Henri Lefebvres Unterscheidung von espace und lieu, von kapitalistischer, übermächtigender Raumkontrolle von oben und proletarischer, widerständiger Raumpraxis von unten. Selbst wenn „Gemeinschaft“ nicht drauf steht, ist sie oft drin im Text. Bis in die Alltagsgeschichte meiner Profession hinein geistert(e) diese Differenz von Struktur, Planung, Übermächtigung auf der einen und Lebendigkeit, Praktiken, Eigensinn auf der anderen Seite. Stuart Halls „The people versus the power block“ ist, behaupte ich, eine verkappte Reformulierung von Tönnies „Gemeinschaft und Gesellschaft“.
Das ist vermutlich ungerecht. Aber es geht mir um die Methode. Liest man so, mutiert jede empirische Beschreibung, jeder theoretische Entwurf umgehend zur Quelle, die viel über die Befindlichkeit und Wertewelt eines Autors aussagt, aber nichts darüber Hinausgehendes. Wenn für Historiker jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ ist, so ist auch jeder Text unmittelbar zum Autor und dessen Erfahrungen.
Was aber macht man dann mit — beispielsweise — Luhmann? Das ist eine meiner Säulenheiligen, und in der hoffentlich bald erscheinenden Biografie wird seine Systemtheorie sicherlich in seinen eigenen Erfahrungen um die Jahrhundertmitte verortet werden. Ist er dann ebenfalls nur noch unmittelbar zu sich, selbst winziges Partikel einer langen Geschichte, die er eigentlich als Beobachter x-ter Ordnung zu analysieren beanspruchte? Ich brauche ihn aber, vor allem die beobachtungstheoretischen Aspekte seines Werkes, um auf diese Weise Bourdieu, Foucault und Fleck als Theorien lesen zu können, die es erlauben, empirisch zu beschreiben, wie Beobachtungen möglich werden. Aus dieser Aporie können sich auch Historiker nicht mehr herauswinden, mit dem Historisieren muss es irgendwann ein Ende haben, aber man muss Luhmann mit seiner eigenen Theorie historisieren können.
Trotzdem sind wir dann noch nicht bei „Weber 2000“ angelangt, denn zumindest das Bewusstsein, es nicht mit zeitlosen Modellen zu tun zu haben, sollte durch „(urspr. 1904)“ wach gehalten bleiben. Man sollte mit diesem Bewusstsein zeitgebundene Wertungen erkennen, das zeigt eine kleine Debatte unter Zeithistorikern zur Aussagekraft soziologischer Interpretamente wie der „Wertewandelsgesellschaft“. Die Skeptiker (z.B. Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel) wollen solche Theoreme (und die Datensätze, auf denen sie bauen) dekonstruieren, indem sie sie als ausschließlich zeitgebunden begreifen; und sie enden ihre Kritik mit dem Crescendo, dass die zeithistorische Forschung über ihre Nachbarfächer hinausgehe, weil sie sich nicht nur mehrerer Theorien bedienen könne (Soziologen nicht?), sondern zudem in der Lage sei, die großen Theoriearchitekturen empirisch zu zerstören — was wiederum attraktiv auf Studierende wirken könne, die sich vielleicht fragten, warum sie nicht Zeitgeschichte statt der Sozialwissenschaften studierten. Grundsätzlich seien sozialwissenschaftliche Modelle zu artifiziell oder zu unterkomplex. Dazwischen scheint es nicht viel zu geben.
Die Kritik kam, gemessen an der Publikationsgeschwindigkeit gedruckter Medien, postwendend. Da werde wohl die Fähigkeit der Soziologen zur Selbstreflexion ignoriert, und außerdem: Wenn soziologische Texte bloß jeweils zeitgenössische Narrative sind, was sind dann geschichtswissenschaftliche Texte, seien es die empirischen, seien es die zerstörenden? Welche Validität könnten die denn dann noch beanspruchen? (Dieses Argument zielt allerdings nebenbei gegen den radikalen Konstruktivismus, weil man dann ja nicht mehr objektiv zwischen Quellen und wissenschaftlicher Sekundärliteratur unterscheiden könne — eine andere Diskussion, die Historiker umtreibt.) Zwei weitere Historiker bezeichnen die Kritik der Skeptiker mit Rückblick auf die eigene Fachgeschichte als den „alte[n] Traum eines streng disziplinären, damit aber auch geschlossenen Forschungszusammenhangs, in dem die so konstruierte jüngere Vergangenheit allein legitimer Gegenstand der Zeitgeschichte wäre und die wilden und methodisch leichtfertigen bzw. oberflächlichen anleihen bei den Sozialwissenschaften endlich wieder verschwinden würden.“ (Pleinen/Raphael, 2014: 175).
Dabei ist ein Punkt der Skeptiker treffend: Einige Historiker neigen durchaus zur Bequemlichkeit, verwenden ein Schrumpfkonzept von „Strukturwandel“ oder „Postmoderne“ und meinen dann, grundlegende historische Umbrüche theoriebasiert erklärt zu haben. Auch der grundlegende Ansatz der Skeptiker ist nicht verkehrt: Die Geschichtswissenschaft müsse zeigen, inwieweit die Sozialwissenschaften als spezifische Formen der Weltaneignung und -deutung historisch entstanden sind, und das ihre Aussagen — weder ihre empirischen, konzeptionellen noch theoretischen — nicht zeitlos gültig sind. Die Wertewandelsforschung war nämlich in der Tat nicht einfach eine wissenschaftliche Beschreibung gesellschaftlicher Umbrüche, sondern zugleich ein höchst erfolgreicher politischer Einsatz in der Aushandlung genau dieser Umbrüche. Das hindert aber eine Gruppe Mainzer Historiker nicht daran, an diese Theoreme anzuschließen und sie mit genuin historischen Methoden und Quellen zu differenzieren und zu stabilisieren. Und genau so kann man sich der oben beschriebenen Aporie entziehen und zugleich Historiker und Soziologen ins Gespräch bringen, indem Theorien und Material mit den Methoden der Historiker und Soziologen wechselseitig abgeglichen werden. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte werden zwar historisiert, zugleich aber in einer (theoriegeleiteten) empirischen Konkretisierung erhalten.
Literaturhinweise:
Graf, Rüdiger/Priemel, Kim Christian: Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 479-508
Dietz, Bernhard/Neumaier, Christoph: Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 293-304
Pleinen, Jenny/Raphael, Lutz: Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 173-195