Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin dafür, aber nicht als Standard, sondern als Option.
Aber erst mal einen Schritt zurück: worum geht es in der Debatte und wo liegt das Problem? Die digitale Archivierung von sozialwissenschaftlichen Forschungsdaten ist mittlerweile alltägliche Praxis – in der quantitativen Forschung sowieso, und auch in der qualitativen Forschung gibt es kaum noch Sozialwissenschaftler/innen, die nicht am Computer arbeiten und zumindest einen Teil ihrer Daten digital speichern und auf die eine oder andere Weise „archivieren“. Der Punkt, um den gestritten wird, ist die Frage, ob alle Forschungsdaten, inklusive die verschiedenen Varianten empirischen Materials in der qualitativen Forschung, formal und standard-mäßig digital archiviert und für Dritte zugänglich aufbewahrt werden sollten.
Das Thema wird schon seit einigen Jahren kontrovers diskutiert und im letzten Jahr hat sich die Debatte im deutschsprachigen Raum verdichtet – es gab eine entsprechende Resolution von DGS-Sektionen, sowie mehrere Beiträge und Veranstaltungen. Nun hat der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) eine Stellungnahme veröffentlicht, in der er empfiehlt „auch im Bereich der qualitativen Sozialforschung grundsätzlich eine Kultur der Datenbereitstellung zu fördern.“ (S.1)
Dass der Rat zu diesem Thema eine Stellungnahme veröffentlicht, ist grundsätzlich zu begrüßen. Außerdem fällt positiv auf, dass fachkundige, qualitative Expertise in die Stellungnahme eingeflossen ist: Kritische Einwände werden adressiert und es ist ein klares Bemühen ersichtlich, die Besonderheiten der qualitativen Forschung angemessen zu berücksichtigen und ein differenziertes Vorgehen zu propagieren. Das ist gut. Wo liegt also das Problem?
Zum einen zeigt das kleine Wörtchen „auch“ im o.g. Zitat aus der Stellungnahme schon an, dass es einen problematischen Subtext gibt – soll hier mal wieder ein Standard aus der quantitativen Forschung auf die qualitative Forschung übertragen werden? Das stösst bei qualitativen Forscher/innen auf Widerstand – und zu Recht. Denn das Feld der qualitativen Forschung ist zwar einerseits so divers und vielfältig, dass manche sogar den Oberbegriff „qualitativ“ ablehnen, aber in diesem Punkt besteht weitgehende Einigkeit: die Gütekriterien und Standards aus der quantitativen Forschung sind nicht auf die qualitative Forschung übertragbar. Die multiparadigmatische Soziologie und die methodologische Vielfalt in der empirischen Forschung wurden hart erkämpft, und die methodologischen Begründungen des qualitativen Forschens sind wohl kaum wo so detailliert ausgearbeitet und theoretisch fundiert wie in der deutschsprachigen Soziologie (mit all den negativen Aspekten der Schulenbildung, die dies auch nach sich zieht).
Vor diesem Hintergrund besteht nun zum anderen die Befürchtung, dass über die Forschungsförderung quasi ‚durch die Hintertür‘ doch wieder eine Ausweitung von quantitativen Standards droht. Denn die Stellungnahme besagt auch: „Bei Drittmittelprojekten soll die Vorlage eines Datenmanagementplans bei der Beantragung obligatorisch gemacht werden.“ (S.1) Zwar wird darauf hingewiesen: „Die Entscheidung über die Eignung von Daten für eine Sekundärnutzung darf keinen Einfluss auf die Genehmigung beantragter Projekte haben” (S.1), aber de facto sollen die Gutachter/innen beurteilen, „ob die zu sammelnden qualitativen Daten potenziell für eine Sekundärnutzung geeignet und nützlich wären und ob die Antragstellenden gegebenenfalls angemessene Maßnahmen der Archivierung und Bereitstellung (im Rahmen des Datenschutzes) vorsehen.“ (S.4)
Ich hatte es eingangs gesagt: ich bin grundsätzlich für eine Kultur der digitalen Archivierung und Bereitstellung von Forschungsdaten. Wir leben und forschen im digitalen Zeitalter und es sind durchaus einige Studienkontexte denkbar, bei denen es machbar, sinnvoll und nützlich ist, qualitative Daten so aufzubereiten, dass sie einsehbar und für Sekundärnutzungen verfügbar sind. Neulich sprach ich beispielsweise mit einem Kollegen über Interviews mit erfahrenen Sozialwissenschaftler/innen, die dieser Kollege durchführt und einem Archiv zukommen lassen wird – solche Interviews mit Expert/innen über deren professionelles Wirken, die Entwicklung des Faches, etc. sind ein gutes Beispiel für Daten, die auch ich gerne mal sehen, hören, lesen, und ggf. für meine Forschung und Lehre nutzen würde.
Andere Beispiele zeigen dagegen, dass es nicht immer so sinnvoll und vor allem nicht so einfach ist. Viele der Interviews und teilnehmenden Beobachtungen, die ich beispielsweise in meiner Forschung mit marginalisierten Gruppen durchgeführt habe, beinhalten so viele sensible Informationen, dass ich es nicht verantworten könnte, diese Daten ‚frei‘ zur Verfügung zu stellen.
Hier nochmal einige zentrale Punkte der Debatte, die verdeutlichen, wieso eine generalisierte Archivierung und Bereitstellung von qualitativen Daten problematisch wäre:
- Sozialwissenschaftliche Forschungsdaten liegen in sehr unterschiedlichen Formen und Formaten vor; manche qualitativen Daten eignen sich nicht oder nur bedingt zur digitalen Archivierung. Ein Beispiel sind ethnographische Feldnotizen und Materialsammlungen, die höchst umfangreich sein können, teilweise handschriftlich verfasst sind, auch Gegenstände beinhalten können und angesichts der detaillierten Beschreibungen im Grunde nicht anonymisierbar sind (und zudem auch viel über die Person der Forschenden preisgeben);
- Auch andere Daten, wie Videographien oder qualitative Interviewdaten sind nur begrenzt bzw. mit sehr hohem Aufwand (und großen Verlusten an Datenqualität und heuristischem Wert) anonymisierbar. Wenn beispielsweise Lebensgeschichten erzählt werden, reicht es nicht, die Namen von Personen, Einrichtungen und Orten zu löschen oder zu pseudonymisieren – die Wortwahl, die Kontextdichte, die Details der Erzählungen können Rückschlüsse auf Personen möglich machen – zumindest für Dritte, die die Person kennen; wenn nicht ganze Datensätze, sondern nur ausgewählte und sorgfältig bearbeitete Auszüge daraus veröffentlicht werden (wie dies bei Zitaten in Veröffentlichungen qualitativer Studien der Fall ist), ist das Anonymisierungs-Problem zwar nicht grundsätzlich gelöst (denn qualitative Daten zeichnen sich ja genau durch ihre Spezifizität und Kontextgebundenheit aus), aber es ist handhabbar;
- Wenn also die Anonymisierung von qualitativen Daten ein zentrales Problem darstellt, könnte ein Vorschlag lauten, nicht-anonymisierte Daten zur Verfügung zu stellen; dies ist jedoch – außer vielleicht bei Expert/innen-Interviews mit deren Einwilligung – foschungsethisch und datenschutzrechtlich höchst problematisch;
- Weiterhin ist qualitative Forschung von der Tendenz her prinzipiell auf die Erhebung von Primärdaten ausgerichtet und es ist fragwürdig, inwiefern sich qualitative Daten generell für Sekundäranalysen nutzen lassen – Stefan Hirschauer (2014) vertritt hier z.B. eine kritische Position;
- Weitere offene Fragen bestehen im Hinblick auf die informierte Einwilligung der Teilnehmer/innen – und den Auswirkungen, die es auf qualitative Forschung hätte, wenn die Teilnehmenden grundsätzlich nicht nur für den einen spezifischen Studienkontext, sondern für weitere, in der Zukunft liegende Untersuchungen ihr generelles Einverständnis (und dann auch noch schriftlich) geben müssten. So manch ein/e Teilnehmer/in würde da nicht mitmachen – und viele hochwertige Studien würden durch solch eine administrative Auflage verhindert werden.
Alles in allem erscheint es mir daher verfehlt, oder zumindest verfrüht, eine formalisierte digitale Datenarchivierung und Bereitstellung auch für qualitative Forschung zum Standard zu erheben. Besser wäre, erst mal festzustellen, für welche qualitativen Daten es in welchem Kontext machbar, vertretbar und sinnvoll ist – und für welche nicht. Bevor Forschungsförder-Einrichtungen also erwägen, einen neuen Standard einzuführen, sollte sie ausreichend Forschung fördern, um diese Frage datengestützt zu beantworten.
Es liegen bereits einige Erfahrungen vor, z.B. bei Einrichtungen wie beim Bremer Qualiservice oder beim UK Data Service. Aber hier handelt es sich um begrenzte Erfahrungen mit eingeschränkten Formaten: meist Interviewstudien und Transkripte von Leitfaden-Interviews (siehe beispielsweise die DFG-geförderte Machbarkeitsstudie zu Qualiservice). Und auch in der schon seit den 1990er Jahren bestehenden o.g. Datenbank in UK fällt auf, wie wenige qualitative Daten dort de facto zur Verfügung gestellt werden – es scheint sich überwiegend um Oral history-Studien und Interviews mit älteren Menschen zu handeln. Dieser Kenntnisstand ist nicht ausreichend, um die digitale Archivierung zu diesem Zeitpunkt als generellen Standard für qualitative Studien einzuführen – ein Standard, von dem dann nur begründet abgewichen werden darf. Angemessener wäre es, sie als Option einzuführen, die begründet umgesetzt werden kann. Die Möglichkeiten zur freiwilligen, sorgfältig durchdachten, angemessen vorbereiteten und sachkundig begleiteten Archivierung sollten allerdings ohne Zweifel unbedingt weiter erforscht, ausgebaut und gefördert werden.
Tipps zum Weiterlesen:
- Hirschauer, S. (2014): Sinn im Archiv?
- Huschka, D.; Knoblauch, H.; Oellers, C.; Solga , H. (Hg.) (2013): Forschungsinfrastrukturen für die qualitative Sozialforschung
- Jagodzisnki, W.; Schuman, K.; Witzel, A. (2005): Archivierung und Sekundärnutzung qualitativer Interviewdaten – eine Machbarkeitsstudie
- Mruck, K. (2000): FQS Schwerpunktausgabe
- Smioski, A. (2013): Archivierungsstrategien für qualitative Daten (Erfahrungen aus Österreich)
Liebe Hella,
ich begrüße Deinen Vorschlag, dass es erst einmal notwendig ist, sich eine (empirisch fundierte) Vorstellung davon machen zu können, welche Art von Daten sich für eine (anonymisierte) Archivierung und Sekundärnutzung eignet, und sich nicht allein auf Möglichkeiten der technischen und bürokratischen Durchführbarkeit zu fokussieren!
Es wäre höchst bedauerlich, wenn Forschungsprojekte künftig nicht mehr finanziert würden, weil eine Gutachterin zufällig eine unkritischere Grundhaltung zu dem Thema hat als ein Antragsteller.
Die quantitativen Methoden sind übrigens in dem Fall gar nicht zwingend auf der anderen Seite des Grabens. Zwar ist es quantitativ häufig leichter, mit anonymisierten Datensätzen zu arbeiten, aber es sind auch Studien mit relativ kleiner Fallzahl vorstellbar (z.B. alle aktuellen Bundestagsabgeordneten als Grundgesamtheit), die durch die Angabe von einigen persönlichen Merkmalen auf konkrete Personen zurückschließen lassen könnten. Das Problem besteht also, ganz grundsätzlich gesehen, methodenstrangunabhängig.
Schöne Grüße
Nicole
Liebe Hella,
eine Idee – vor allem in Anschluss an Deinen Punkt 5: Die (informiert-konsensuelle) Archivierung von qualitativen Daten stellt einen wesentlichen Eingriff in die interaktive Situation der gemeinsamen Datenproduktion dar. Am Beispiel von Interviews (und ich gehe mal davon aus, dass es grundsätzlich nicht sicher möglich ist, derartige Daten so zu anonymisieren, dass sie nicht doch – mit einschlägiger Methodik und Expertise im Enttarnen – wieder zuordbar werden): Hier ist nicht nur „Verweigerung“ eine mögliche Folge. Vielmehr: Die Gesprächspartnerin adressiert ihre Mitteilungen nicht nur an die Forscherin/Interviewerin, sondern auch an ein gänzlich unüberblickbares Publikum mit völlig unüberblickbaren (wohlwollenden oder auch nicht-wohlwollenden) Haltungen und Interessen. Ist jemand von der Finanzbehörte, vom eigenen Fanclub, vom Arbeitgeber, von der Krankenkasse, vom Verfassungsschutz darunter? Welche Person-Charakteristika werden in der Zukunft „sensibel“ werden und mich „verletzbar“ machen?? (Prognosen sind ja bekanntlich schwierig – vor allem, wenn es um die Zukunft geht!) Und wenn es sich um „erfahrene Sozial/ WissenschaftlerInnen“ handelt: Sie werden (im Prinzip und leicht übertrieben gesagt) an die große Öffentlichkeit und ihren Ruf in der Nachwelt denken, wenn sie (Dir) etwas erzählen.
Also recht skeptische – aber herzliche Grüße
Franz (Breuer)
Mike Bader (American University, Washington) hat in einem Blogpost unter https://scatter.wordpress.com/2015/08/18/the-place-of-reproducible-research/ kürzlich sehr gut dargestellt, wie kompliziert die Frage der Weitergabe von Daten zur Reproduzierbarkeit von Forschungsergebnissen selbst in der quantitativen Forschung ist. Wenn es sich um geographisch kleinteiligere Daten oder Daten mit genügend Kontextinformationen etwa zu sozialen Netzwerken, Arbeitgebern, etc. handelt, kann auch für quantitativ arbeitende Forscher*innen mit Large-N-Sample die Datenweitergabe schnell mit erheblichem Aufwand oder gar notwendiger Datenverfremdung verbunden sein, um die zugesicherte Anonymität der „Beforschten“ zu gewährleisten.
Vielen Dank für die Kommentare, die trotz der technischen Probleme der Kommentarfunktion des blogs, ihren Weg hierher gefunden haben …
Die Hinweise, dass auch die Anonymisierung quantitativer Daten nicht unproblematisch ist, finde ich interessant. Danke dafür.
Auch der krititsche Hinweis, dass allein schon die Aussicht auf eine nicht einzuschätzende Leser/innenschaft die Interaktion und Datenerhebung in qualitativen Interviews negativ beeinflussen würde, halte ich für sehr angebracht. Ich würde hinzufügen: das gilt wahrscheinlich auch für Feldnotizen und Memos, die wir als Forschende im Forschungsprozess verfassen. Auch diese Texte würden sicher unter der beschriebenen Unsicherheit und vorausgreifenden Selbstzensur leiden.
Ich habe übrigens weitere emails bekommen – von Personen, die überwiegend kritisch-ablehnende Positionen gegen eine digitale Archivierung qualitativer Daten bezogen haben, teilweise aus datenschutzrechtlichen, teilweise aus forschungspraktischen und teilweise aus methodisch/methodologischen Gründen.
Eine Person hat allerdings auch darauf hingewiesen, dass die Einsicht in die Daten zu einer besseren Nachvollziehbarkeit und „Überprüfbarkeit“ der Ergebnisse beitragen könnte. Das ist sicher möglich, aber anders als bei quantitativen Daten, wo Ergebnisse nachgerechnet werden können, gibt es in der qualitativen Forschung grundsätzlich mehrere Deutungsmöglichkeiten und Ergebnisse sollen nicht „replizierbar“ sondern nachvollziehbar sein – dieser Anspruch besteht aber auch ohne die Einsicht in Rohdaten: die Nachvollziehbarkeit unserer Ergebnisse wird i.d.R. durch ihre empirische Verankerung im Text, d.h. durch Zitate, geleistet.
So sehr ich den kritischen Kommentaren auch zustimme, so sehr wäre es ja bereits heute wünschenswert, geeignete qualitative Daten für z.b. historisch vergleichende Analysen zur Verfügung zu haben.
Die bereits angeführten Videodaten sind ein gutes Beispiel: Sie sind in vielen Bereichen sicherlich problematisch (etwa bei biographischen Interviews – hier wäre aber ja auch über eine Sperrfrist nachzudenken), wenn man sie aber zum Beispiel einsetzen möchte, um so institutionalisierte Dinge wie etwa „den Wandel von Verkaufsinteraktionen im Einzelhandel“ oder „Familienfigurationen bei Urlaubsausflügen“ oder was weiß ich zu untersuchen, so geht es hierbei ja nicht um die jeweiligen Subjekte, sondern um die sozialen Formen. Hier wären sorgfältig archivierte Daten heute Gold wert. In der Linguistik usw. wird sowas ja teilweise gemacht, aber wir haben in der Disziplin leider nur sehr begrenzt sowohl organisatorisches, noch technisches noch methodologisches know how um an sowas überhaupt systematisch zu denken.
Wichtig wäre es daher je Datensorte spezifisch zentriert (Und „Interview“ ist eben nur eine unter vielen Datensorten, und selbst breit ausdifferenziert) Kompetenzzentren zu schaffen, die erstmal Erfahrungen zur MÖGLICHKEIT der Archivierung aufbauen, und das systematisch mit laufender Forschung verbinden.
Dann könnten die wichtigen kritischen Einwände auch systematisch einbezogen werden.
„historisch vergleichende Analysen …“ sind ein gutes Stichwort! Ein (vielleicht lösbares??) Problem ist die sich wandelnde Medialität der archivierten Daten. So gibt es etwa Transkript-Archive von Daten aus der Zeit, als die Computerisierung und digitale Speicherung noch gar nicht in der uns heute vertrauten Form absehbar war. Nun wechseln aber alle fünf (vier, drei, zwei …) Jahre die Speicher-Medien … (Tonbänder, Tonbandcassetten, (Floppy) Disks verschiedener Art, CDs …) Das will also alles transponiert und „gepflegt“ werden, wenn man das „historisch“ verwursten möchte. Oder auch: Die Medien sind gar nicht oder nur bedingt „haltbar“, die Daten verblassen, verschwinden — ganz ähnliche Probleme gibt es ja bei der Idee der Digitalisierung von Bibliotheken, auch nicht ganz „ohne Risiko“!
Ebenso wie viele Forschungsfragen aus ethischen Gründen nicht (mit allen Methoden) behandelt werden können, könnte man überlegen, ob (gerade qualitative) Forschung, welche zwangsläufig nicht archivierbare (weitergebbare) Daten und mithin nicht replizierbare Ergebnisse hervorbringt, überhaupt aus öffentlicher Hand überstützt werden sollte. Wissenschaft ohne Transparenz ist wertlos.
Lieber Leser,
vielen Dank für die Provokation. Ich denke diese verkürzte Logik ist genau das, was ich und auch Nicole Burzan in ihrem Kommentar als Problem angedeutet haben. Der Wert einer Forschung bemisst sich schließlich nicht an der Archivierbarkeit ihrer Rohdaten, sondern an dem Erkenntnisgehalt ihrer Ergebnisse. Dass das methodische Vorgehen nachvollziehbar und ethisch vertretbar sein muss – ohne Frage d’accord. Aber gerade wenn ich Forschungsethik ernst nehme, bedeutet es doch, dass ich die Persönlichkeitsrechte und den Schutz der Privatsphäre der Personen, die an Forschung teilnehmen, gewährleisten muss. Das bedeutet wiederum, dass „Transparenz“ nicht als alleiniges oder höchstes Gut propagiert werden kann.
Lieber Franz,
ja, wahrscheinlich sollten wir in der Debatte viel stärker auch noch den Austausch mit Historiker/innen, Medienwissenschaftler/innen, Bibliothekar/innen und anderen Fachleuten der (digitalen) Archivierung suchen. Weitere Expertise einfliessen zu lassen wurde ja auch in einigen der anderen Kommentare vorgeschlagen.
Journalismus und Schriftstellerei haben ebenfalls Erkenntniswert. Was die Wissenschaft von diesen Zugängen zur Wirklichkeit scheidet – oder zumindest bestenfalls scheiden sollte -, ist Rigorosität in den Anforderungen an Replizierbarkeit, Transparenz, gegenseitige Kontrolle.
Das wollte ich mit der Andeutung im ersten Satz ausdrücken: Ebenso wie viele unethische Experimente praktisch nicht durchgeführt werden können, weil die Teilnehmenden unter Umständen zu großen Schaden erleiden könnten, obwohl das Experiment an sich zu unserer Erkenntnis beitrüge, könnte man überlegen, ob Forschung, welche gewisse Standards zur Datenweitergabe nicht erfüllen kann, überhaupt sinnvoll ist, obwohl ihre Ergebnisse an sich interessant wären. Da sie nicht überprüfbar sind, ist ihr Wert aus wissenschaftlicher Sicht zweifelhaft.
https://www.google.de/?gws_rd=ssl#q=numminen+wovon+man+nicht+sprechen+kann&tbm=vid
Sehr geehrter Leser,
ich werde Ihre Kommentare nicht weiter beachten, da eine Grundvoraussetzung fehlt, um in eine ernsthafte Diskussion einzutreten: wenn nicht schon Kenntnis, dann zumindest Neugier und Respekt für den Standpunkt des Gegenübers. Sie sprechen der qualitativen Forschung die Wissenschaftlichkeit ab und scheinen nicht zu verstehen, dass es in der Soziologie und der empirischen Forschung mehrere Paradigmen und verschiedene Wege zur Erkenntnis gibt. Der „Paradigm War“ der 1990er Jahre ist vorüber – und die qualitative Forschung ist noch da, sie ist etablierter, interessanter und vielfältiger als je zuvor. Get used to it. Dann können wir gern mal ins Gespräch kommen.
Ich spreche an keiner Stelle der qualitativen Forschung per se die Wissenschaftlichkeit ab. Es geht nach wie vor um die Zugänglichmachung von Daten, welche eine Voraussetzung für Replikation und Transparenz ist.
Dass meine Anmerkungen gerade für qualitative Forscher besonders relevant sind, zeigt sich wieder einmal an dem aktuellen Fall von Alice Goffman.
http://chronicle.com/article/Alice-Goffmans-Implausible-/232491/
Was ist Forschung wert, wenn sie lediglich eine Aneinanderreihung unüberprüfbarer Anekdoten ist?
Ok, der Hinweis auf den Fall von Alice Goffman’s ethnographischer Studie ist so interessant, dass ich doch nochmal darauf reagiere. Allerdings besteht das Problem nicht in der mangelnden Archivierung der Daten.
Ich habe die Studie noch nicht gelesen, aber es gibt eine sehr gute Kritik aus juristisch-ethischer Perspektive, die sich zu lesen lohnt:
http://newramblerreview.com/book-reviews/law/ethics-on-the-run
Dieser Link führt übrigens zu einem Text, der einsehbar ist (anders als der link zum Chronicle Artikel).
Das Problem mit der Arbeit von Alice Goffman scheint zum einen eine zu wenig kritische Haltung der Forscherin zu sein, die es verpasst, bestimmte Erzählungen ihrer Teilnehmer/innen zu hinterfragen und auf ihre Plausibilität hin zu prüfen. Das hätte ihren Peers und Betreuer/innen auffallen müssen. Allerdings ist es weniger die Vorlage aller Feldnotizen, die hier Abhilfe geschaffen hätte oder nötig gewesen wäre, sondern das kritische Hinterfragen der Ergebnisse im Prozess der Analyse (die bei qualitativer Forschung die Diskussion und gemeinsame Interpretation in Gruppen einschliesst) oder spätestens bei Vorlage der Dissertation.
Zum anderen hat Alice Goffman an kriminellen Aktivitäten der von ihr untersuchten Gang teilgenommen (als Fahrerin bei einem geplanten Mord) und scheint das in keiner Weise kritisch zu hinterfragen. Das ist wirklich ein starkes Stück und nochmal eine andere Hausnummer als andere Situationen, die wir aus der Literatur kennen, wo Ethnograph/innen, die kriminalisierte Settings untersuchen, teilweise darin verwickelt wurden (z.B. Becker, Whyte, Venkatesh). Aber auch hier würde nicht die Vorlage der Feldnotizen Abhilfe schaffen, sondern eine kritische Begleitung der Forscherin im Forschungsprozess und die Auseinandersetzung mit rechtlichen Grundlagen und forschungsethischen Fragen ihrer Arbeit (wie z.B kann sie das vertreten? Welchen Schaden könnte ihr Handeln anrichten? Welchen Gefahren setzt sie sich und andere aus? Etc.)
Im Übrigen haben wir auch in Deutschland als Forschende kein Zeugnisverweigerungsrecht (wie es Ärzt/innen, Sozialarbeiter/innen und andere Professionen haben). Von daher kann man das Zerstören der Feldnotizen zum Schutz der Teilnehmenden durchaus verstehen.
Das Archivieren des Materials stellt also keine Lösung des vorliegenden Problems dar. Vielmehr sind die Probleme aus den vorgelegten Ergebnissen (detaillierte, ethnographische Beschreibungen) klar ersichtlich und legen eher eine mangelnde forschungsethische Reflexivität der Forscherin sowie eine unzulängliche Betreuung/Begleitung und unkritische Rezeption ihrer Arbeit nahe.
Ich denke schon, dass Feldnotizen zusätzliche Informationen enthalten könnten. Warum ist auszuschließen, dass Diskrepanzen zwischen diesen und den veröffentlichen Werken bestehen können?
Ferner hat AG in ihrem ursprünglichen ASR-Artikel Daten aus einem Survey verwendet, dessen Durchführung und Dokumentation anscheinend äußerst mangelhaft waren:
https://familyinequality.wordpress.com/2015/08/26/comment-on-goffmans-survey-american-sociological-review-rejection-edition/
Eine Archivierung dieser Daten wäre auch wünschenswert gewesen.
Sehr geehrte Frau Prof. von Unger,
ich freue mich, dass das Thema diskutiert wird.
Aus meiner Sicht sollte man die Themen Datenmanagementplan, Datenarchivierung und Datennachnutzung getrennt diskutieren.
Ich lege kurz meine Position zu diesen Themen dar und verweise im Wesentlichen auf zwei Papiere, die ausführlicher und aus meiner Sicht sehr kompetent dazu etwas sagen.
Thema „Datenmanagementplan“
Die Vorlage eines Datenmanagementplans obligatorisch zu machen, kann ich gut nachvollziehen. Den Datenproduktionsprozess vorher zu durchdenken, d.h. welche Art von Daten entstehen, und wie diese organisiert und gespeichert werden sollen, gehört m.E. zur Planung eines Forschungsprozesses dazu und damit auch zur Bewertung des Gelingens eines Forschungsvorhabens.
Einen Datenmanagementplan zu erstellen bedeutet allerdings nur, die organisatorische und technische Speicherung der Daten schriftlich transparent zu machen. Es heißt nicht, dass die Daten extern archiviert werden müssen. Es heißt lediglich, sich darüber Gedanken zu machen, ob eine externe Archivierung nützlich und sinnvoll ist.
Thema „Datenarchivierung“
Wenn Daten auf einem externen Repositorium archiviert werden, heißt das keineswegs, dass sie frei verfügbar sind. Es bedeutet nur, dass sie entsprechend einem von der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin vereinbarten Standard extern gespeichert werden. Der vereinbarte Standard muss ein differenziertes Zugriffsrechtemanagement enthalten.
Thema „Datennachnutzung“
Wenn nichts gegen eine Nachnutzung von Daten spricht, sollte eine Forschergruppe auch die Ressourcen erhalten, um die Daten bereitstellen zu können. Ich denke dabei nicht nur an Primärdaten, auch Forschungsergebnisse, z.B. entwickelte Kategoriensysteme, könnten zur Nachnutzung bereitgestellt werden. Auch wenn das einen Mehraufwand bedeutet, wird sich das langfristig lohnen. Ich halte die Aufforderung an die Gutachter/innen, die Nachnutzbarkeit zu prüfen, für eine Chance, diesem Thema die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Derzeit werden die technologischen Vorbereitungen für die Archivierung qualitativer Daten immer wieder unterbrochen und Zwischenergebnisse liegen auf Eis.
Anbei der Verweis auf Papiere, auf die ich mich beziehe:
Es gibt zu den Themen Datenmanagementplan, Datenarchivierung und Datennachnutzung ein technisches Papier von GESIS, das ich sehr gut finde:
http://www.gesis.org/fileadmin/upload/forschung/publikationen/gesis_reihen/gesis_methodenberichte/2012/TechnicalReport_2012-07.pdf
Informativ bzgl. der Sicherung und des Schutzes personenbezogener und sensibler Daten finde ich das Papier der der Arbeitsgruppe „Datenschutz und qualitative Sozialforschung“.
http://www.ratswd.de/dl/RatSWD_WP_238.pdf
Eine Arbeitsgruppe (http://www.ddialliance.org/alliance/working-groups#qdewg) der „Data description initiative“ (http://www.ddialliance.org/) hat ein vorläufiges Modell zur Beschreibung qualitativer Daten entworfen. (http://www.ddialliance.org/system/files/Qualitative%20Data%20Model%20Working%20Group%20Report%202013-2014.pdf)
Ich hoffe, dass mein Beitrag die Diskussion befruchtet und wünsche mir uneingeschränkt, dass die Infrastruktur zum digitalen Archivieren und Nachnutzen qualitativer Primärdaten und (Zwischen-)Ergebnissen qualitativer Forschung ausgebaut wird.
Mit besten Grüßen
Agnes Mühlmeyer-Mentzel
Kontakt: agnes.muehlmeyer-mentzel@fu-berlin.de
URL: http://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/arbeitsbereiche/qualitative_sozial-_bildungsforschung/team/amuehlmeyer-mentzel/index.html
Die Diskussion ist ganz offensichtlich nicht zuende (und kann auch hier fortgeführt werden), aber meine aktive Zeit als Bloggerin geht heute zuende.
Ich bedanke mich für die Möglichkeit, den Blog zu schreiben, für die gute Betreuung durch die DGS (insb. Frau Schnitzler und Frau Deutschbein) und für die Teilnahme – die Kommentare, Hinweise, Vorschläge und auch die emails, die ich auf meine Beiträge erhalten habe.
Herzlichen Dank.