Für eine kompromisslose Diskussion der Modi von Wissensarbeit

Ein Gastbeitrag von Tino Heim, Dresden

 

Politische und akademische Debatten um die Krise der Wissensarbeit reproduzieren seit Jahren die gleichen Argumente und versanden in Symptom-Skandalisierungen, Mitleidsbekundungen für den ‚Nachwuchs‘ und Verheißungen ‚planbarer Karrieren‘. Diskutiert wird dabei mit Begriffen, die bestenfalls ideologische Funktion haben. Die gesellschaftliche Relevanz einer sich oft als ‚kritisch‘ attribuierenden Soziologie muss sich auch daran erweisen, ob diesbezügliche Diskurse in der DGS analytisch radikaler geführt werden und die Hinterfragung akademischer Hierarchien einschließen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Basis akademischer Forschung und Lehre nicht die Minderheit der 22.422 Professor*innen ist, sondern der prekäre ‚Mittelbau‘. Neben 213.942 wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter*innen, Juniorprofessor*innen, LBA’s und Dozent*innen (Stand 2014), die als ‚luxurierendes Prekariat‘ das befristete Privileg von Tarifvertrag und Personalvertretung genießen, zählt dazu die Dunkelziffer irregulärer Tätigkeit. Schlecht entlohnte Lehrbeauftragte und Honorarkräfte ohne korporative Rechte decken weite Teile der Lehre ab. Untertarifliche Promotions- und Post-Doc-Stipendien implizieren oft Quasi-Berufsaufgaben für Forschungseinrichtungen. ‚Doktoreltern‘ legen den ‚Zöglingen‘ die Übernahme unbezahlter Lehraufträge zur ‚Qualifikation‘ nahe und viele Tätigkeiten in ‚Technik- und Verwaltung‘ liegen in Grauzonen zur Wissenschaft.

Ohne diese heterogenen Arbeitskräfte wären die Universitäten in keiner Form funktionsfähig. Über sie als ‚Nachwuchs‘ zu verhandeln entspricht einer multiplen Verkennung der Tatsachen. Spätestens nach und oft während der Promotion verrichtet der Mittelbau de facto dieselben Aufgaben wie die Professor*innen. Zur eigenständigen Antrags-, Forschungs-, Lehr- und Publikationspraxis kommt die Stellvertretung von Aufgaben, die formell den Lehrstuhlinhaber*innen zugerechnet sind. Der Anachronismus der Venia Legendi dient neben der Verteidigung feudaler Statusprivilegien nur mehr als Legitimationskonstrukt, um hochqualifiziertes Personal mit Promotion und langjähriger Forschungs- und Lehrerfahrung unter der Fiktion flexibel zu befristen, es müsse sich für über Jahre erfüllte Aufgaben erst ‚qualifizieren‘. Der unbestimmte Qualifikationsbegriff des novellierte Wissenschaftszeitvertragsgesetzes garantiert dabei keine Arbeitszeit für die Qualifikationsschrift und so gilt jede akademische Tätigkeit als ‚Qualifikation‘ – etwa Lehre, Studienberatung, Antragszuarbeit etc. Nach 12 Jahren Befristung ist das ‚Qualifikationsziel‘ de facto oft ein Berufsverbot für die Tätigkeit, der die ‚Qualifikation‘ galt, da es jenseits des Nadelöhrs Professur kaum unbefristete Stellen gibt. Der problemlosen Entsorgung ausgebrannter Arbeitskräfte korrespondiert der kontinuierliche Verlust von Erfahrungswissen.

Ob diese Knochenmühle das neoliberale Versprechen wissenschaftlicher Bestenauslese für die Professuren erfüllt, ist zweifelhaft. Mitunter folgt der Berufung der aufgeschobene gesundheitliche Kollaps. Öfter noch fördert ein System, das freie wissenschaftliche Tätigkeit durch den Zwang zur existenziell riskanten Karriere ersetzt, Opportunitätsstrategien. Wo für Evaluationen und Berufungen die reine Quantität – von bestenfalls im Peer Review nivellierten und normalisierten – Publikationen als ‚hard fact‘ gilt und ergebnisoffene Forschung mit Irrtümern und Sackgassen, unkonventionelle Fragen und geduldige Begriffsarbeit – also Wissenschaft – negativ sanktioniert werden, verdrängen ‚Schnellschüsse‘ und die Simulation von ‚Originalität‘, um in der Publikationsflut aufzufallen, die sachorientierte Arbeit. In der Drittmittelakquise wird Wissenschaft durch ihre marktorientierte Ankündigung ersetzt. Zudem fehlt trotz leerlaufender Lehrevaluationen die institutionelle Anerkennung guter Lehre. Kurz: Leidenschaft in Forschung und Lehre verhindert Karriere.

Wissenschaft in kapitalistischen Gesellschaften war stets durch prekäre Spannungsbalancen zwischen innerer Autonomie und äußeren Funktionen charakterisiert. Im aktuellen „akademischen Kapitalismus“ (Münch), in dem ‚Qualitätssicherung‘ Synonym für ein Regime der Zeitverknappung, Dauerevaluation und der kannibalistischen Verdrängungskonkurrenz ist, sind diese Balancen kollabiert. Im Februar rückte eine Stellungnahme der DGS die Lage der Wissensarbeit in den Kontext dieser wissenschaftsfeindlichen Entwicklungen und ging damit sehr viel weiter als andere Institutionen. Die Frage ist, wie weit die Reflexion der eigenen Verstrickung in das hybride Konglomerat aus neofeudalen und neoliberalen Wissenschaftsstrukturen und -kulturen geht und ob ihr Schritte zur tatsächlich Veränderung der Verhältnisse folgen.

Längere Kurzzeitverträge und Karrierechancen in den bestehenden Parametern sind einer Debatte nicht wert. Diese muss sich der Frage stellen, wie Wissenschaft als Beruf generell neu zu erfinden ist. Die Fiktion, Wissenschaft werde von genialen ‚Spitzenkräften‘ vorangetrieben, verfehlt die kooperative Realität eines kollektiven Prozesses, in dem selten Durchbrüche nur auf Basis vielfältiger Formen von Wissenstradierung, Kritik, Streit und Irrtum möglich sind. Die Vielfalt der Wissensarbeit erfordert keine ‚Karrieren‘, die dem Einheitszwang zur Originalitätssimulation folgen, sondern vielfältig Berufe. Ein komplexes fachliches und didaktisches Erfahrungswissen, das der wachsenden sozialen Heterogenität der Studierenden gerecht wird, und leidenschaftliche Forschung brauchen keine ‚Qualifikationsstellen‘, sondern stabile Arbeitsverhältnisse jenseits der Professur. Zwischen vielfältigen hochqualifizierten Tätigkeiten eigenen Rechts sind Statushierarchien und Abhängigkeiten überflüssig und schädlich, da sie in den Lehrstuhlstatistiken wie in der Antrags- und Publikationspraxis die reale Arbeitsteilung verdecken und die Statuseliten zur Selbstillusionierung verleiten.

Konkret wären Lehrstuhlstrukturen durch Departementalisierung aufzubrechen und die realitär längst selbständige Forschung und Lehre promovierender und promovierter Wissenschaftler*innen auch formell anzuerkennen. Zudem sind der Zahl und Bedeutung entsprechender Berufe angemessene Mitbestimmungsrechte erfordert. Im Zweifrontenkampf, der gegen die Zumutungen neoliberaler Wissenschaftssteuerung und gegen die dem korrespondierenden neofeudalen Zerfallsprodukte der Ordinarienuniversität zu führen ist, sind die Fachgesellschaften freilich keine Avantgarde, sondern bestenfalls Nachhut. In Vorständen und Konzilen ist noch nicht einmal jene (Schein-)Partizipation gewährleistet, die die steckengebliebene Demokratisierung in der Gruppenuniversität garantiert. Im März hat der Kongress der Gesellschaft für Erziehungswissenschaften gezeigt, dass Professor*innen auf Bedrohung ihrer Statusprivilegien oft ebenso berechenbar reagieren, wie andere ‚Eliten‘, indem Vorstöße von ‚Qualifikand_innen‘ mehrheitlich abgewehrt bzw. in einem Ausschuss zur Erarbeitung eines Leitbilds ‚Gute Arbeit‘ stillgestellt wurden.

Die DGS ist jedoch für unkonventionelles Verhalten wie den Ausstieg aus dem CHE Ranking bekannt, die Mitgliedschaftshürden sind weniger feudal und die Unterstützung für Basisinitiativen ist beachtlich. Hoffnungen auf statusübergreifende Allianzen im gemeinsamen Interesse an der Verteidigung und Neugestaltung guter Wissenschaft sind also nicht unbegründet. Eine radikale Analyse der Problemlagen ohne Rücksichten auf Hierarchien wäre dazu ein erster Schritt, den auch am Status Quo interessierte Professor*innen fördern sollten: Lange vor Boltanski und Chiapello galt rückhaltlose öffentliche Kritik schließlich seit Kant als beste Prävention gegen die Revolution und als Medium notwendiger Transformationen, weshalb Hegel Kritik gar unter den Auspizien einer preußischen Staatsbehörde institutionalisieren wollte. Der Soziologie als Disziplin hat eine analytisch-kritische Haltung jenseits normativer Attitüden nie geschadet, und wenn dies zur echten Reform der Bedingungen der Wissensarbeit beitragen sollte – umso besser.

 

Vorschläge für Hashtags zum Weiterdiskutieren auf Twitter und Facebook: #SozBlog #GuteArbeit #GAidW #PrekäreWissenschaft

 

Tino Heim (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologische Theorien und Kultursoziologie an der TU Dresden.

Arbeitsschwerpunkte: Historische Formen und Wandlungsdynamiken kapitalistischer Vergesellschaftung, Soziale Ungleichheitsforschung, Geschlechterverhältnisse, Konflikt- und Bewegungsforschung, Kunst- und Kulturproduktion in Kapitalismus und Staatssozialismus, kritische Diskursanalyse, soziologische Theorien und Theoriegeschichte mit Fokus auf kritischen Gesellschaftstheorien, Wissenschaftstheorie, Neomarxismus und Poststrukturalismus.

Hochschulpolitisch ist er in einer ambivalenten Doppelrolle als Teil der Mittelbauinitiative an der TU Dresden und als Mitglied des Senats der TU Dresden aktiv.

Autor: Initiative "Für Gute Arbeit in der Wissenschaft"

Im Sommer 2014 haben sich Soziologinnen und Soziologen zusammengefunden, um sich für “Gute Arbeit in der Wissenschaft” zu engagieren. Es entstand ein Offener Brief an die DGS, in dem die Fachgesellschaft aufgefordert wurde, sich mit den Beschäftigungsbedingungen im eigenen Fach auseinander- und für gewisse Mindeststandards guter Arbeit einzusetzen sowie diese in ihren Ethikkodex aufzunehmen. Ein weiteres zentrales Anliegen der Initiative ist es, die Mitbestimmung des Mittelbaus in den Gremien der DGS zu stärken. Die Anliegen der Initiative werden derzeit in der DGS verhandelt, im Rahmen des nächsten DGS-Kongresses organisiert die Initiative die erste Mittelbauversammlung der DGS. Website der Initiative

8 Gedanken zu „Für eine kompromisslose Diskussion der Modi von Wissensarbeit“

    1. Den Nagel auf den Kopf treffen konnte dieser eher polemisch gehaltene Beitrag natürlich auch nur, weil die Detailanalysen in den anderen Beiträgen auf dem Blog dafür die analytische Hintergrunderfüllung boten.
      Beste Grüße
      Tino Heim

  1. Vielen Dank! Besonders für die Aussage, dass wissenschaftliche Arbeit vielfältige Formen annimmt, denen man mit den Instrumenten klassischer Evaluation durch peer review nicht gerecht werden kann. Es ist schade, das gerade in den Sozialwissenschaften, die ja Übung im kreativ-kritischen Denken sein sollte, diese Perspektive so gar nicht verfängt.

    1. Ich denke die Vielfalt wissenschaftlicher Tätigkeitsformen und die fehlende Anerkennung dafür ist ein wirklicher Knackpunkt für die anstehenden Debatten. Wichtig wäre es dabei m.E. bei aller berechtigten Kritik an den normalisierenden und nivellierenden Wirkungen (etwa von Peer-Review Verfahren) nicht in einen falschen Genie- und Außenseiter*innenkult zu verfallen. Es ist wichtig, dass Wissenschaft Freiräume für kreativ-kritisches und unkonventionelles Denken bieten sollte. Ebenso wichtig ist es aber sich daran zu erinnern, dass wie schon Weber in „Wissenschaft als Beruf“ betonte, dieser Beruf mindestens ein „Doppelgesicht“ hat. Die Rollen als Gelehrter und Lehrer fallen dabei kaum zusammen, da manche hervorragende Gelehrter eben entsetzlich schlechter Lehrer sind und umgekehrt, manche Wissenschaftler*innen die nie einen eigenen originellen Gedanken hatten, gleichwohl (oder gerade deshalb) hervorragendes in der Vermittlung von wissenschaftlichem Handwerkszeug leisten könnte. Vielfältige Berufsbilder eigenen Rechts, meinen eben nicht nur Raum für kreativ-kritische Geister, sondern auch für staubtrockene Handwerker*innen und Fachdidaktiker*innen.

      Beste Grüße
      Tino Heim

    1. Die abweichende Zählung kommt u.a. dadurch zustande, dass ich bei der Zahl der Universitätsprofessor*innen – wie übrigens auch Stefan Lessenich, der in der Stellungnahme des Vorstands vom Februar ebenfalls von ‚nur‘ 22.422 Professuren ausging – lediglich klassische unbefristete Professuren als solche angeführt habe, nicht also Juniorprofessuren, befristete C2 bzw. W2 Besoldete oder APL und Honorarprofessuren. Es wäre ein eigener Diskussionspunkt, ob es sinnvoll ist, Juniorprofessor*innen oder andere Gruppen, die trotz des ehrenvollen Titels zumindest die Prekarität und einige sonstige Merkmale mit dem ‚Mittelbau‘ teilen, dem ‚Mittelbau‘ zuzuschlagen, wie wir das bei der Mittelbauinitiative in Dresden tun. Ebenso zu diskutieren wäre, ob und warum es sinnvoll wäre, zu einem weiten Begriff des Mittelbaus auch WHKS, Honorarkräfte, Lehrbeauftragte etc. zu rechnen. Da es in dem Text um eine Pointierte Zuspitzung ging und ich um strikte Begrenzung der Zeichenzahl gebeten wurde, habe ich auf eine entsprechende Diskussion verzichtet.
      Beste Grüße
      Tino Heim

      1. Wissenschaftliche Hilfskräfte mit Abschluss gehören als wissenschaftliche Angestellte i.d.R. zum Mittelbau.

  2. Sehr geehrter Herr Heim,

    ich möchte zwei freundlich-kritisch Anmerkungen zu den bisherigen Beiträgen dieser Serie machen – zufällig unter Ihrem Beitrag, weil ich eben erst die Beiträge der letzten Wochen gelesen habe. Ich stimme Ihnen natürlich in allen Bereichen zu – gerade die vielfach genannte These, das wir es mit einem hybriden feudal-neoliberalen System zu tun haben, trifft für mich den Nagel auf den Kopf.
    Trotzdem zwei Anmerkungen:
    – Beim Überfliegen der Artikel fällt mir eine schockierende Abwesenheit ausländischer Nachwuchswissenschaftler auf. Die Frauenquote ist schlecht – aber die Quote der Professoren nicht-europäischer Abstammung liegt zumindest an meiner Uni bei null! Das, obwohl zumindest aus Südamerika und China scharen an Doktoranden nach Deutschland kommen. Durch die thematische Ausrichtung unserer Soziologiefakultät kann das nicht gerechtfertigt sein: Wir reden über Globalisierung, Weltgesellschaft, Verflochtene Modernen, Gloablen Süden usw.
    Ich glaube, Nachwuchswissenschaftler aus dem Ausland haben noch weniger Netzwerke, es fällt ihnen noch schwerer, einen etablierten Professoren als „Schirmherren“ zu finden, sie können auch nicht so schnell auf deutsch Schreiben wie wir. Und gleichzeitig hätten wir vor allem „nichtwestliche“ Stimmen in der Soziologie inhaltlich bitter nötig.
    Ich fände das ganz toll wenn Sie auch dieses Problem thematisieren könnten – es ist ja ein Teilaspekt und eine weitere problematische Konsequenz der Strukturen, die Sie kritisieren.
    – Zweitens, und nur ganz kurz auf der wissenschaftlichen Ebene: In den Beiträgen wurden bisher intensiv Boltanski und Chiapello zitiert. Aber passt die Hybriditäts-Diagnose überhaupt zu dieser Theorie? Ich könnte mir vorstellen, dass Aihwa Ongs „Neoliberalism as Exception“ und „Neoliberalism as Mobile Technologies“ vielleicht auch sehr interessant für sie sein könnten. Denn da geht es genau darum, wie neoliberale Herrschaftstechnologien in insgesamt nicht liberale Kontexte eingeführt werden – etwa in ein „feudales“ Lehrstuhlsystem. Vielleicht wäre es also interessant, auch diese Literatur zu diskutieren?

    MfG

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